Hans Hubert Anton: Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters (= Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe; Bd. 45), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, VIII + 504 S., ISBN 978-3-534-14348-1, EUR 119,00
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Für die Präsentation der mittelalterlichen Fürstenspiegel hätte kein besserer Kenner gefunden werden können. Durch zahlreiche Studien, die die Zeitspanne von der Spätantike bis ins 13. Jahrhundert umfassen, hat Hans Hubert Anton einen umfangreichen Abschnitt der Geschichte dieser Gattung erschlossen. Sein ganzes Wissen - seine prononcierten Wertungen von Texten und Forschungsmeinungen - hat er zu einer Einleitung von knapp 40 Seiten komprimiert. Für den eingeweihten Historiker eröffnet sich dabei ein weiter Wissenshorizont, der unbedarfte Leser wird durch die komplexe Darstellungsweise mit hohen Ansprüchen konfrontiert. Anton begreift die Fürstenspiegelliteratur als fest umgrenzte Gattung mit stabilen Problemstellungen. Individualität schreibt er den Werken durch nationale Charakterisierungen zu; er unterscheidet die "westfränkisch-kirchliche Gesellschaftslehre", die "lotharingische Denkhaltung", die "insulare Geschichtstheologie", eine "reichisch-italische Eigenprägung" und die in England und Frankreich entstandenen "Spiegel unter dem Einfluss der Wandlungen des Hochmittelalters".
Nach der Zielsetzung Antons sollten diese Ausprägungen der Gattung in der Textauswahl repräsentiert sein. Aus dem 9. Jahrhundert wählte er die Autoren Jonas von Orléans, Sedulius Scottus und Hinkmar von Reims aus, für das Hochmittelalter Gottfried von Viterbo, Johannes von Viterbo, Gilbert von Tournai und Vinzenz von Beauvais. Diesem Anspruch auf Repräsentation der Entwicklungslinien fiel die Vollständigkeit der Werke zum Opfer. Da der Umfang des Buches auf 500 Seiten begrenzt war, musste Anton zum Teil rigide in den Textbestand der Fürstenspiegel eingreifen. Ist bei Jonas noch ungefähr die Hälfte des Textes wiedergegeben, beschränkt sich die Auswahl aus Gottfried, Johannes und Vinzenz auf ca. 10-20% des Originals. Die fehlenden Abschnitte werden teils unkommentiert gelassen, teils paraphrasiert, teils gar nicht gekennzeichnet (56, 113, 122, 298, 418). Das Kriterium für die Kürzungen ist nicht durchgehend einsichtig. Man erschließt die Auswahl wohl am besten durch einen Blick auf die umfangreiche Kommentierung. Fast in jeder Fußnote wird auf Publikationen Antons verwiesen. Die Texte dienen also vorwiegend der Beglaubigung der Thesen des Autors. Dies muss prinzipiell nicht negativ angerechnet werden; wie man diese Thesen beurteilt, so wird man auch diese Auswahl beurteilen. Problematischer erscheint mir dagegen die Frage, ob es bei theoretischen Texten überhaupt sinnvoll ist, das Original auf eine kleine Auswahl zu reduzieren. Während bei historiographischen Werken zu Recht auf unbedeutende oder unselbständige Teile verzichtet wird, erschließt sich der Sinn bei philosophischen Werken erst durch die Lektüre des vollständigen Textes. Die Kürzungen im vorliegenden Band sind so stark, dass die Sicht des Editors auf die Texte bestimmend ist. Der Leser kann sich kein eigenes Bild machen.
Bei der Wiedergabe der Texte hat Anton keine Mühen gescheut. So hat er selbst bei Texten, die in kritischer Edition vorliegen, neu aufgedeckte Handschriften kollationiert und die Varianten in Auswahl unter den Text gesetzt. Das Werk Vinzenz' von Beauvais, das bekanntlich in einer mangelhaften Edition herauskam [1], hat er dieser Arbeit nicht unterzogen. Gewöhnungsbedürftig ist die Benutzung von Verweiszeichen, deren Bedeutung teils in der Einleitung erläutert wird, teils vom Leser erahnt werden muss (97, 256, 268). Bei der Wiedergabe von Zitaten hat sich Anton dazu entschlossen, angekündigte Zitate kursiv zu drucken, implizite Zitate durch Fußnoten zu kennzeichnen. Dies wird nicht immer befolgt (359, 433-435) und führt zu einer unschönen Ansammlung von Fußnoten (334, 403). Die Kommentierung hat Anton gegenüber den benutzten Editionen zum Teil erheblich erweitert. Eine vollständige Aufarbeitung der Quellen ist aber nicht erreicht worden [2] (und war auch nicht Ziel des Herausgebers). Trotz der durchaus wichtigen Ergebnisse dieser Bemühungen stellt sich die Frage, ob die Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe der angemessene Ort für die semi-kritische Aufarbeitung eines Textes ist. Die umfangreiche Kommentierung ging zu Lasten der Vollständigkeit der Texte.
Zum Schluss ist noch ein Wort zur Übersetzung angebracht. Sie ist präzise, flüssig und bemüht sich um die Wiedergabe der oft kräftigen Ausdrucksweise. Nur manchmal sind eigene Wertungen eingeflossen, so bei der Übersetzung von "eriles" (53) mit "Lehensherren", von "consultum" (92) mit "Rat und Hilfe", und von "beneficium" (117) mit "Lehen". Die Lektüre der deutschen Übersetzung ist ein Vergnügen. Umso mehr muss man es bedauern, dass nicht die vollständigen Texte zum Abdruck gebracht wurden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Besprechung von Margit Kamptner in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 107 (1999), 203f.
[2] Eine Auswahl: 248 Z. 18 zitiert Hor. ars 445; 266 Z. 14-17 zitiert Walther, Proverbia 22593; 308 Z. 10-12 zitiert Policraticus V 8. Bei der Auflösung von Zitaten aus dem römischen Recht steht l. für lex, und nicht für linea (239).
Karl Ubl