Von Martin Sonnabend
Die Redaktion der Zeitschrift "KUNSTFORM" leitet die Rezension von Christine Demele mit einer Bemerkung über das "durchaus gespannte Verhältnis von akademischer Kunstgeschichte und Kunstgeschichte im Museum" ein, bei dem es sich um ein "tief liegendes Problem" handele, "auch wenn beide Seiten dies nicht ohne weiteres zugeben mögen". Mir scheint nicht, dass dieses Verhältnis grundsätzlich so "gespannt" ist. Meiner Erfahrung nach ist der Austausch mit den Kollegen von der Universität in der Regel sehr ermunternd und fruchtbar. Es gibt aber einige Aspekte, bei denen die Verständigung zwischen der Kunstwissenschaft an der Universität und der am Museum manchmal gestört erscheint. Und am Beispiel der extrem auseinander klaffenden Standpunkte in der Frage der Authentizität von Michelangelo-Zeichnungen, bei denen mitunter der Eindruck entsteht, zwei verschiedene Welten träfen aufeinander, ist zu erkennen, dass die Betrachtung der Originale und der Umgang mit dem Kunsthandel zwei solcher Aspekte sind.
Zur Betrachtung der Originale: Es ist nun einmal der grundsätzliche Unterschied zwischen der Kunstwissenschaft im Museum und der an der Universität, dass die Museumskuratoren in erster Linie mit originalen Kunstwerken umzugehen haben und für sie Verantwortung tragen, während das bei Universitätsgelehrten in der Regel nicht der Fall ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass die einen etwas vom Kunstwerk verstehen und die anderen nicht. Nur scheint mir, dass der Stellenwert, der dem Studium des Originals zugemessen wird, manchmal verschieden ist.[1] Der Rezensentin etwa genügt für ihre Kritik an meiner Ausstellung, dass ich versäumt hätte, bestimmte Schriften von Alexander Perrig zu berücksichtigen. Abgesehen davon, dass auch diese Schriften im Kern keine andere Argumentation bereithalten als die von mir herangezogenen Veröffentlichungen Perrigs, unterschlägt die Rezensentin die gesamte anders als Perrig argumentierende Literatur sowie die Veröffentlichungen, die den Ansatz von Perrig kritisch beurteilen.[2] Das kann wohl kaum der Standard einer ernstzunehmenden Rezension sein. Vor allem aber beruft sie sich ausschließlich auf Sekundärliteratur und lässt an keiner Stelle erkennen, dass sie die Zeichnungen, um die es geht, je im Original gesehen hätte. Ich habe sehr viel Zeit vor den Originalen verbracht und bin im Fall der Zeichnungen, die in der Ausstellung zu sehen waren, zu anderen Ergebnissen als Perrig gekommen. Nur um ein Beispiel zu nennen: die Quadrierung auf dem Blatt mit der Inschrift "Disegnia, Antonio, disegnia " (Tolnay Corpus 240, Ausstellungskatalog Nr. 3) liegt meines Erachtens über der Federzeichnung und nicht darunter. Ich erkläre diese Quadrierung deshalb auch ganz anders als Perrig, der der festen Überzeugung ist, die Quadrierung sei die Voraussetzung der Zeichnung. Wie will die Rezensentin diesen Dissens ohne Kenntnis des Originals beurteilen?
Das Niveau von Alexander Perrig ist zum Glück unvergleichlich höher. Man findet in seinen Schriften mit Sicherheit kein Urteil, das er nicht am Original überprüft hätte. Perrig hat in den 1970er Jahren einen zunächst sehr einleuchtenden methodischen Ansatz entwickelt, der mit graphologischer Akribie und detektivischem Spürsinn vorgeht, und der den Anspruch erhebt, das klassische kennerschaftliche Urteil durch eine "objektivierte" Kennerschaft zu ersetzen. Dieser Versuch wurde von einer eliten- und kapitalismuskritischen, vorrangig an der Universität angesiedelten Kunstwissenschaft begrüßt; ich selbst war als Student um 1980 in Hamburg hellauf begeistert davon. Aber vor dem Hintergrund meiner Erfahrung bei der Betreuung einer Museumssammlung würde ich die klassische Kennerschaft heute gerne wieder auf der Tagesordnung der Methodendebatten sehen, und zwar unvoreingenommen. Dabei möchte ich betonen, dass ich Perrigs Forschungen, bei allem fachlichen Dissens, nicht nur respektiere, sondern sie auch für verdienstvoll halte. Perrig hat einen großangelegten Versuch durchgeführt, um ein grundlegendes Dilemma der Kunstwissenschaft zu lösen, und er hat das mit einer unglaublichen Hingabe getan. Er hat größere Präzision bei der Beschreibung von Zeichnungen eingefordert und eine Begrifflichkeit entwickelt, die zumindest in Teilen hilft, sich dem "Unbeschreibbaren" (dem nicht-sprachlichen medialen Wesen des Kunstwerks) sprachlich weiter zu nähern. Perrig ist zudem der einzige mir bekannte Hochschullehrer, der das analytische Betrachten von Zeichnungen an der Universität unterrichtet hat (wenn auch vor Diapositiven, soweit ich weiß). Das weist übrigens darauf hin, dass in der fehlenden Erfahrung im Umgang mit Zeichnungen ein Sonderproblem der Kommunikation zwischen Universität und Museum liegt.
Woran liegt es dann, dass sich - soweit mir bekannt - keine einzige Spezialistin und kein einziger Spezialist auf dem Gebiet der italienischen Renaissance-Zeichnungen finden lässt, die oder der Perrigs Methode und Schlussfolgerungen uneingeschränkt zustimmt? Meines Erachtens, weil das Betrachten des Originals ein komplexerer Vorgang ist, als Perrig zulässt.
Zu den angenehmeren Ereignissen der Museumspraxis gehören die Gespräche vor den Originalen, bzw. über die Blätter, die einem (an)vertraut sind. Die Meinungen bei so schwierigen Zuschreibungsfragen wie denen der Zeichnungen Michelangelos sind längst nicht alle publiziert. Man erfährt sie von auswärtigen Fachleuten, die die eigene Sammlung besuchen, auf Reisen im Gespräch mit Kollegen von anderen Sammlungen, auf Tagungen usw. Über die Sekundärliteratur allein erhält man hier ein unvollständiges Bild des Diskussionsstandes. Ich verweise zum Beispiel auf die jüngst erschienenen Hamburger Bestandskataloge der deutschen und italienischen Zeichnungen von Peter Prange und David Klemm.[3] Dort hat man während der Arbeit an den Katalogen internationale Spezialisten zu Kolloquien eingeladen, um vor den Originalen Fragen der Zuschreibung diskutieren zu können und die Ergebnisse dieser Treffen dann in die Publikationen aufgenommen.
Es ist Perrigs Schriften anzumerken, dass er sich bei seinem Versuch, die Zuschreibungsmethodik radikal auf neue Beine zu stellen, das Gespräch mit den Kuratoren vor Ort und anderen Kennern versagt hat, möglicherweise, um sich nicht beeinflussen zu lassen. Er hat also eine sehr museumstypische Verhaltensweise vermieden. Auch sein Anspruch, mit seiner Methode zu einem abschließenden Urteil zu gelangen, das den Status der Endgültigkeit für sich reklamiert, käme Museumskuratoren nicht in den Sinn, denn damit ist postuliert, dass es so etwas wie die "abschließende Betrachtung" gibt. Dem widerspricht die tägliche Erfahrung im Umgang mit den Originalen, die lehrt, dass jedes erneute Betrachten die eigene Wahrnehmung verändert und intensiviert. Es geht ja nicht nur um die empirischen Fakten (die zu erfassen oft schon schwieriger ist als man es sich träumen lässt, siehe das oben erwähnte Beispiel der Quadrierung in Tolnay Corpus 240), es geht um die komplexen Beobachtungen zur Wirkungsästhetik, die viel Zeit und Übung verlangen, und zwar vor den Originalen, weil sie Reproduktionen einfach nicht zu entnehmen sind, und es geht um das Zulassen der Subjektivität. Das Betrachten und Verstehen von Kunstwerken umfasst nun einmal Intellektualität und Sinnlichkeit gleichermaßen (eigentlich eine Binsenweisheit), was zwangsläufig Subjektivität einschließt. Ein klassischer Kenner wird sicher seine hart erarbeitete Meinung verteidigen, er wird aber niemals aufhören, immer von neuem das Original zu betrachten und wird nicht ausschließen, dass er aufgrund neuer Einsichten seine Auffassung ändern könnte. Und er weiß, dass der Austausch mit Anderen eine Möglichkeit ist, die eigene Subjektivität kritisch zu reflektieren (was ja noch lange nicht bedeuten muss, dass man übereinstimmt).
Wenn wir von der "Qualität" eines Werkes sprechen, handelt es sich um eine präsente, handfeste visuelle Erfahrung, die nur vor dem Original gemacht werden kann. Die Rezensentin, die mit diesem Begriff nichts anzufangen weiß [4], sollte wissen, dass man diese Erfahrung allerdings erst machen muss, um ermessen zu können, wovon die Rede ist. Die Frage der Qualität ist sogar eine der Grundlagen unserer Arbeit im Museum. Das Museum ist eine demokratische, jedermann zugängliche Institution, deren Aufgabe nicht in erster Linie darin besteht, kunsthistorisches Fachwissen zu vermitteln (das können auch Bücher leisten), sondern auf wissenschaftlicher Grundlage die "künstlerische" oder "Qualitäts"-Erfahrung den Besuchern zu ermöglichen, damit jeder, und nicht nur wenige Privilegierte, "in den Genuss" von Kunstwerken kommen kann - was Wissensvermittlung natürlich nicht ausschließt und was ebenso natürlich auch nicht bedeutet, dass jeder Besucher zum "Kenner" werden soll. Aber wenn das nicht so wäre, bräuchten wir nicht soviel Zeit, Geld und Mühe auf die Pflege und Präsentation von Originalen zu verwenden. Dann würde es ausreichen, sie zu dokumentieren, wegzuschließen und hin und wieder für die Forschung zugänglich zu machen (streng konservatorisch wäre das natürlich großartig). Die Frage der Qualität ist ein Punkt, an dem ein intensiver Austausch zwischen Universität und Museum angebracht und sinnvoll ist. Nur muss dieser Austausch in gegenseitigem Respekt stattfinden, nicht aus dem Bedürfnis sich in tatsächlicher oder eingebildeter Kennerschaft zu übertreffen, und es muss überhaupt ein Interesse an der Wahrnehmung von Qualität bestehen. Die Frankfurter Ausstellung hat nichts anderes vorgehabt als Qualitätserlebnisse und offene Diskussionen vor den Originalen zu ermöglichen; das wurde zahlreich wahrgenommen, aber es wurde auch verweigert.
Zum zweiten Punkt, dem Verhältnis zum Kunsthandel. Auch in der Rezension von Frau Demele fällt auf, mit welcher Aggression in der Debatte um Michelangelos Zeichnungen argumentiert wird, wie leichtfertig verdiente und angesehene Kollegen der Korruption verdächtigt werden, etwa wenn der Print Room des British Museum, immerhin eine der bedeutendsten, wenn nicht die bedeutendste Graphische Sammlung der Welt, beschuldigt wird, aus Eigeninteresse und wider besseres Wissen falsche Behauptungen aufzustellen. Würde man das ernst nehmen, könnte man sich auf keine der zahlreichen und wichtigen Publikationen aus diesem Hause mehr beziehen: es stünde ja alles unter dem Verdacht der Verfälschung. Dass eine solche Sicht auf die Museumsarbeit ein bisschen sehr vereinfacht ist, dass Museumskuratoren selbstverständlich wissenschaftlich kritisch mit der eigenen Sammlung umgehen und sie nicht grundsätzlich schönreden, kann jeder zahllosen Bestandskatalogen entnehmen; ich verweise als Beispiel nur auf die Forschung zu den Zeichnungen Rembrandts, die - die autographen Zeichnungen stark reduzierend - in den letzten Jahrzehnten vorgelegt wurde (unter anderem vom British Museum). Es sollte eigentlich nicht nötig sein, darauf aufmerksam zu machen.
Der erwähnte scharfe Ton hat seine tiefere Ursache im Verhältnis zum Kunsthandel und zum ökonomischen Wert des Kunstwerks. Zuschreibungsfragen insgesamt und die Diskussion um die Echtheit von Zeichnungen Michelangelos im besonderen berühren ja nicht unerheblich den Marktwert der betreffenden Blätter. Die Verknüpfung von Geld, Wissenschaft und Kunst löst bei der "akademischen Kunstgeschichte" möglicherweise schnell und leicht den Abwehrreflex der Korruptionsvermutung aus. Das kann man ja auch verstehen (nur die eilige Selbststilisierung zum Wahrheitskämpfer gegen die finsteren Geldmächte ist etwas billig); an der Universität hat man mit dem Kunsthandel in der Regel nichts zu tun, im Museum allerdings sehr wohl. Museumskuratoren sind meistens verpflichtet, die von ihnen betreute Sammlung durch angemessene Neuerwerbungen nach Kräften weiterzuentwickeln. Das können sie nicht ohne den Kunsthandel. Kunsthändler sind daher immer wieder Geschäftspartner der Museumskuratoren, und letztere müssen nolens volens lernen, mit ihnen und mit dem Marktwert von Kunstwerken umzugehen. Es ist ein Allgemeinplatz, dass man dabei keine identischen Interessen hat; man muss vielmehr die der öffentlichen Sammlung gegen die - übrigens legitimen - Geschäftsinteressen der Händler zu behaupten wissen. Das gehört zur Arbeit der Kuratoren. Und ungefähr so wie eine interessierte Ethnologie irgendwann einmal herausgefunden hat, dass nicht alle Südseebewohner Kannibalen sind, stellt man dabei fest, dass Kunsthändler nicht grundsätzlich geldgierige Betrüger sind. Es gibt seriöse und unseriöse, und unter den ersteren viele, die nicht nur eine ehrliche Begeisterung und Liebe zur Kunst, sondern auch eine hohe Fachkompetenz mitbringen. Ein grundsätzliches Verdammen der ökonomischen Aspekte im Zusammenhang mit Kunstwerken bringt niemanden weiter; im Gegenteil, es schadet, denn so werden Studenten eben gerade nicht auf die sie (hoffentlich) erwartenden Anforderungen des Berufslebens vorbereitet. Natürlich ist die Zuschreibung einer am Markt verfügbaren Michelangelo-Zeichnung ein äußerst heikles Unterfangen, das kritisch betrieben und noch kritischer diskutiert werden muss. Aber: pauschale Kunsthistorikerstammtisch-Vorurteile gegen die fremde Welt von Museum und Handel nutzen dabei nicht.
Die Verständigung zwischen Kunstgeschichte an der Universität und Kunstgeschichte am Museum ist in Wirklichkeit kein so großes Problem, gegenseitige Aufmerksamkeit und Respekt vorausgesetzt. Auf jeden Fall ist zu empfehlen, dass man mehr zusammenarbeitet, um sich besser kennenzulernen und zu verstehen.
Anmerkungen:
[1] Wie sehr das Problem der Reproduktion an der Universität im Vordergrund steht (und stehen muss), kann man zum Beispiel dem kürzlich erschienenen Zeitungsartikel von Wolfgang Kemp, "Die Andacht vor dem Lichtbild ist vorbei", FAZ, 9.9.2009. S. N 3, entnehmen.
[2] Siehe dazu im Ausstellungskatalog der besprochenen Ausstellung S. 28, Anm. 17, S. 29, Anm. 29 und Anm. 31 mit Verweis auf S. 145, Anm. 13 und 14. Ferner jüngst David Klemm, Italienische Zeichnungen 1450-1800. Katalog (= Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle. Kupferstichkabinett, Band 2), Köln u. a. 2009, S. 237 ff. (Eintrag "Michelangelo Buonarroti, Studienblatt").
[3] Peter Prange, Deutsche Zeichnungen 1450-1800. Katalog (= Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle. Kupferstichkabinett, Band 1), Köln u. a. 2007; David Klemm siehe oben.
[4] Sie mag sich beispielsweise in der "Einführung in das Studium der Kunstgeschichte" von Marcel Baumgartner, Köln 1998, S. 57, informieren, wo die Sachlage knapp und prägnant umrissen wird. Der dort zitierte Kommentar Erwin Panofskys zum Verhältnis von Kenner und Kunsthistoriker verweist einmal mehr darauf, dass die Ablehnung der Kennerschaft wohl als ein zeittypisches Phänomen der 1970er Jahre zu betrachten ist.
Von Christine Demele
Was eigentlich keiner besonderen Erwähnung bedarf: Zur kunsthistorischen Sorgfaltspflicht eines Universitätsangehörigen gehört selbstverständlich die Kenntnis des originalen Kunstwerks, soweit dieses erhalten und zugänglich ist, ebenso wie die Kenntnis sämtlicher publizierter wissenschaftlicher Argumente. [1]
Die von Martin Sonnabend beklagte Einseitigkeit der Rezension ist m. E. gerechtfertigt angesichts der Einseitigkeit, mit der das Ausstellungspublikum durch Katalog und Exponatbeischriften "aufgeklärt" wurde. Forschungsergebnisse von Alexander Perrig und Andreas Schumacher wurden dabei einfach zur Seite geschoben. Das Ausstellungspublikum durfte annehmen, dass die Autorschaft der als "Michelangelo" deklarierten Exponate zutreffend sei und die entsprechenden Deklarationen dem "aktuellen Forschungsstand" entsprächen; dass die ihnen widersprechenden Meinungen von der "internationalen Forschung" begründet widerlegt worden seien; dass die Zuschreibungsmethoden der in Frankfurt ansässigen Experten zu keinen nachvollziehbaren Schlussfolgerungen geführt hätten; dass die "Qualität" das wichtigste Argument für die Zuschreibung einer Zeichnung an Michelangelo sei; dass Qualität nur mittels Kennerschaft bestimmt werden könne, etc.
Meine Kritik zielte keineswegs nur auf die Vernachlässigung und Ausklammerung von Sekundärliteratur und neuester Forschungsergebnisse ab - wobei es diese angesichts der Tatsache zu unterstreichen gilt, dass Martin Sonnabend in Reaktion auf die kritische Besprechung seiner Ausstellung von Kia Vahland (Süddeutsche Zeitung, 21.4.09) im Online-Forum der SZ nochmal betonte, die Zuschreibungen würden dem aktuellen Forschungsstand folgen [2] - sondern betraf auch und insbesondere Sonnabends Zuschreibungsverfahren. [3] Nicht charakteristische Eigenheiten und Konstanten von Michelangelos zeichnerischem Individualstil stehen dabei im Vordergrund, sondern als entscheidendes Kriterium für seine Zuschreibungen an diesen Künstler nennt Sonnabend die "Qualität" der Zeichnungen. [4] Doch "Qualität" kann wohl kaum als individuelles Erkennungsmerkmal gelten, das einzig Michelangelos Zeichnungen eigen ist. Im Übrigen werden nicht wenige der von Martin Sonnabend (teilweise oder ganz) als Meisterzeichnungen Michelangelos deklarierten Blätter von Experten wie Alexander Perrig oder Andreas Schumacher für Schülerzeichnungen gehalten.
Alexander Perrig hat als einer der wenigen Zeichnungsspezialisten mit seiner anhand der Originale (!) entwickelten Methode der Strichbildanalyse [5] ein nicht nur in meinen Augen unverzichtbares methodisches Instrument für die Zeichnungswissenschaft entwickelt. [6] Dieses hat sich bereits als so fruchtbar erwiesen, dass es in einem viel weiteren Feld Anwendung gefunden hat, als der Autor selbst für möglich hielt. Obwohl nur anhand der Zeichnungen des "Michelangelo-Corpus" entwickelt, wurde inzwischen u. a. auch bei der Erforschung von Zeichnungen des 20. Jahrhunderts auf die Strichbildanalyse und ihre spezifische Terminologie zurückgegriffen. [7]
Meiner begründeten und sachlichen Kritik an seiner Ausstellung setzt Martin Sonnabend falsche Behauptungen sowohl über mich als auch über Alexander Perrig entgegen. Zwar ist meine Person hier eigentlich nicht von Belang, aber richtigstellen möchte ich das Wichtigste dann doch in aller Kürze: ich habe die umstrittenen Zeichnungen (und nicht nur sie) im Original gesehen und die verschiedenen Argumente daran überprüft. Deutlich möchte ich Sonnabends Behauptung zurückweisen, ich hätte "angesehene Kollegen der Korruption verdächtigt" und den Print Room des British Museum beschuldigt "aus Eigeninteresse und wider besseres Wissen falsche Behauptungen aufzustellen".
Was den Vorwurf gegen Alexander Perrig betrifft, er habe sich grundsätzlich "das Gespräch mit den Kuratoren vor Ort und anderen Kennern versagt", so erfährt man von Perrig selbst das genaue Gegenteil: seit dem Erscheinen seiner ersten Michelangelo-Aufsätze sei das Gespräch mit ihm gemieden worden. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte aufzurollen, wie mit Alexander Perrig und seinen Forschungsergebnissen in den letzten fast 50 Jahren umgegangen wurde. [8] Ein aktueller Fakt ist jedoch, dass auch in der Vorbereitung der Frankfurter Ausstellung das Gespräch mit dem vor Ort ansässigen emeritierten Universitätsprofessor nicht gesucht wurde. Dabei bietet sich die von Sonnabend geforderte stärkere Zusammenarbeit mit universitären Forschern doch gerade auch im Vorfeld von Ausstellungen an.
Prinzipiell steht einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Museum und Universität - die ich im Übrigen selbst praktiziere - sicher nichts entgegen, im Gegenteil: sie wäre zu begrüßen.
Anmerkungen:
[1] Sollte es einmal nicht möglich gewesen sein, das Original zu sichten, findet man gewöhnlich einen entsprechenden Hinweis im Text, aber nicht im umgekehrten Fall.
[2] Martin Sonnabend, Streit um Michelangelo, 23. April 2009. Beitrag im SZ online Forum http://www.sueddeutsche.de/service/559/466144/text/10 (Stand: 27.9.2009).
[3] Vgl. Martin Sonnabend: Michelangelo. Zeichnungen und Zuschreibungen, Petersberg 2009, S. 10-26.
[4] Ebd., S. 25.
[5] Vgl. Alexander Perrig, Michelangelo-Studien I. Michelangelo und die Zeichnungswissenschaft - Ein methodologischer Versuch, Frankfurt am Main 1976.
[6] Vgl. zuletzt Andreas Schumachers Fazit zur Strichbildanalyse in: Andreas Schumacher, Michelangelos Teste Divine. Idealbildnisse als Exempla der Zeichenkunst, Münster 2007, S. 278.
[7] Vgl. etwa Erika Költzsch, Zur kategorialen Bestimmung der Bildhauerzeichnung, in: Figura docet. Die Gestalt des Menschen in der Handzeichnung deutscher Bildhauer nach 1945, Saarbrücken 1984, S. 183-200; Franz-Joachim Verspohl, Plastik = Alles: Zu den 4 Büchern aus: "Projekt Westmensch" von Joseph Beuys, in: Joseph Beuys. 4 Bücher aus: "Projekt Westmensch" 1958, Köln/New York 1993, S. 8-28, u. a.
[8] Perrig weiß z. B. zu berichten (schriftlich, 27.9.09), dass sich im März 1975 die Sunday Times anlässlich der Michelangelo-Jubiläumsausstellung im British Museum bemüht hatte, die Ausstellungskuratoren und andere britische Michelangelo-Zeichnungsspezialisten zu einem Gespräch mit ihm einzuladen und dass sie lauter Absagen erhielt, deren Begründungen in Form von Verbalinjurien gegen Perrig man in einem ganzseitigen Artikel der Sunday Times vom 13. April 1975 unter dem Titel "Michelangelo: How many of the drawings are really his?" nachlesen könne. Zwischen 1964 und 2008 sei er zu keinem einzigen der zahlreichen Michelangelo-Symposien eingeladen worden. 2008 seien dann zwei Einladungen wohl aus Rücksicht auf Berührungsängste anderer wieder annulliert worden.