Von Johannes Wischmeyer
Die Reformationsforschung im weitesten Sinne verdankt dem Blick auf die frühneuzeitliche Religionsgeschichte Ostmitteleuropas wichtige neue Impulse. Zwar haben vereindeutigende Narrative wie etwa das lange gepflegte Bild der polnisch-litauischen Wahlmonarchie als eines "Reiches ohne Scheiterhaufen" ihre Eingängigkeit verloren. Doch die im ostmitteleuropäischen Raum beinahe überall zu beobachtende konfessionelle und religiöse Pluralität erweckt bleibendes Interesse: Konfessionelle Uniformierungsmuster aus Westeuropa und dem Hl. Römischen Reich wurden vergleichsweise spät aufgegriffen. Mehrkonfessionelle Arrangements innerhalb eines Territoriums, vorübergehend oder dauerhaft, spielten kaum irgendwo sonst in Europa eine ähnlich wichtige Rolle. Charakteristisch ist zudem, dass bereits vor dem Ansetzen der protestantischen Reformationen des 16. Jahrhunderts mehr als ein Akteur die Bühne der christlichen Religion für sich beansprucht hatte. Diarmaid MacCulloch hat dies im Auftaktkapitel zu seiner magistralen Reformationsgeschichte eindrücklich anhand der Böhmischen Utraquisten geschildert; in gleicher Weise ist auf die Orthodoxen in den östlichen Regionen Polen-Litauens oder in Siebenbürgen hinzuweisen. [1]
Eine Reihe von Modellen wurde bemüht, um die komplexen religiösen, sozialen und kulturellen Verhältnisse des ostmitteleuropäischen Raumes und die hierauf reagierenden, regional ganz unterschiedlichen religionsrechtlichen und politischen Lösungen zu erklären. Den prominentesten Platz nimmt wohl das Konfessionalisierungsparadigma ein. Bei aller Skepsis gegenüber einer unmodifizierten Anwendung und trotz der sich verfestigenden Sicht, dass Aspekte der ökonomischen und politischen Modernisierung ebenso wie eine mit der Konfessionalisierung verbundene Sozialdiziplinierung im Fall Ostmitteleuropas nur eine geringe Rolle spielten, traut man ihm inzwischen durchaus eine gewisse Erschließungskraft zu. [2]
Bleibende Uneindeutigkeiten hebt demgegenüber die Formel eines "zentraleuropäischen Multikonfessionalismus"[3] hervor. Wo allerdings den ostmitteleuropäischen Territorien zu einseitig eine besondere Erfahrung in der Bewältigung von Situationen religiöser Diversität zugeschrieben wird, kehren überwunden geglaubte ideologische Vereinnahmungen zurück. Um ein ideenpolitisch aufgeladenes Verständnis von Toleranz zu vermeiden, das fälschlich ein philosophisches oder religiöses Fundament der Anerkennung divergenter Religiosität suggeriert, wurde mittlerweile auch für den ostmitteleuropäischen Raum der Begriff der "Konvivenz" ins Spiel gebracht.
Die aktuelle Forschung steht in jedem Fall vor der Herausforderung, das Ostmitteleuropa der Frühen Neuzeit als einen transkulturellen Kommunikationsraum ernstzunehmen [4], dabei aber mehr über die jeweils sehr distinkten konfessionskulturellen Prägungen bzw. Identitäten der einzelnen Gemeinschaften im miteinander geteilten konfessionellen Raum herauszufinden. [5] Diese Aufgabe wird nicht leichter dadurch, dass die konfessionellen Theologien in der Regel divergente, letzten Endes nicht zu versöhnende Konzeptionen von Einheit gegeneinander ins Feld führten.
Die Autoren dieses Rezensionsforums sind der Bitte nachgekommen, anhand einer Auswahl besonders wichtiger aktueller Publikationen zu einzelnen ostmitteleuropäischen Territorien ihre Sicht auf die Forschungslage zu schildern, mit einem speziellen Blick auf die jeweiligen konzeptionellen Diskussionen über Reformation und konfessionelles Zeitalter.
Bis in die jüngste Zeit waren herablassende Kommentare über statisch an nationalen, sprachlichen und konfessionellen Grenzen orientierte Forschungstraditionen der osteuropäischen Historiographie auch auf dem Feld der Reformationsgeschichte nicht selten. Hierzu gibt es aber immer weniger Anlass, wie dieses FORUM zeigt: Vor Ort und international betriebene Geschichtsschreibung gehen zunehmend Hand in Hand, sie partizipieren an denselben Fragestellungen. Transfer- und Vergleichsperspektiven werden immer beliebter und befördern Konvergenzen. Für viele jüngere Reformationshistoriker aus den baltischen Staaten, aus Polen, Ungarn, Rumänien, Tschechien und der Slowakei, Österreich, Slowenien und Kroatien - auch für einige der Autoren dieses FORUMs - ist es inzwischen selbstverständlich, bereits in den Qualifikationsarbeiten die Herkunftsgrenzen programmatisch zu überschreiten. Ebenso stellt man sich den teilweise problematischen Aspekten der eigenen historiographischen Tradition. Dadurch bleibt auch die Diskussion über Periodisierungsschemata und zentrale konzeptionelle Begrifflichkeiten lebendig. Die hierzulande in der Reformationsforschung oft allzu gut eingespielte Arbeitsteilung zwischen (von Theologen betriebener) "Kirchengeschichte" und "Allgemeinhistorie" mit der Folge beiderseitiger Interessenlimitierungen greift in Ostmitteleuropa wissenschaftsorganisatorisch weniger stark. Mehrere der Forschungsüberblicke weisen auf die besonders wichtige Rolle von Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte hin, von deren analytischem Instrumentarium neuere Publikationen nicht nur mit frömmigkeitsgeschichtlicher Ausrichtung profitieren.
Einige übergreifende Gesichtspunkte stellen sich, in aller Vorläufigkeit, heraus: Das Interesse an den internationalen Verflechtungen, ohne welche die Vielfalt religionskultureller Phänomene im ostmitteleuropäischen Raum während des konfessionellen Zeitalters wohl nicht denkbar ist, ist stark gestiegen. Übergreifende Konzeptionen zur Erklärung des Reformationsprozesses und der Konfessionsbildung werden teilweise herangezogen, bleiben jedoch stets instrumentell. Selbst die beinahe überall hervorgehobene überragende Bedeutung des Adels - dessen unterschiedliche religiöse und politische Rollen im lokalen und im gesamtterritorialen Maßstab freilich zunehmend differenziert betrachtet werden - führt nicht zu einer emphatischen Adaption des Konzepts einer "Adelskonfessionalisierung". Deutlich wird der Eigensinn der politischen und gelehrten Akteure bei der Bestimmung ihrer theologischen Koordinaten hervorgehoben; umso plausibler, da in Ostmitteleuropa - anders als im Reich - über längere Zeit nicht einmal das lutherische Bekenntnis den attraktiven Status einer Rechtswirkung besaß. Unbestritten scheint demgegenüber weithin die Bedeutung des Konzepts ethnischer Zugehörigkeit, dessen Abgrenzungswirkung manchmal stärker wirkte als eine Verbundenheit durch die gemeinsame Konfession.
Der jeweilige Forschungsstand zu den teilweise verwirrend vielen religiösen Denominationen des Raumes bleibt von unterschiedlicher Qualität. Während beispielsweise die auch in ideengeschichtlicher Hinsicht besonders interessierenden Antitrinitarier seit längerem im Fokus stehen, gibt es bei den großen Konfessionen deutliche Forschungslücken. In den vergangenen beiden Jahrzehnten war hier vor allem eine Zuwendung zu dem imposanten, doch wegen der Behinderungen unter kommunistischer Herrschaft vergleichsweise wenig erforschten Erbe des Barockkatholizismus zu beobachten.
Mehrere der Autoren weisen darauf hin, dass die künftige Erforschung der protestantischen Gemeinschaften sich u.a. den teilweise gut überlieferten Synodalakten und Kirchenmatrikeln zuwenden muss, um näheren Aufschluss über binnenkonfessionelle Praktiken und Arrangements der Koexistenz im konfessionellen Raum zu erhalten. Bereits eingesetzt hat - wie mehrere der Beiträge bekunden - ein Prozess der Rekonstruktion des theologischen Profils der einheimischen Reformatoren. Er kann von der ungleich detaillierter erschlossenen Theologiegeschichtsforschung in Westeuropa und im Reich profitieren, aber mittelfristig womöglich auch allgemein zu einem differenzierteren Bild der theologischen Typen und konfessionellen Schattierungen im Reformationszeitalter beitragen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Alfons Brüning: Unio non est unitas. Polen-Litauens Weg im konfessionellen Zeitalter (1569-1648), Wiesbaden 2008.
[2] Vgl. nur Stefan Plaggenborg: Konfessionalisierung in Osteuropa im 17. Jahrhundert. Zur Reichweite eines Forschungskonzeptes, in: Bohemia 44 (2003), 3-28; Jörg Deventer (Hg.): Konfessionelle Formierungsprozesse im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa. Vorträge und Studien, Leipzig 2006; Alfons Brüning: Confessionalization in the Slavia Orthodoxa (Belorussia, Ukraine, Russia)? - Potential and Limits of a Western Historiographical Concept, in: Thomas Bremer (ed.): Religion and the Conceptual Boundary in Central and Eastern Europe, London 2008), 65-96.
[3] Howard Louthan: Introduction. Between Conflict and Concord: the Challenge of Religious Diversity in Central Europe, in: ders. / Gary B. Cohen / Franz A. J. Szabo (eds.), Diversity and Dissent: negotiating religious difference in Central Europe, 1500-1800, New York 2011, 1-9.
[4] Stefan Rohdewald / David Frick / Stefan Wiederkehr (Hgg.): Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.-18. Jahrhundert) / Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural ommunication Zone (15th-18th Centuries), Wiesbaden 2007.
[5] Vgl. nur Maria Craciun / Ovidio Ghitta / Graene Murdock (eds.): Confessional Identity in East-Central Europe, Aldershot 2002; Evelin Wetter (Hg.): Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa, Stuttgart 2008.