Von Susanne Rau
In der Juni-Ausgabe der sehepunkte rezensierte Gregor Rohmann mein Buch 'Geschichte und Konfession', indem er es einer harschen Kritik unterzog. Nicht nur, weil diese Rezension in Kritik und Stil von den fünf anderen (mir bislang bekannten) völlig abweicht, sondern weil sich darin Behauptungen finden, die darauf hinweisen, dass der Rezensent offenbar nicht genau gelesen hat, möchte ich darauf reagieren. Aufgrund des mir von den sehepunkten zugewiesenen Platzes beschränke ich mich auf die Punkte, die den Rezensenten mangelnde Durchdringungstiefe, Weitschweifigkeit und wenig tiefenscharfe Analyse konstatieren lassen und die dann in der impliziten Schlussfolgerung, das Buch hätte - jedenfalls in der vorliegenden Form - besser nicht gedruckt werden sollen, enden.
1. Zum Vorwurf, in der Einleitung würden in apodiktischer Weise Prämissen und Hypothesen aufgestellt, Bausteine zu einem hochtrabenden theoretischen Gerüst zusammengetragen, das zwar einen schönen Plan, aber noch lange kein Haus ergäbe: Als Beispiel wird die Verwendung des Begriffes Gedächtnisort für Fundorte von Quellen, also Archive, Bibliotheken und Sammlungen angeführt. Hierzu ist nur soviel zu sagen, dass dieser nicht zuletzt metaphorische Gebrauch des Begriffes nicht meine Erfindung ist und genau deshalb auch auf die Arbeiten von Pierre Nora, Mary Carruthers und Aleida Assmann verwiesen wird (60f.). Im übrigen findet sich dieser Begriff mehr und mehr im heutigen Bibliothekswesen und in der Archivkunde, weit verbreitet z.B. im französischsprachigen Raum. Kritisiert wird ferner - auch dies unter dem Kritikpunkt der unhinterfragten Prämissensetzung - dass das Kapitel über Identität (51-59) die einschlägigen Diskussionen in den Cultural, Postcolonial und Gender Studies ignorieren würde. Ein Blick in die Fußnoten genügt, um zu sehen, dass dies nicht der Fall ist, zumal die wichtigen neueren Studien von Angehrn, Nunner-Winkler, Reese-Schäfer und Straub für meine (bescheidenen) Zwecke, nämlich eine kritische Verwendung des Begriffes im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Analyse anzuzeigen, völlig ausreichen. Was den Gender-Aspekt betrifft, so erlaube ich mir auf das Kapitel II D 4 des Buches zu verweisen, wo es Ansätze zu einer systematisch noch ausstehenden Analyse des weiblichen Beitrags an der Praxis des historischen Tradierens und Erinnerns und an der Entstehung der Geschichtswissenschaft gibt. Die eingeforderte Begriffskritik Niethammers und andere Studien in Ehren - das Wichtigste bei der Verwendung des Begriffes war mir, moderne Identitätstheorien nicht einfach und unreflektiert auf die Frühe Neuzeit zu übertragen. Dadurch wird auch deutlich, dass mit dieser reflektierten und kritischen Anzeige der Analysebegriffe nicht einfach Prämissen gesetzt werden, sondern ein Vorverständnis expliziert wird, das ja gerade vermeiden helfen soll moderne Konzepte auf frühere Epochen anzuwenden bzw. eine Hypothese in die Quellen hineinzutragen, nur um sie dort bestätigt zu finden. Meine geschichtswissenschaftliche Herangehensweise - daher erklärt sich auch die rund 60 Seiten lange Einleitung - orientiert sich wie angezeigt (z.B. 13 o. 94) an einem pragmatischen Verständnis des Argumentierens, welches aus der konstruktiven Wissenschaftstheorie kommt und das dafür plädiert, Sprechakte als symbolische Handlungen zu begreifen, die in Handlungsschemata eingebunden sind. Sich nur von modernen Fragestellungen und Prämissen leiten zu lassen, käme einem methodischen Zirkel gleich, wäre also ein Argumentationsfehler. Vermieden werden kann dieser Zirkel m.E. nur, indem man die für die Argumentation notwendigen Begriffe, aber auch die Relevanz der Fragestellung am Verständnis der Zeitgenossen überprüft, was einen Rekurs auf die Quellen schon im Stadium des Entwurfs von Fragestellung und Methode unerlässlich macht.
2. Auf den Vorwurf der wenig tiefenscharfen Analyse möchte ich zum einen generell, zum anderen mit konkreten Beispielen reagieren. Generell ist zu sagen, dass es in dem Buch weder um eine Lokalstudie noch um eine an einer einzelnen Person orientierten Studie geht, sondern um die Rolle der Geschichtsschreibung im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, weil diese von der Aufklärung bis heute schlichtweg unterschätzt worden ist. Die bedeutende Rolle, die v.a. in der Legitimierung einer neuen Bewegung und in der Schaffung einer konfessionellen Identität bestand, aber auch umgekehrt, der Beitrag der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung zur Ausformung des neuzeitlichen historischen Denkens und damit indirekt zur Entstehung der Geschichtswissenschaft, konnte aufgezeigt werden. Wenn dafür die Geschichtsschreibung in vier ausgewählten Städten untersucht wurde und bis ins frühe 18. Jahrhundert insgesamt über 80 Geschichtsschreiber ausgemacht werden konnten, dann ist es nicht nur etwas viel verlangt, sondern für die Generalthese auch nicht weiter notwendig, jede einzelne "Spur" weiterzuverfolgen. Zum Beweis der These genügt es, einen Überlieferungsbestand sowie einige typische Abschreibe- oder Rezeptionsmechanismen exemplarisch zu analysieren. Das ausführliche Verzeichnis gedruckter und ungedruckter Quellen sollte dann Basis für weitere Detailanalysen sein, zu denen jeder Leser/ jede Leserin herzlich eingeladen ist. Die Resultate zu der These, dass sich die Geschichtsschreibung der frühneuzeitlichen Städte immer weiter weg von einem Arcanum hin zur mehr Offenheit bewegen, sind i.ü. (z.B. nach Jahrhunderten und Konfessionen) viel differenzierter dargelegt als von Rohmann behauptet wird. Bei seiner Einforderung nach Weiterverfolgung von "Ideen" übersieht der Rezensent auch, dass manchmal schon die Forderung nach Veröffentlichung eines Verfassungsdokumentes der Stadt von bürgerlicher Seite (z.B. das Hamburger Stadtbuch i. J. 1603, das auch tatsächlich mehrfach publiziert wurde) genügt, um eine Anspruchshaltung und ein Bewusstsein vom Recht auf Offenlegung historisch verbürgter Rechte und Privilegien festzustellen.
3. Die Vermutung, dass der Rezensent nicht genau gelesen hat, wird noch dadurch untermauert, dass er behauptet, ich würde bei den frühneuzeitlichen Geschichtsschreibern Tendenzen zur Objektivität und insgesamt einen Methodisierungsprozess im Sinne von Fortschrittlichkeit feststellen. Was die Zeitgenossen unter "Wahrheit" und "Unparteilichkeit" (nicht "Objektivität"!) verstanden haben, wird in dem Buch ausführlich dargelegt (139-143), und dass Methodisierung eben nicht zu verwechseln ist mit "Modernisierung" oder gar "Fortschritt" ebenfalls (503-518).
Pascal schrieb um die Mitte des 17. Jahrhunderts: "Ceux qui jugent d'un ouvrage sans règle sont, à l'égard des autres, comme ceux qui n'ont pas de montre à l'égard des autres." (Pensées I.5) Der Rezensent hat über das Buch ohne Maß und Regel geurteilt. Wenn seinem Gesamturteil womöglich nicht mehr mit Vernunftargumenten beizukommen ist, so vielleicht mit dem Hinweis, dass sich das Buch ausgesprochen gut verkauft; und nach den vielen positiven Reaktionen vermutlich nicht nur deshalb, weil es so schön gelb ist.
Von Gregor Rohmann, Hamburg
Fünfmal also ist Susanne Raus Dissertation freundlich besprochen worden. Das kann ein Indiz für die Qualität des Werkes sein, muss es aber nicht. Ihr Buch verkauft sich auch "ausgesprochen gut". Das nun liegt nur selten an der Qualität eines Buches, und so wollen wir uns auch lieber den "Vernunftargumenten" zuwenden, zu denen Frau Rau ihre eigene Schlusspointe ja ausdrücklich nicht zählt.
Sie möchte ihre Replik beschränken "auf die Punkte, die den Rezensenten mangelnde Durchdringungstiefe, Weitschweifigkeit und wenig tiefenscharfe Analyse konstatieren lassen." Zumindest die ersten beiden Punkte stammen aus meinem Gesamturteil. Hätte Rau nicht eben das getan, was sie mir zu Unrecht vorwirft, nämlich ungenau zu lesen, wäre ihr aufgefallen, dass die angekündigte Beschränkung insofern wenig Sinn macht. Mit meiner Klage über die unglückliche handwerkliche Qualität ihrer Arbeit befasst sie sich denn auch gerade nicht. Auch zu einer Auseinandersetzung mit meinen Bedenken etwa gegenüber ihrem eindimensionalen Verständnis der Reformation als historischem Bruch kommt sie nicht.
Zu 1.: Ich gebe gern zu, dass meine Expertise "im heutigen Bibliothekswesen und in der Archivkunde (...), z. B. im französischsprachigen Raum" enge Grenzen hat. In ihrer Dissertation überblendet Rau jedoch Pierre Noras "lieux de mémoire", die doch wohl weniger konkrete Räume als vielmehr metaphorisch Anknüpfungspunkte des kollektiven Gedächtnisses meinen, die "loci" der antiken und mittelalterlichen Mnemonik, die doch zunächst mentale oder auch bildliche Merkhilfen und wiederum weniger begehbare Orte sein sollten, mit dem allzu konkreten Raum des Archivs oder der Bibliothek. Dieses Verständnis hat zwar einen gewissen feuilletonistischen Reiz ("Wandert man aber in diesen Gedächtnisräumen...", S. 60 ihrer Diss.), es ist aber eben nicht "nicht zuletzt metaphorisch", sondern im Gegenteil viel zu konkret.
Raus engagiertes Plädoyer für eine theoriebasierte Geschichtswissenschaft trifft bei mir auf ungeteilte Zustimmung, weshalb es auch in meiner Besprechung keinen Anlass hat. Ebenso habe ich streng genommen nicht für die unreflektierte Übernahme moderner Konzepte plädiert, sondern im Gegenteil gerade zur Vorsicht bei der Verwendung des Begriffs "Identität" gemahnt. Lutz Niethammer "und andere Studien" muss man nicht "in Ehren" halten. Man sollte sie aber lesen, denn sie haben eine Kritik des Identitätsbegriffs nicht "eingefordert", sondern geleistet. Damit wäre dessen explikativer Wert doch wohl zunächst einmal in Frage gestellt, so dass ein Fußnotenapparat mit den üblichen Verdächtigen zwar "völlig ausreich[t]", dies aber nur im wohlverstandenen Sinne einer Schulnote. Aus den Diskussionen in den Cultural und Gender Studies über Identität als Konstrukt, als Performanz und als Machtdispositiv hätte Rau vieles erfahren können, was ihr bei ihren ganz richtigen Bemühungen um einen reflektierten Gebrauch dieses Begriffs weitergeholfen hätte. "Was den Gender-Aspekt betrifft" weist Rau indigniert darauf hin, dass sie doch das obligatorische "Frauen"-Kapitel (etwa über die Ehefrauen der Chronisten!) durchaus geschrieben habe. Wer hat denn hier nun "nicht genau gelesen"? Mir jedenfalls ging es allein um den Beitrag der Gender Studies zur Identitätsdebatte! Dass Rau sich narratologisch auf die pragmatische Sprechakttheorie bezieht, hatte ich schon beim Lesen ihrer Dissertation verstanden. In meiner Rezension habe ich freilich lediglich in einem Satz das Hauptergebnis ihrer einschlägigen Analyse referiert und mir erlaubt, einen kritischen Gedanken zu äußern.
Zu 2.: Auf meine Klage über mangelnde Tiefenschärfe behauptet Rau zunächst schlicht das Gegenteil: "[...] der Beitrag der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung [...] konnte aufgezeigt werden". Diese Aussage ohne jeden Versuch eines Belegs ist nun streng genommen kein Argument. Weiterhin habe sie in einer komparativen Studie aus der Fülle des Materials nicht jede einzelne Spur weiterverfolgen können. Das ist einerseits richtig, wenn man Material nicht nur ansammelt, sondern tatsächlich auch präzise vergleicht. Andererseits ist es jedoch Zeugnis einer atemberaubenden methodischen Gleichgültigkeit: Denn durch selektive Einzelanalyse auf der Grundlage eines großen Fundus ließe sich letztlich beinahe jede beliebige Behauptung irgendwie belegen. Wenn sie freilich meint, zum "Beweis" - und nicht etwa zunächst zur Formulierung oder bestenfalls zum Beleg - einer "These genüg[e] es, [...] exemplarisch zu analysieren", dann sollte man sie mit Wissenschaftstheorie nicht weiter verunsichern. Bemerkenswert schließlich ist der Hinweis, das "ausführliche Verzeichnis gedruckter und ungedruckter Quellen" solle "Basis für weitere Detailanalysen sein, zu denen jeder Leser/jede Leserin herzlich eingeladen" sei. Frau Rau lädt also die Leserinnen und Leser ein, ihre Thesen doch bitteschön selbst zu überprüfen, wenn sie etwas an ihr auszusetzen haben sollten. Dies wäre völlig legitim, wenn sie denn selbst eine tiefenscharfe Analyse vorgelegt hätte. Ein Beleg für eine solche ist es nicht.
Zu Unrecht, so Rau, hätte ich ihr mangelnde Stoffbeherrschung und ebenso mangelnde argumentative Stringenz vorgeworfen. Als Beispiel hatte ich die Frage von Vertraulichkeit oder Öffentlichkeit der Geschichtsschreibung genannt. "Dass manchmal schon die Forderung nach Veröffentlichung [...] genügt, um ein Bewusstsein vom Recht auf Offenlegung [...] festzustellen", ist nun, wo es um hegemoniale Kontrolle über das historische Wissen geht, allenfalls die eine Seite der Medaille. Dass aber das Hamburger Stadtbuch 1603 veröffentlicht werden sollte (S. 445 ihrer Diss.), hätte bei angemessener Verifizierung ein überzeugender Beleg für ihre These sein können, wie ich aufrichtig enttäuscht anmerkte. Dass es sogar "tatsächlich mehrfach publiziert" wurde, steht freilich eben nicht in ihrer Dissertation, sondern in der Replik auf meine Rezension, womit über Stoffbeherrschung schon einiges gesagt ist. Übrigens erwähnt Rau selbst mehrmals (etwa S. 418, 441 ihrer Diss.) Indizien für die Vertraulichkeitsthese.
Zu 3.: Ich "behaupte" also, dass Rau der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung einen "Methodisierungsprozess im Sinne von Fortschrittlichkeit" attestiere. "Methodisierung" ist nun Frau Raus eigene, meines Erachtens durchaus problematische Begrifflichkeit (S. 505 ihrer Diss.). "Behauptet" habe ich überhaupt nichts, wenn auch zugegebenermaßen nicht ganz zu Recht ihre Ausführungen über die methodischen Überlegungen frühneuzeitlicher Chronikvorreden allzu skeptisch gelesen. Jedenfalls habe ich in meiner Rezension eher mit als gegen Rau vor einem möglichen Missverständnis gewarnt - bewusst ohne damit ein abschließendes Urteil fällen zu wollen. Rau fühlt sich also ausgerechnet da angegriffen, wo ich mich noch am ehesten auf eine Paraphrase beschränke! Es lohnt freilich den Hinweis, dass sie selbst in ihrer Replik vom "Beitrag der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung zur Ausformung des neuzeitlichen historischen Denkens" spricht.
Letztlich geht es jedoch grundsätzlich um die Frage, ob Raus Buch handwerklich gut oder schlecht gemacht ist, um sprachliche Qualität also, um argumentative Stringenz und Ökonomie in der Stoffbeherrschung. Hierüber kann nun nur jede Leserin und jeder Leser selbst urteilen. Ich bin nach intensiver Lektüre und reiflicher Überlegung zu einer Einschätzung gelangt, die ich auch weiterhin vertrete. Selbstverständlich lässt sich mit einer Rezension keinem Buch wirklich gerecht werden. Es liegt mir auch fern, Susanne Rau die einschlägigen Fähigkeiten abzusprechen. Es drängt sich mir nur der Verdacht auf, dass sie selbst nicht ihr Möglichstes getan hat, weil sie niemand durch rechtzeitige wohlmeinende Kritik dazu gebracht hat. Meine Unzufriedenheit richtet sich an einen Wissenschaftsbetrieb, in dem man sich nicht die größtmögliche Mühe geben muss, weil ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzungen die Ausnahme sind. Raus Reaktion auf den Versuch einer solchen ist in der Sache nicht dazu angetan, meinen Eindruck auszuräumen, und in der Form nur ein weiteres Beispiel ihrer Anspruchslosigkeit.