KOMMENTAR ZU

Roberto Nicolai: Rezension von: Bruno Bleckmann: Fiktion als Geschichte. Neue Studien zum Autor der Hellenika Oxyrhynchia und zur Historiographie des vierten vorchristlichen Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006,, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/10/12658.html

Von Bruno Bleckmann

Bisherigem akademischen comment entspricht es, dass Rezensionen so hingenommen werden müssen, wie sie sind. Die durch das Internet möglich gewordene Kritik der Kritik ist ein neues und sicher noch gewöhnungsbedürftiges Genre. Für den Leser mag es aber nützlich sein, beim Abruf des Artikels von Roberto Nicolai (N.) in einigen Punkten auch die Gegenargumente zur Kenntnis zu nehmen.

N. wirft mir mit dem Verweis auf ein Diktum Finleys den Gebrauch des Begriffs "Primärquelle" vor. Dieser Gebrauch ist im (implizierten und explizierten) Kontrast mit "Sekundärquelle" durchaus üblich und keinesfalls auf epigraphische oder papyrologische Quellen beschränkt. Meines Erachtens stellt der Autor der Hell. Oxy. gegenüber Xenophon keine gleichrangige, den Ereignissen gleich nahe Quelle dar, sondern seine Erzählung ist aus Xenophon abgeleitet, also sekundär. Unabhängig davon, ob man das glauben mag oder nicht, ist die Begrifflichkeit hier völlig klar.

Im einleitenden Kapitel bin ich in Übereinstimmung mit den Beobachtungen Jacobys davon ausgegangen, dass Ktesias in frei erfindender literarischer Technik auf der Basis von Herodot eine Alternativversion entwickelt hat. N. stellt das alles angesichts der "conservazione frammentaria" der Erzählung des Ktesias als höchst ungewiss und spekulativ hin. Das Photiosexzerpt hat aber den Charakter einer Inhaltsangabe und erlaubt einen relativ kompletten Überblick über längere Stücke des Autors, so dass der Hinweis auf den fragmentarischen Charakter in diesem Fall nicht ganz greift. Gegen den eigenartigen Respekt, dessen sich Ktesias insbesondere von philologisch arbeitender Seite weiterhin erfreuen darf, sei hier auch auf die zahlreichen klärenden Aufsätze von Reinhold Bichler verwiesen, die in der Zwischenzeit erschienen sind und die These Jacobys bekräftig haben (s. z.B. Reinhold Bichler: Ktesias "korrigiert" Herodot. Zur literarischen Einschätzung der Persika, in: Ad Fontes! Festschrift Gerhard Dobesch, hg. v. Herbert Heftner - Kurt Tomaschitz, Wien 2004, S. 105-116; ders.: Der Lyder Inaros, Über die ägyptische Revolte des Ktesias von Knidos, in: Altertum und Mittelmeerraum: Die antike Welt diesseits und jenseits der Levante. Festschrift Peter W. Haider, hg. v. Robert Rollinger / Brigitte Truschnegg, Wiesbaden 2006 (Oriens et Occidens 12), S. 445-459; auch Bruno Bleckmann: Ktesias von Knidos und die Perserkriege: Historische Varianten zu Herodot, in: Bruno Bleckmann (Hrsg.), Realitäten und Fiktionen. Kolloquium zum 80. Geburtstag von Dietmar Kienast, Köln 2007, S. 137-157).

Weiter stößt sich N. daran, dass ich den von Euseb überlieferten Äußerungen des Porphyrios zu den klopai gewissermaßen naiv "integrale credito" geschenkt habe. Hier hätte durchaus gewürdigt werden können, dass ich argumentativ erörtert habe, warum man die Beobachtungen der Gewährsleute des Porphyrios hier nicht völlig verwerfen und relativieren kann.

Nicolai kündigt zu meinen Darlegungen an: "La maggior parte delle argomentazioni si può agevolemente rovesciare." Man wird dies abwarten müssen. Wichtig ist jedenfalls zunächst, dass eben diese Argumente auch zutreffend wiedergegeben werden. So behaupte ich eindeutig nicht, dass die richtige Chronologie der Timokrates-Mission beim Autor der Hell. Oxy. das Ergebnis bloßen Zufalls sei, wie N. mit Verweis auf S. 93 angibt. Vielmehr suche ich die Lösung des Timokrates-Problems darin, dass die Hell. Oxy. sich von Xenophon nicht in der Angabe über den Zeitpunkt, sondern nur der Herkunft des Goldes unterschieden (s. S. 98). Diese Lösung wird auch von Tuplin erwogen, dessen Beitrag zur Erschließung Xenophons N. durchaus gelten lässt.

Die von Nicolai vorerst gegebenen Proben der Gegenargumentation sind diskutabel. Gegen meine - übrigens durchaus auch von Mitforschern vertretene - Annahme, dass der Autor der Hell. Oxy. bei den Angaben seiner Itinerare in großem Maße frei erfundene Details verwendet, wendet Nicolai ein, dass man bei Nachahmern eher eine "tendenza a semplificare" feststellen könne und dass überhaupt keine ideologischen und literarischen Motive für eine solche Neigung zum Ausschmücken zu erkennen seien. N. übergeht dabei meine sachkritischen Argumente, die in vielen Fällen gegen eine Authentizität der vom Autor der Hell. Oxy. angegebenen Itinerare sprechen (etwa den gewaltigen Umweg des Lysandros vor seiner Einfahrt in die Meerengen im vorletzten Jahr des Peloponnesischen Kriegs). Meines Erachtens gibt es auch hinreichend viele Parallelen, die diese literarische Technik etwa in der römischen Annalistik, aber selbst noch in der spätantiken Kirchengeschichtsschreibung (Philostorgios) bezeugen, von Zeitgenossen des Autors der Hell. Oxy. wie dem bereits genannten Ktesias oder Dinon einmal ganz abgesehen. Die Motive eines solchen literarischen Erweiterungsstrebens, das man auch in den Pseudoberichten über die Messenischen Kriege findet und das vielleicht seine Wurzeln im Epos hat, muss der Historiker überhaupt nicht weiter klären. Für ihn kommt es darauf an, ob ein detaillierter Bericht verwertbar ist oder nicht. Festzustehen hat, dass Detailreichtum an sich kein prinzipielles Zeichen von Glaubwürdigkeit ist.

Ferner geht N., indem er meine Beobachtungen zum Verhältnis Pharnabazos-Konon relativiert, nicht darauf ein, dass Pharnabazos bei Xenophon dem Konon eindeutig übergeordnet ist und dass allein dieses Verhältnis sachkritisch nachvollziehbar ist: Schließlich geht es um eine persische Flotte. Die Versionen Diodors und Xenophons nebeneinander gelten zu lassen, geht jedenfalls nicht auf.

Überhaupt wird die sachkritische Ebene von N. kaum betreten. Vielleicht hat er von einem eher philologisch ausgerichteten Standpunkt wenig Verständnis für das Erkenntnisinteresse, das einen Historiker bei der Beschäftigung mit widersprüchlichen Versionen leitet. Xenophon behauptet etwa, dass Tissaphernes in der Schlacht von Sardes abwesend war, während der Autor der Hell. Oxy. dessen Anwesenheit voraussetzt. In der Version Xenophons sind die opuntischen Lokrer, in der Version der Hell. Oxy. die ozolischen Lokrer in die Anfänge des Böotischen Kriegs verwickelt. N. scheint mit diesen Widersprüchen leben zu können, ein Historiker, der die Quellen auswerten möchte, nicht. Alle detaillierten Auseinandersetzungen mit der von Xenophon und den Hell. Oxy. parallel dargestellten Erzählungen haben bisher nach einer Lösung für diese Probleme gesucht, wobei neben Elimination auch die Harmonisierung des Widersprüchlichen versucht wird. Dass dabei in der Quellenkritik nur verschiedene Lösungsmodelle nebeneinander gestellt werden und dass keinem Modell definitive Beweiskraft zukommen kann, habe ich immer betont. Ich behaupte allerdings weiterhin, dass das von mir entworfene Modell zumindest nicht weniger kohärent ist, als die von Schepens und anderen vertretene Annahme, die in den Hell. Oxy. die eigentlich wertvolle Quelle und in Xenophon nur eine tendenziös verkürzende und manifest falsch berichtende Alternativtradition sehen wollen. Leider sind Vor- und Nachteile der einzelnen Modelle nicht durch allgemeine, arbeitssparende Erwägungen, sondern nur durch die konkrete Arbeit am Text zu evaluieren. N. wirft mir in Zusammenhang mit dieser Methode "Spätpositivismus" vor, was auch immer das sein mag. Die definitive Ausschaltung einer Quelle als gleichwertigen Überlieferungsträger ist jedenfalls mit Sicherheit das Gegenteil von Positivismus.

Wer einen prinzipiellen Unterschied zwischen Thukydides und Teilen der nachthukydideischen Historiographie konstatiert, muss keineswegs mit dem Stempel klassizistischer Voreingenommenheit versehen werden. Selbstverständlich ist auch mir nicht verborgen geblieben, dass es im vierten Jahrhundert eine Fülle von literarischen historiographischen Genres gibt und dass Xenophon mit seinen eigenartig memoirenhaften Hellenika andere Darstellungsziele verfolgt hat als Thukydides. Allerdings macht es einen grundsätzlichen Unterschied aus, ob Autoren in welcher literarischen Form auch immer über etwas berichten, was sich ereignet hat oder was sich nie ereignet hat. Man mag eine solche Unterscheidung als enorme Naivität hinstellen und auf die Problematik der Erfassbarkeit von Ereignissen hinweisen. De facto geht freilich der Althistoriker selbstverständlich in seiner Alltagsarbeit unbewusst von solchen wertenden Unterschieden und von einer ziemlichen qualitativen Bandbreite aus, die es im Verhältnis von antikem Autor zu Ereignisebene gibt (Ktesias höher zu werten als Thukydides würde ihm nicht einfallen). Im übrigen behaupte ich nicht, dass die Historiographie, deren Darstellung um eine Wiedergabe der realen Ereignisebene bemüht ist, im nachthukydideischen, bis in die Kaiserzeit reichenden Zeitalter völlig verschwindet, sondern mir scheint es sich vor dem Hintergrund meiner Beobachtungen zu Xenophon und den Hell. Oxy. so zu verhalten, dass der von Polybios behauptete Unterschied zwischen den beiden Kategorien (Autoren, die "wissenschaftlich", also mit einem methodisch gesicherten Zugang zur Ereignisebene, schreiben und Autoren, die frei erfinden) eine real existierende Antithese bezeichnet. Innerhalb dieser Antithese stellt allerdings Thukydides m. E. sehr wohl einen später nicht mehr erreichten Pol dar (Ktesias bezeichnet vielleicht den entgegengesetzten Pol). Thukydides hat das Verhältnis zwischen Ereignisebene und historiographischer Abbildung sehr bewusst reflektiert. Deutlich wird dies insbesondere bei seinen Reden, die man aufgrund des Methodenkapitels keineswegs ohne weiteres als Fiktionen hinstellen kann. Eine thukydideische Rede hat einen völlig anderen Charakter als später eingelegte frei komponierte rhetorische Stilübungen.

Anmerkung der Redaktion:
Roberto Nicolai hat auf eine Replik verzichtet.