Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2008, 334 S., 38 Abb., 4 Karten, ISBN 978-3-406-57671-3, EUR 24,90
Rezensiert von:
Dorothee Guillemarre
Frankfurt/M.
Mit dieser Arbeit liefert uns der Historiker und Turkologe Klaus Kreiser die erste Biographie Mustafa Kemal Atatürks auf Deutsch. Nach einer gelungenen Einführung - der Mann mit den vielen Namen -, die dem Leser ermöglicht, sich allgemein mit dem Staatsmann vertraut zu machen, erzählt der Autor in 12 Kapiteln das Leben des Staatsmannes.
Bis zum Ende des Weltkrieges war Mustafa Kemal zwar ein hochrangiger Offizier, der an den politischen und militärischen Ereignissen mitbeteiligt war. Jedoch blieb er noch am Rand der effektiven Macht. Kennzeichnend ist, dass Mustafa Kemal, der aus einer bescheidenen Familie kam, seine ganze Bildung in den Militärschulen bekam. So spielte der Einfluss der Gruppe der Gleichaltrigen, die eine gemeinsame Weltanschauung teilte, und die sich mit dem Imperialismus der "Großmächte" und mit der Frage des Nationalismus beschäftigte, eine große Rolle. Nach Abschluss seiner Stabsausbildung trat Mustafa Kemal 1907 in das Komitee für Einheit und Fortschritt ein, das ihm eine Mission in Nordafrika anvertraute. Leider weiß man immer noch nicht viel über seine Verbindung zu den damaligen Führern des Komitees. Tatsache ist, dass Mustafa Kemal zu dieser Zeit nicht als ernsthafter Rivale für die führenden Köpfe erscheint. In Tripolitanien, das Italien beanspruchte, wollte Mustafa Kemal noch an die Stärke der osmanischen Armee glauben. Hier zeigt Klaus Kreiser, dass er, indem er die Belagerungen von Wien erwähnte, "noch befangen in den Geschichtsmythen einer längst am Boden liegenden Nation" war (70). Vom Verlust der Balkanprovinzen - und darunter seiner Heimatstadt Saloniki - erfuhr er in Afrika. Laut Kreiser hat er sich darüber nie nostalgisch ausgedrückt. Neben Strömungen, die eine Rache für die verlorenen Provinzen verlangten, gab es andere Stimmen, die bereits zu dieser Zeit auf Anatolien als türkisches Kernland hinwiesen.
Während des Krieges erwies sich Mustafa Kemal als ein großartiger Kommandeur, der insbesondere den hochsymbolischen Ort der Dardanellen erfolgreich verteidigen konnte. Zu dieser Zeit war er noch von der Notwendigkeit einer führenden Rolle der Türken im Vielvölkerstaat überzeugt und stellte das "Fortbestehen eines osmanischen Staates mit einem hohen arabischen Bevölkerungsanteil nicht in Frage" (114). Jedoch scheint er relativ früh der Auffassung gewesen zu sein, dass die Balkanprovinzen nicht wiedererlangt werden konnten. Über die "armenische Frage" schwieg er, außer bei einer Reise in Straßburg, wo er die "Geschichtslosigkeit" der Armenier und die daraus folgende Unmöglichkeit einer eigenen Staatlichkeit behauptete (119).
Briefe und Tagebuchnotizen zeigen Mustafa Kemal als sehr ehrgeizig und willens, eine besondere Rolle zu spielen. Das Überlegenheitsgefühl der Elite teilend, wünschte er sich während des Krieges nichts weniger als dass die "einfachen Leute" "wie ich werden" sollten (125). Diese persönlichen Dokumente zeigen auch seinen Abstand zur Religion. Die "Frauenfrage" wollte er durch Wissenschaft und Hygiene verbessern und er ergriff schon 1916 für die Entschleierung der Frauen Partei. So entsteht das Porträt eines ehrgeizigen kompetenten Militärs, der die Weltanschauung der Jungtürken im Allgemeinen teilte, und der zwar auf die Macht blickte, sich aber noch am Rande hielt.
Die Übernahme der Führung des anatolischen Widerstandes durch Mustafa Kemal wird im Kapitel 6 und 7 detailliert behandelt. Zuerst bestand die Mission Mustafa Kemals darin, Zusammenstöße mit und unter den Volksgruppen zu verhindern. Allmählich bildeten jedoch Mustafa Kemal und andere Militärs einen Gegenpol zu der Istanbuler Regierung, bis im Juli 1919 der Istanbuler Ministerrat Kemal sein Kommando entzog. In Erzurum vertraute er engen Freunden seine Absicht an, eine Republik zu gründen. Parallel zu den Kriegsereignissen kommt zum Vorschein, wie Mustafa Kemal sich allmählich die Macht aneignete. Nach dem Sieg gegen die Griechen im Jahre 1922 wurden die Verhandlungen mit den Alliierten aufgenommen. Ein Beschluss der Nationalversammlung über die Aufhebung des Osmanischen Staates wurde gefasst. De facto war das Sultanat abgeschafft worden. Im 8. Kapitel schildert Klaus Kreiser die örtlichen Bedingungen der neuen Regierung in Ankara, die persönliche Umgebung Mustafa Kemals sowie sein Verhältnis zur Musik und seine Kunstpolitik. Der Ausschaltung der Opposition, insbesondere durch die Prozesse von Izmir und Ankara im Jahre 1926, folgte ein Jahr später die berühmte Ansprache (Nutuk), die dazu dienen sollte, seine Version des Unabhängigkeitskrieges zu liefern.
Für Mustafa Kemal war die Zivilisation ein irreversibler Prozess. Anders als Theoretiker wie Ziya Gökalp, welche die aus Deutschland stammende Abgrenzung der Kultur gegenüber der westlichen Zivilisation übernahmen, zählte für Kemal nur "das Gegensatzpaar zivilisiert - barbarisch" (261). Für ihn, der sich als "selbst entäußernder Befehlsempfänger der Nation" (272) verstand, ging es darum, das Alte durch das Neue zu ersetzen, und die Wissenschaft als einzigen Führer zu betrachten. Der Leser Auguste Comtes und Emile Durkheims sah in der Religion einen Gegensatz zum Fortschritt. Hinzu kam, dass er ihr keine Macht zugestehen wollte. So wurde das Kalifat abgesetzt und die Bruderschaften unterdrückt (Kapitel 9). Notwendig erschien auch, von der neu zu schaffenden Rechtsordnung die religiösen Spezialisten auszuschließen (Kapitel 10). Als Kulturrevolutionär schrieb Mustafa Kemal seinem Volk vor, wie es sich anzuziehen hatte. So wurde per Gesetz das Tragen des Hutes erzwungen. Gegen die Verschleierung der Frauen nahm er auch wiederholt Stellung, auch wenn es nie zu einem Verbot kam. Zu den wichtigsten Reformen zählt natürlich das 1934 verabschiedete Frauenwahlrecht. Mit der Einführung des lateinischen Alphabets 1928 wurde Mustafa Kemal zum "Oberlehrer" seiner Nation (Kapitel 11). Daneben wurde die Sprache von arabischen und persischen Wörtern "befreit". Dies führte aber auch zu "Sprachbasteleien" (276), die nach Atatürks Tod aufgegeben wurden. Ähnlich verhielt es sich mit den anthropologischen Forschungen, die zu dieser Zeit durchgeführt wurden.
Atatürks Regime kann man als eine "moderne Autokratie" bezeichnen (Epilog). Gegenüber nichtmuslimischen Minderheiten und Kurden wurde brutal gehandelt. Jedoch hatte sein Regime nie die Merkmale der faschistischen Diktaturen in Europa. So betrieb Kemal keine aggressive Außenpolitik, denn für ihn zählte das Modernisierungsprojekt mehr als "eine rückwärtsgewandte Nationalromantik" (300).
Viele Quellen sind leider noch nicht zugänglich. Ein sehr nützlicher Kommentar über diejenigen, die Klaus Kreiser benutzt hat, und zur Sekundärliteratur, auf die er sich gestützt hat, befindet sich am Ende des Buches. [1] Anekdoten und besonders kulturanthropologische Bemerkungen, die Klaus Kreiser durch seine hervorragenden Kenntnisse der osmanischen Kultur einführen kann, machen die Erzählung lebendiger. Zu begrüßen ist besonders, dass dieses Buch sich auch an mit der osmanischen und türkischen Geschichte nicht vertraute Leser wendet. Es fehlt vielleicht noch ein Schlusskapitel über den Mann, das, ähnlich wie die Einführung, überchronologisch die Hauptmerkmale seiner Biographie aufgreifen würde. Auf jeden Fall bleiben noch unzählige Forschungsthemen offen und es ist also zu hoffen, dass diese Arbeit der in Deutschland betriebenen osmanischen und türkischen Geschichte einen Schub geben wird und sie außerhalb der Türkologie oder der Islamwissenschaft attraktiver machen wird.
Anmerkung:
[1] Ergänzen könnte man noch die Biographie von Alexandre Jevakhoff: Mustafa Kemal Atatürk, Les chemins de l'Occident, Paris 1989.
Redaktionelle Betreuung: Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Dorothee Guillemarre: Rezension von: Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: <http://www.sehepunkte.de/2009/03/14621.html>
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