Ausgabe 6 (2006), Nr. 9
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Islamische Welten

Einführung

Von Stephan Conermann

Die Islamwissenschaft in Deutschland versteht sich in zunehmendem Maße als eine historisch-kritisch ausgerichtete "Kulturwissenschaft". Damit folgt sie dem Trend der 1990 veröffentlichten Denkschrift Geisteswissenschaft heute. Die Autoren dieser programmatischen Abhandlung kamen damals zu zwei Ergebnissen: 1. Geisteswissenschaften hätten nur eine Überlebenschance, wenn sie sich künftig als "Kulturwissenschaften" definieren; 2. Die wissenschaftlichen Leitfragen für diese neuen Kulturwissenschaften liefere hauptsächlich die Historische Anthropologie.

Die Geisteswissenschaften seien, so die Verfasser weiter, der Ort, an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen. Dies allerdings nicht im Sinne eines Wissens nach Art der positiven Wissenschaften, sondern im Sinne eines Wissens, das vornehmlich Orientierungsaufgaben übernimmt. Es sprächen gute Gründe dafür, bei der fälligen Neuorientierung der Geisteswissenschaften von ihrer modernen Bestimmung als "Kulturwissenschaften" auszugehen: "Kultur" meine hierbei nicht länger nur das Teilgebiet einer Lebenssphäre (neben Politik, Recht, Ökonomie und Religion), sondern müsse auf das kulturelle Ganze, auf "Kultur" als Inbegriff der menschlichen Arbeit und Lebensformen, naturwissenschaftliche und andere Entwicklungen eingeschlossen, erweitert werden.

Allerdings, so die ernstzunehmende Kritik der letzten Jahre, dürfe bei der "kulturwissenschaftlichen" Neuorientierung der Geisteswissenschaften weder eine Einheit und einen Zusammenhang unterstellt werden, die viel genauer als Prozess gesellschaftlicher und kultureller Differenzierungen zu analysieren sind, noch durch das Inanspruchnahme eines Deutungsmonopols bei der Erklärung von "Kultur" ein instrumentelles Verständnis von Geisteswissenschaften suggeriert werden.[1]

Fächer wie die Islamwissenschaft gehen bei diesem Wandel nicht verloren, sondern bleiben im Dialog der Disziplinen unersetzbar, wenn es darum gehe, einen Gegenstand aus seinem Begriff, aus seiner Geschichte, aus seinem Zeichencharakter oder aus einer Form, nämlich philosophisch, historisch, sprachlich oder ästhetisch zu verstehen. Die Chance ihrer "kulturwissenschaftlichen" Erneuerung liegt darin, die bloße Information in Mitteilung zu übersetzen, das Verstehen des Eigenen am Fremden wie des Fremden am Eigenen zu kontrollieren und immer neu zu erweisen, auf dass Grenzen nicht notwendig trennen müssen, sondern stets auch Horizonte vermitteln und damit das Einvernehmen der Wissenden und der Handelnden befördern können.

Das Fundament dieser "Kulturwissenschaften" soll vornehmlich die Historische Anthropologie sein, da diese darauf gerichtet ist, die Befunde einer ahistorisch begründeten, für die Kulturwissenschaften immens wichtigen Disziplin wie der deskriptiven Ethnologie zu vergeschichtlichen, wie umgekehrt die anthropologische Dimension von Sprache, Historie und Ästhetik den anderen Wissenschaften zu erschließen. Das Interesse solcher Forschung führt über das traditionelle und auch institutionell noch eurozentrische Wissenssystem hinaus, benötigt eine Hermeneutik interkultureller Kommunikation (Stichwort: "Hermeneutik der Fremdheit") und erfordert, regionalistische Schwerpunktforschung - wie die Japanologie, Sinologie, Südostasienforschung oder eben auch die Islamwissenschaft - aus ihrer Isolation zurückzuholen, um ihre Befunde für eine allgemeine Theorie fruchtbar zu machen.

Islamwissenschaft und Geschichtswissenschaft liegen in diesem geisteswissenschaftlichen Koordinatensystem eng beieinander. Beide Disziplinen sollten miteinander ins Gespräch kommen und vermittels eines konstruktiven Meinungsaustausches voneinander lernen. Daher ist es sehr wichtig und uneingeschränkt zu begrüßen, dass mit diesem FORUM zu den "Islamischen Welten" die Islamwissenschaft in dem historisch ausgerichteten Rezensionsjournal sehepunkte einen prominenten Platz findet. Dabei ist dies nur der Anfang, denn auch in Zukunft soll regelmäßig über aktuelle Forschungen und Entwicklungen der Islamwissenschaft berichtet werden.

Die hier präsentierten Besprechungen der islamwissenschaftlichen Werke spiegeln ganz bewusst die gesamte Breite des Faches wider. Eine weitere Unterteilung erschien uns (noch) nicht sinnvoll, da die Zahl der Fachleute und damit auch der möglichen Rezensenten und Buchproduzenten natürlich viel kleiner ist als die der Historiker. Aber auch inhaltliche Aspekte sprachen für die thematische, zeitliche und räumliche Offenheit der "Islamischen Welten". So kann nämlich zum einen die große Breite des islamwissenschaftlichen Themenspektrums gezeigt werden. Und zum anderen wird der enge Bezug dieser Disziplin zu geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen, Problemen, Hinsichten und Herangehensweisen erkennbar.

Anmerkung:

[1] Vgl. Wissenschaftsrat (Hg.): Empfehlungen zur Entwicklung und Förderung der Geisteswissenschaften in Deutschland, Köln: Wissenschaftsrat 2005, S. 12-13.


Christopher De Bellaigue: Im Rosengarten der Märtyrer. Ein Portrait des Iran, München: C.H.Beck 2006
Rezensiert von: Katajun Amirpur

Werner Ende / Udo Steinbach (Hg.): Der Islam in der Gegenwart, München: C.H.Beck 2005
Rezensiert von: Wassilios Klein

Heike Franke: Akbar und Gahangir. Untersuchungen zur politischen und religiösen Legitimation in Text und Bild, Schenefeld: EB-Verlag 2005
Rezensiert von: Jan-Peter Hartung

Heike Franke: Akbar und Gahangir. Untersuchungen zur politischen und religiösen Legitimation in Text und Bild, Schenefeld: EB-Verlag 2005
Rezensiert von: Nader Purnaqcheband

Dagmar Glass: Der Muqtataf und seine Öffentlichkeit. Aufklärung, Räsonnement und Meinungsstreit in der frühen arabischen Zeitschriftenkommunikation, Würzburg: Ergon 2004
Rezensiert von: Stephan Conermann

Reza Hajatpour: Der brennende Geschmack der Freiheit. Mein Leben als junger Mullah im Iran, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2005
Rezensiert von: Katajun Amirpur

Heinz Halm: Die Schiiten, München: C.H.Beck 2005
Rezensiert von: Raphaela Veit

Johann Heiss (Hg.): Veränderung und Stabilität. Normen und Werte in islamischen Gesellschaften, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2005
Rezensiert von: Wassilios Klein

Gerhard Höpp / Peter Wien / René Wildangel (Hg.): Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2004
Rezensiert von: Roman Siebertz

Joseph E. B. Lumbard (Hg.): Islam, Fundamentalism, and the Betrayal of Tradition. Essays by Western Muslim Scholars, Bloomington, Indiana: World Wisdom 2004
Rezensiert von: Stefanie Brinkmann

Azar Nafisi: Lolita lesen in Teheran, München: DVA 2005
Rezensiert von: Katajun Amirpur

Inger Marie Okkenhaug / Ingvild Flaskerud (ed.): Gender, Religion and Change in the Middle East. Two Hundred Years of History, Oxford: Berg Publishers 2005
Rezensiert von: Thomas Eich

Stefan Reichmuth / Mark Bodenstein / Michael Kiefer et al. (Hg.): Staatlicher Islamunterricht in Deutschland. Die Modelle in NRW und Niedersachsen im Vergleich, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006
Rezensiert von: Albrecht Fuess

Markus Wachowski: Sada in San’a. Zur Fremd- und Eigenwahrnehmung der Prophetennachkommen in der Republik Jemen, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2004
Rezensiert von: Esther Peskes

Peter Wien: Iraqui Arab Nationalism. Authoritarian, Totalitarian, and Pro-Fascist Inclinations, 1932-1941, London / New York: Routledge 2006
Rezensiert von: Stephan Conermann

Michael Winter / Amalia Levanoni (ed.): The Mamluks in Egyptian and Syrian Politics and Society, Leiden / Boston / Tokyo: Brill Academic Publishers 2004
Rezensiert von: Henning Sievert

Fruma Zachs: The Making of a Syrian Identity. Intellectuals and Merchants in Nineteenth Century Beirut, Leiden / Boston / Tokyo: Brill Academic Publishers 2005
Rezensiert von: Thomas Eich



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