Ingeborg Becker (Hg.): Stimmungslandschaften. Gemälde von Walter Leistikow (1865-1908), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008, 239 S., ISBN 978-3-422-06829-2, EUR 39,90
Rezensiert von:
Heike Herber-Fries
Leverkusen
"Tragödie, Komödie, Historie, Pastorale, Pastoral-Komödie, Historiko-Pastorale, Tragiko-Historie, Tragiko-Komiko-Historiko-Pastorale, [...] unteilbare Handlung oder fortgehendes Gedicht". [1] Die Shakespeare'sche Ironisierung der Gattungsproblematik erhellt im 100. Todesjahr des Berliner Künstlers Walter Leistikow die kunsthistorischen Forschungsbemühungen, den "Maler der Berliner Landschaft" stil- und gattungsübergreifender als bisher in der (inter)nationalen Kunst- und Kulturgeschichte um 1900 zu positionieren. Anlässlich der Retrospektive im Berliner Bröhan-Museum, welches Leistikow zu seinen Hauptkünstlern zählt, ist der kritische Ausstellungskatalog mit neuen Forschungsergebnissen erschienen.
Das großzügig gestaltete Katalogbuch folgt in seinem Aufbau klassischen Künstlermonografien. Es enthält einen Textteil mit einem Vorwort und sechs Aufsätzen, einen Katalogteil und einen Anhang mit tabellarischer Biografie, Auswahlbibliografie, Personenregister, Autorennachweis, Bild- und Fotonachweis und einen nicht im Inhaltsverzeichnis aufgeführten Auszug aus einer zeitgenössischen Rezension (236-37).
Der erste der sechs Essays stellt in einem biografischen Aufriss Leben und Werk Walter Leistikows vor. Dabei handelt es sich um den gekürzten und überarbeiteten Katalogbeitrag Margrit Bröhans von 1989 zum selben Thema. Dieser ist wiederum ihrer ein Jahr zuvor erschienenen Künstlerbiografie entnommen, mit der sie die neuere Leistikow-Forschung grundlegend anstieß. [2] Die Autorin beschreibt darin emphatisch das Werden und Wirken des aus Bromberg (heute Bydgoszcz, Polen) stammenden Landschaftsmalers, Grafikers, Kunstgewerblers, Schriftstellers und Kunstorganisators bis zu seinem Selbstmord im Jahre 1908. Dabei übernimmt sie weitgehend die neuen Erkenntnisse von Sabine Meister. Diese erschließt in ihrem sehr sorgfältig recherchierten Beitrag den soziografischen Kontext von Leistikows Karriere vor dem Hintergrund der sich im Umbruch befindlichen Berliner Kunstlandschaft. Meister kann durch neues Archivmaterial einige der Mythen aufdecken und revidieren, die sich um die Lehrjahre und späteren skandalumwitterten Erfolge ranken, denen Bröhan noch 1988 aufgesessen ist. So wurde Leistikow nicht wegen mangelnden Talents 1883 der Kunstakademie verwiesen, wie er sich 1902 rückblickend erinnerte und spätestens seitdem den Mythos vom verkannten Künstler beförderte. "Er plante seine Ausbildung auf untypische Weise an der Hochschule vorbei." (51) Seine bekannte antiakademische Haltung leistete auch dem Skandal um die vermeintliche Refüsierung seines Bildes "Grunewaldsee" (Berlin, Nationalgalerie) Vorschub. Da er die Strukturen im Kampf um die künstlerische Vormachtstellung begriffen hatte, war er neben Max Liebermann die führende Persönlichkeit bei der Gründung avantgardistischer Künstlergruppen. Die Gründung der Vereinigung der XI im Jahre 1882, der Berliner Sezession 1899 und letztlich des Deutschen Künstlerbundes im Jahre 1904 gehen auf seine energische Initiative und Mitarbeit zurück.
Eva Ditteney / Sandra König heben in ihrem Beitrag die wichtige Vermittlerrolle Walter Leistikows im Kulturtransfer zwischen Deutschland und Skandinavien hervor. Die Autorinnen vermuten plausibel, dass er durch frühe Kontakte zu avantgardistischen Strömungen in Kopenhagen wie den Initiatoren von "Den Frie Udstilling" (Die Freie Ausstellung, seit 1891) entscheidende Anregungen für sein kunstpolitisches Engagement in Berlin gewonnen hat. Ebenso sorgte er für Ausstellungsmöglichkeiten skandinavischer Künstler in Deutschland, schuf ihnen ein Forum in der Zeitschrift "Pan" und warb sie für Mitgliedschaften der Berliner Sezession. Munchs Durchbruch in Deutschland ist ohne Leistikow nicht zu denken.
Auf ikonografischer Spurensuche in der Motivwelt argumentieren Reimar F. Lacher und Ingeborg Becker in ihren Beiträgen, dass Walter Leistikows Stimmungslandschaften der vom "Naturdefizit geprägten Wahrnehmung des Großstädters entsprangen" (82). Seit der zweiten Hälfte der 1890er Jahre lasse sich sein Werk zwischen Naturalismus und dekorativer Stilisierung verorten. Bedeutsam für die Einordnung seines Werkes seien die symbolistisch-expressiven Skandinavier Munch, Edelfelt, Rohde und Willumsen, ebenso der Franzose Puvis de Chavannes. Den stilisierenden, flächenhaften Kompositionsstil habe er japanischer Kunst abgelauscht.
Der abschließende Beitrag von Claudia Kanowski untersucht die kunstgewerblichen Entwürfe für Webereien, Glasfenster, Möbel, Druckstoffe, Tapeten und Gebrauchsgrafik, die episodisch zwischen 1897 und 1902 entstanden sind. Dem Zeitgeist gemäß verfolgte Leistikow hier kunsttheoretische Ideen einer neuen Einheit der bildenden Künste im Sinne des Gesamtkunstwerks. Diese Beschäftigung wirkte sich in Bezug auf "Eigenwertigkeit von Farbflächen und Linien als Gestaltungsmittel" auch "fruchtbar auf Leistikows Gemälde aus" (107).
Der Bildteil des Katalogs ist chronologisch in Werkphasen und - subordinierend - motivisch geordnet worden. Grafiken und kunstgewerbliche Entwürfe sind - anders als in der Ausstellung - gattungsübergreifend den Motivgruppen zugeschlagen. Die Einordnung ist allerdings nicht stringent durchgehalten. Die Radierung "Hafenbild" (ohne Jahr, Kat. Nr. 64) findet sich nicht bei "Schiffe und Häfen" wieder, sondern bei "Märkische Seen". Das Seestück "Abend an der Nordsee" (ohne Jahr, Kat. Nr. 19) hätte sinnfälliger der Motivgruppe "Meeresrauschen" zugeschlagen werden können. Gemälde, Grafiken und Glasfensterentwürfe (Kat. Nr. 41/42) mit dem Motiv ziehender Großvögel (Schwäne, Kraniche) sind sowohl in der Motivgruppe "Nach Norden" als auch in "Meeresrauschen" (Kat. Nr. 48, 49, 50) vertreten. Man hätte zu diesem um 1900 sehr beliebten und verbreiteten Motiv durchaus eine eigene Sektion erstellen können. Servicefreundlich sind die ausführlichen Literaturangaben zu jedem Exponat.
Das Katalogbuch reflektiert aus verschiedenen Perspektiven die prominente kulturpolitische Rolle Leistikows um 1900 in Bezug auf sezessionistische Neugründungen und den kulturellen Austausch Deutschland / Skandinavien. Zum anderen werden seine Leistungen auf dem Gebiet der Malerei und des Kunstgewerbes betont, die seinen Stilpluralismus in einen größeren internationalen Rahmen stellen. Er erscheint somit nicht länger nur als exemplarischer Landschaftsmaler der märkischen Umgebung von Berlin, als Vertreter der "stimmungsvollen Anmutung des Regionalen" (7, Vorwort), sondern vielmehr als wache Künstlerpersönlichkeit, die souverän die zeitgeistigen Strömungen des Jugendstils, des Japonismus, der französischen Moderne und des nordischen Symbolismus in die eigene Kunstauffassung einverleibte.
Anmerkungen:
[1] William Shakespeare: Hamlet, Prinz von Dänemark (um 1600), II. 2, in: derselbe: Sämtliche Werke, ins Deutsche übertragen von August Wilhelm Schlegel / Dorothea und Ludwig Tieck / Wolf Graf Baudissin u.a., Essen o.J., 1233.
[2] Margrit Bröhan: Walter Leistikow (1865-1908). Maler der Berliner Landschaft, Kat. Berlin (Haus am Waldsee), München (Museum Villa Stuck), Kiel (Kunsthalle zu Kiel), Bydgoszcz (Muzeum Okregowe), Berlin 1989 [um einen Katalogteil ergänzte Neuausgabe von: Margrit Bröhan: Walter Leistikow (1865-1908). Maler der Berliner Landschaft, Berlin 1988].
Redaktionelle Betreuung: Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Heike Herber-Fries: Rezension von: Ingeborg Becker (Hg.): Stimmungslandschaften. Gemälde von Walter Leistikow (1865-1908), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: <http://www.sehepunkte.de/2009/03/15099.html>
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