sehepunkte 18 (2018), Nr. 11

Joachim Bahlcke / Beate Störtkuhl / Matthias Weber (Hgg.): Der Luthereffekt im östlichen Europa

Als eine der drei nationalen Sonderausstellungen zum Reformationsjubiläum 2017 (neben Wittenberg und der Wartburg) zeigte das Deutsche Historische Museum Berlin eine Schau unter dem Titel "Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt", die besonders die weltweite Verbreitung der aus der Reformation hervorgehenden evangelischen Kirchen und Glaubensgemeinschaften thematisierte. In der Vorbereitungsphase der Ausstellung fand im März 2016 am DHM in Zusammenarbeit mit dem Historischen Seminar der Universität Stuttgart und dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa Oldenburg eine Konferenz statt, die den Begriff aufnahm und sich besonders der Resonanz und Folgewirkung der reformatorischen Bewegung im östlichen Europa widmete. Deren Beiträge liegen nun in zwei illustrierten Sammelbänden auf Deutsch und in englischer Übersetzung vor. Ob wirklich, wie die Herausgeber bereits im zweiten Satz ihres Vorworts beklagen, das östliche Europa "im traditionell eher nach Westen orientierten Geschichts- und Kulturbewusstsein der Deutschen kaum präsent ist", mag man in Frage stellen. Nach dem freilich subjektiven Eindruck des Rezensenten transportiert der Strang des deutschen Geschichtsbewusstseins, der sich aus der Erinnerung an die durch Krieg, Flucht, Vertreibung und Auswanderung zu Ende gegangenen "Kultur der Deutschen im östlichen Europa" speist, ein durchaus lebendiges Bild der konfessionellen Vielfalt der Region.

Da dem Band über das knappe Vorwort (eine Seite) hinaus eine Einleitung fehlt, bleibt leider unklar, wie die Herausgeber den "Luthereffekt" fassen und gegenüber anderen reformatorischen Strömungen abgrenzen, zumal sie ihn selbst als "plakative Wortschöpfung" bezeichnen. Auch die den thematischen Abschnitten vorangestellte Überblicksdarstellung von Winfried Eberhard zu "Reformation und Luthertum im östlichen Europa" hilft hier nicht weiter. Eberhard behandelt die Verbindung von konfessionellen und ständischen Interessenlagen in Polen, Ungarn und Böhmen. Er setzt dabei einen Schwerpunkt auf die pauschal als "Luthertum" bezeichnete Wittenberger Tradition, bezieht aber den erheblichen reformierten Einfluss und den Utraquismus mit ein, während Antitrinitarier, Böhmische Brüder und andere Gruppen wie die mährischen Brüder kaum Berücksichtigung finden. Worin der "Luthereffekt" bestand, muss also induktiv aus den folgenden Beiträgen von durchweg renommierten Expertinnen und Experten aus Deutschland, Polen, Ungarn, Estland und Litauen erschlossen werden.

Jeweils drei bis sechs Aufsätze werden in fünf Themenbereichen zusammengefasst. Auch die Gruppierung und Zuordnung der Beiträge verstärkt den Eindruck der konzeptionellen Unterbestimmtheit des Bandes: Die Beiträge von durchaus differierender Qualität, von gut abgehangenen Überblicken bis zu detaillierten Quellenstudien, sind nicht immer nachvollziehbar zusammengestellt und bieten eine Vielzahl von Perspektiven. Nicht alle der 24 Beiträge (vgl. das Inhaltsverzeichnis) können hier im Einzelnen besprochen werden, aber einige verleihen dem titelgebenden Begriff etwas Kontur. So zeigt im Abschnitt "Konkurrenz und Toleranz" die originelle Studie von Edith Szegedi über die Antitrinitarier in Siebenbürgen und deren Lutherrezeption durchaus einen mittelbaren "Effekt" auf, während Hans-Jürgen Bömelburg in seiner Untersuchung zu den Lutheranern in Polen das konfessionelle Profil dieser Gruppierung im 17. und 18. Jahrhundert präzise in den Blick nimmt und Kolja Lichy die Rolle des Luthertums für die katholischen Debatten in Polen eher als Katalysator und Chiffre für Häresie denn als kontroverstheologisches Gegenüber bestimmt. Kęstutis Daugirdas zeigt in seiner Fallstudie zu Nikolaus Radziwiłł/Radvilas, die sich im Abschnitt "Reiche, Länder und Regionen" findet, aber wie viele andere genauso gut und richtig in der vorangehenden oder nachfolgenden Abteilung angesiedelt wäre, die Pluriformität und Parallelität heterogener reformatorischer Einflüsse und Verbindungen zu dieser Schlüsselfigur der litauischen Reformation. Zwei Studien zu Ungarn, Eva Kowalská zur innerevangelischen Rivalität vor allem im Fall der "Galeerenprozesse" der 1670er Jahre und Péter Ötvös zur Aufnahme österreichischer Lutheraner auf den Besitzungen der ungarischen Familie Batthyany, beleuchten aussagekräftige Einzelaspekte.

Unter dem Abschnitt "Ideen und Wissenstransfer" finden sich u.a. Beiträge von Detlef Haberland und dem Mitherausgeber Joachim Bahlcke zu reformatorischem Buchdruck im Allgemeinen und zu buchdruckerischen Untergrundaktivitäten in der Zeit der Rekatholisierung. Nennenswerte inhaltliche Ergänzungen erfahren sie durch die Einzelstudie von Grażyna Jurkowlaniec über polnische Bibelübersetzungen und die konfessionelle Codierung von deren Illustrationen im folgenden Abschnitt "Architektur und visuelle Medien" und, im letzten Abschnitt, durch den Beitrag von Maria Skiba und Frank Pschichholz über polnische und litauische reformatorische Lieder und deren Druckgeschichte. Im Themenfeld Architektur profitiert der Band - bei den Aufsätzen von Jan Harasimowicz und Krista Kodres zum protestantischen Kirchenbau auf dem Gebiet des heutigen Polen und im Ostseeraum - besonders von seinem großzügigen Format und der reichen Bebilderung. Der letzte Abschnitt "Rezeption und Erinnerung" versammelt sechs Beiträge vornehmlich zum 19./20. Jahrhundert. Sie fallen aus dem Zusammenhang der vorherigen Teile des Bandes mehr oder weniger stark heraus, bieten aber mit dem markanten Aspekt der nationalen Aufladung der lutherischen Konfession und deren scharfem Traditionsabriss nach 1945 Themenzugänge, die zweifellos zum Gesamtthema des Bandes hinzugehören.

Die großzügige Illustrierung aller Beiträge, eine Bibliographie von 50 Seiten Umfang, ein Glossar (mit deutlichem Schwerpunkt auf Begriffen der polnischen Kirchengeschichte), ein Personen- und ein Ortsregister (mit Konkordanz der historischen und heutigen Namen) verleihen dem Band einen deutlichen Mehrwert. Gleichwohl hinterlässt er den Rezensenten etwas ratlos: worin denn der "Luthereffekt" im östlichen Europa bestanden haben mag, bleibt trotz der Fülle der faszinierenden Einzelaspekte aus mehr als vier Jahrhunderten nur in Ansätzen erkennbar. Viele der Aufsätze tragen zwar zur Vertiefung und Präzisierung des Bildes bei, aber letztlich bedarf es zur Analyse der komplexen konfessionell-religiösen Verhältnisse in Ostmitteleuropa mehr als eines plakativen Begriffs.

Rezension über:

Joachim Bahlcke / Beate Störtkuhl / Matthias Weber (Hgg.): Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte - Kultur - Erinnerung (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 64), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, 379 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-11-050159-9, EUR 29,95

Rezension von:
Henning P. Jürgens
Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Henning P. Jürgens: Rezension von: Joachim Bahlcke / Beate Störtkuhl / Matthias Weber (Hgg.): Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte - Kultur - Erinnerung, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 11 [15.11.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/11/31225.html


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