Gabriela Ann Eakin-Thimme: Geschichte im Exil. Deutschsprachige Historiker nach 1933 (= Forum Deutsche Geschichte; 8), München: Martin Meidenbauer 2005, 352 S., ISBN 978-3-89975-502-2, EUR 49,90
Rezensiert von:
Martin Kirsch
Universität Koblenz-Landau
Von der verstärkten Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu ihrer eigenen Geschichte während des Nationalsozialismus, wie sie seit den 1990er Jahren zu erkennen ist, hat die Exilforschung nur bedingt profitiert, denn von einem "Boom" in diesem Bereich kann trotz wichtiger Studien von J. Feichtinger, M. Kessler, P. Walther und im jüngster Zeit auch von G.A. Ritter nicht die Rede sein. [1] Dementsprechend sind auch diese beiden Seiten der Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Geschichtswissenschaft bislang nicht in neuere Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Geschichtswissenschaft eingeflossen. [2]
Gabriela Eakin-Thimme nimmt mit Ihrer Dissertation 98 emigrierte deutschsprachige Geschichtswissenschaftler (darunter zehn Frauen) in den Blick (15, Fn. 19), welche vornehmlich in die USA emigrierten. Sie knüpft damit an die Studien von Peter Th. Walther und Heinz Wolf aus den Jahren 1988/89 an. [3] Die Arbeit gliedert sich in acht Kapitel: Nach einer Einleitung zu Fragestellung und Forschungsstand trägt das erste Kapitel Kurzbiographien der untersuchten Personen lexikalischen Charakter, indem die akademischen Lebenswege bis zur Emigration aufgeführt werden. Das zweite Kapitel nimmt die Emigration im engeren Sinne in den Blick und zeigt die häufig verschlungenen Wege beispielhaft an einigen Personen auf, die über Frankreich, Großbritannien oder auch Kolumbien schließlich in die USA gelangten - die nach Palästina ausgewanderten Historiker bleiben aufgrund der bereits vorliegenden Studie von Jütte [4] weitgehend unberücksichtigt. Im nachfolgenden Abschnitt "Marktsituation" werden die Bedingungen der beruflichen Etablierung im Aufnahmeland und die Schwierigkeiten für eine Remigration nach 1945 beschrieben. In diesen Zusammenhang gehört auch das vierte Kapitel, welches die Entstehung von Netzwerken mit Hilfe von Zeitschriften und Kongressteilnahmen analysiert. Nach der Darstellung der Rahmenbedingungen der Emigration folgt mit den Kapiteln "Frakturen" und "Revisionen" eine inhaltliche Analyse des geistigen Werdegangs der Historiker, der am Beispiel des Renaissanceforschers Hans Baron vertieft wird. Das letzte Kapitel stellt vermutlich das Fazit der Arbeit dar, erfüllt diesen Zweck aber nur sehr bedingt.
Die Stärke der Studie liegt sicherlich in der Analyse der Werke der Historiker, die - so die zentrale These der Autorin - nicht bewusst mit ihren deutschen bzw. österreichischen Wissenschaftstraditionen brachen, sondern nach 1950 zu ihren ursprünglichen Schwerpunkten zurückkehrten (13). Der Einfluss der Emigration auf das wissenschaftliche Denken wird damit zwar nicht bestritten, soll aber Eakin-Thimmes Ansicht nach deutlich relativiert werden. Insofern ist es kein Zufall, dass sie das Beispiel von Hans Baron wählt, bei dem - wie sie selbst schreibt - "im Gegensatz zu den meisten Kollegen, kaum etwas Neues hinzu" trat (194). Diese Hauptthese revidiert die Autorin aber umgehend, indem sie im Einklang mit der bisherigen Forschung auf die Bedeutung der Emigranten für die dauerhafte Etablierung der "Modern European History" an den amerikanischen Hochschulen verweist, die zugleich eine erstmalige Hinwendung zu einer europäischen Geschichte bei den Historikern notwendig machte. Die Studie bietet eine Fülle auch an Archivalien belegter wichtiger Details zu der intellektuellen Entwicklung der Historiker in ihrem sich wandelnden zeithistorischen Kontext. Eakin-Thimme macht es dem Leser aber nicht leicht, diese Aspekte mit Hilfe ihrer Gliederung aufzufinden, denn der Großteil der Überschriften ist derartig allgemein gefasst, dass sich darunter der Leser vieles und damit häufig leider letztlich gar nichts vorstellen kann. Bedauerlicherweise verzichtet die Autorin auf ein ihre Hauptthese wieder aufnehmendes Fazit - stattdessen findet sich hier der wichtige Hinweis auf die "Entprovinzialisierung" der Historiker; ein Begriff, den die Emigranten im Rückblick selbst benutzten (247ff.). Die Arbeit gibt den Forschungsstand von 1999 wieder, der durch einen knappen Literaturnachtrag für Arbeiten bis 2003 ergänzt wird (334f.). Das Personenregister enthält merkwürdigerweise nicht die 98 Historikeremigranten.
Insgesamt gesehen hat Eakin-Thimme eine wichtige Detailstudie zu deutschsprachigen Historikern im Exil vorgelegt. Auch wenn die Autorin die Brücke zur Rückwirkung der Emigranten auf Deutschland an verschiedenen Stellen schlägt, indem sie etwa die Debatte zwischen den Emigranten und den in Deutschland verbliebenen Historikern um eine etwaige Revision des "deutschen Geschichtsbildes" nach 1945 nachzeichnet (164ff.), so bleibt eine Studie, die die Geschichte der deutschsprachigen Historiker als eine Wechselwirkung zwischen Emigranten und in Deutschland Verbliebenen erzählt, nach wie vor ein Desiderat der Forschung.
Anmerkungen:
[1] M. Keßler: Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln u.a. 2001; J. Feichtinger: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933-1945, Frankfurt/M. 2001; P. T. Walther: Die deutschen Historiker in der Emigration und ihr Einfluss in der Nachkriegszeit, in: H. Duchhardt / G. May (Hgg.): Geschichtswissenschaft um 1950, Mainz 2002, 32-47; G. A. Ritter: Die emigrierten Meinecke-Schüler in den Vereinigten Staaten. Leben und Geschichtsschreibung im Spannungsfeld zwischen Deutschland und der neuen Heimat: Hajo Holborn, Felix Gilbert, Dietrich Gerhard, Hans Rosenberg, in: HZ 284 (2007), 59-102; zur Debatte um H. Rothfels Rolle zur Beginn der NS-Zeit: H-Soz-u-Kult, Forum: Hans Rothfels und die Zeitgeschichte; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/type=diskussionen&id=281; Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005; vgl. hierzu die Rezension von Alan E. Steinweis, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/02/9772.html.
[2] L. Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003; vgl. hierzu die Mehrfachbesprechung, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/01/index.html; G. G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Neuausgabe, Göttingen 2007.
[3] H. Wolf: Deutsch-jüdische Emigrationshistoriker in den USA und der Nationalsozialismus, Bern u.a. 1988; P. Th. Walther: Von Meinecke zu Beard? Die nach 1933 in die USA emigrierten deutschen Neuhistoriker; Ph.D. Buffalo 1989; zusammenfassend: C.-D. Krohn: Geschichtswissenschaften, in: ders. u.a. (Hgg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, 1998, 747-61.
[4] R. Jütte: Die Emigration der deutschsprachigen "Wissenschaft vom Judentum". Die Auswanderung jüdischer Historiker nach Palästina 1933-1945, Stuttgart 1991.
Redaktionelle Betreuung: Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Martin Kirsch: Rezension von: Gabriela Ann Eakin-Thimme: Geschichte im Exil. Deutschsprachige Historiker nach 1933, München: Martin Meidenbauer 2005, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: <http://www.sehepunkte.de/2009/03/13473.html>
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