Von Hedwig Richter
Im August 2020 ist mein Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre" erschienen, das die deutsche Demokratiegeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart darstellt. In der Einleitung mache ich den spezifischen Ansatz des Buches deutlich. Es analysiert die Demokratiegeschichte von der Idee der "Menschenwürde" her (S. 10). Entscheidend für die moderne Demokratie war, so der Ausgangspunkt, die Idee der "Gleichheit" für alle, also der (sich immer wieder als hochproblematisch erweisende) Anspruch auf Universalität: Menschenwürde stehe gleichermaßen allen Menschen zu. Um der Frage auf den Grund zu kommen, wie sich dieses Konzept von Demokratie im Laufe von zwei Jahrhunderten verändert hat, ist der Körper zentral. Hunger etwa oder häusliche Gewalt stehen diametral zur Menschenwürde. Das ist eine Geschichte, die nicht nur die Welt der Parlamente und politischen Ideen umfasst, sondern "den ganzen Menschen mit Leib und Seele betrifft" (S. 11). Christian Jansen hat in seiner Rezension dieses Konzept einleitend klar dargestellt und spricht von einem "innovativen Ansatz".
Mein Buch geht einen neuen Weg. Das ist nur möglich, weil ich Stränge der Forschung zusammenbringe, die oft getrennt werden, wie die Parlamentarismusgeschichte mit der Körpergeschichte oder differenzierungstheoretische Ansätze mit der Geschlechtergeschichte. Wie Jansen zu Recht anmerkt, habe ich in meinem Buch nicht die komplette Literatur berücksichtigt, die sich mit den verschiedenen Feldern in den über 200 Jahren Geschichte auseinandersetzt. Das trifft insbesondere auf die Arbeiten aus der Körper- und Gefühlsgeschichte zu. Denn die Verbindung von Demokratiegeschichte mit diesen theoretisch ausgereiften Ansätzen steht eher am Anfang. Wichtig wäre auch eine Einbeziehung der Forschung zu den Menschenrechten, etwa von Christoph Menke oder Stefan-Ludwig Hoffmann, die anders als ich dem 19. Jahrhundert in der Geschichte der Menschenrechte wenig Bedeutung beimessen.
Mein weiter Zugriff auf die Demokratiegeschichte ist gewagt. Doch nur diese Breite erlaubt es mir, die Geschichte der Demokratie nicht unreflektiert als Geschichte von Männern zu erzählen, nur sie erlaubt es, die sozialen Dimensionen und Praktiken der Demokratisierung zu verdeutlichen und Demokratisierung als eine "Inklusionsrevolution" (Rudolf Stichweh) im politischen ebenso wie im sozialen System zu begreifen - die oft mit brutalen Exklusionen zusammenging. Nur so konnte ich die höchst unterschiedlichen Quellen von Demokratie aufzeigen, zu denen Disziplinierungsinteressen von herrschenden Eliten ebenso gehören wie die Empörung unterdrückter Arbeiterinnen und in der sozialstaatliche Bemühungen ebensowenig ausgeblendet werden wie populistische Visionen. Demokratiegeschichte, das betone ich, hat ihre dunklen Seiten. Dass sich aus dem Anspruch auf Gleichheit eine freiheitliche Demokratie entwickelt, ist alles andere als selbstverständlich. Nirgendwo wird das so deutlich wie in der Geschichte der bundesrepublikanischen Demokratie, die ganz wesentlich eine Lerngeschichte aus dem Terror des Nationalsozialismus ist. Demokratie ist nicht automatisch eine freiheitliche Demokratie. Die fehlende Berücksichtigung dieser Differenz führt bei beiden Rezensenten zu Fehlinterpretationen.
Ein Teil der Kritik von Christian Jansen und Andreas Wirsching trifft aber schon deswegen nicht ins Schwarze, weil sie recht häufig unzutreffende Behauptungen über mein Buch aufstellen. Nur zwei Beispiele seien hier genannt: Christian Jansen schreibt, ich bezeichnete das Kaiserreich als "Demokratie" - mit Verweis auf eine Überschrift für die Weimarer Republik (S. 186). Andreas Wirsching wirft mir vor, der Weberaufstand von 1844 werde bei mir "als demokratisch motiviert missverstanden". Tatsächlich aber schreibe ich: Die Weber "verlangten die Aufrechterhaltung der alten Ordnung" (S. 61). Oft arbeiten sich die Rezensenten an Zerrbildern meiner Argumente ab. Besonders augenfällig ist das bei Andreas Wirsching, der gerne mit verkürzten Zitaten arbeitet und so den Inhalt der Aussagen verfehlt. Schon bei der Darstellung meines Demokratiekonzeptes zeigt sich bei ihm anders als bei Christian Jansen ein gewisser Unwille zur sachlichen Auseinandersetzung: Er sieht in meiner These von den unterschiedlichen Quellen der Demokratie einen Mangel an "begrifflicher Klarheit" und behauptet merkwürdigerweise, bei mir habe "die Demokratie vor allem 'religiöse Wurzeln'".
Ich will mich hier aber auf jene Punkte in den Rezensionen konzentrieren, die entscheidende Sachfragen aufwerfen und zu einer fachlichen Auseinandersetzung einladen.
Meine Methode wird in beiden Rezensionen kritisiert. Dabei weise ich ausdrücklich darauf hin, keine Begriffsgeschichte zu schreiben (S. 10). Vielmehr verbinde ich die sich verändernden Vorstellungen von Gleichheit und Menschenwürde mit den sozialen Praktiken und Inklusionsprozessen. Wer sich hingegen auf den Begriff "Demokratie" fokussiert, wird zwar auf eine problematische Figur wie Ernst Moritz Arndt stoßen, jedoch viele der Väter und Mütter der Demokratie eher vermissen - von Madison über Friedrich Christoph Dahlmann bis hin zu Anna Pappritz. Denn der Begriff wurde häufig auch pejorativ und oft im Gegensatz zu "Republik" genutzt - oder einfach gar nicht verwendet. [1] So werden in meinem Ansatz Wurzeln von Demokratie deutlich, die Jansen und Wirsching nicht kennen: etwa dass im späten 18. Jahrhundert progressive Intellektuelle deutsche Traditionen von Demokratie konstruierten (S. 29). Christian Jansen schreibt, dergleichen entstehe erst in den 1850er Jahren und in der Fußnote bei mir finde sich kein Nachweis. Das ist nicht richtig, denn bei dem von mir genannten Steffen Martus ist von einer "Germanophilie" im 18. Jahrhundert die Rede, die "auf höchst aktuellen Ideen von Vaterland, Gleichheit, Patriotismus oder Menschlichkeit" beruhe. [2] Da ich ausdrücklich keine Begriffsgeschichte schreibe, ist auch der Hinweis von Andreas Wirsching irreführend, dass ich bei Kant "Republikanismus und Demokratie" nicht unterscheiden könne - beides gehört in meine Demokratiegeschichte.
Die Rezensenten wollen Klarheit, wo die Geschichte sie nicht hergibt. Doch die politikwissenschaftliche und häufig spezifisch bundesrepublikanische Begriffswelt aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts behindert in ihrer Ahistorizität zuweilen eher eine historische Analyse, als dass sie diese schärft. Das gilt auch für die Unterscheidung von "Demos" und "Ethnos", die beide Rezensenten bei mir vermissen. So wichtig für heutige Demokratien diese Differenz ist, so wenig prägte sie die Demokratiegeschichte. Die französischen Revolutionäre verstanden die viel gepriesene egalitäre "Nation" keineswegs als ein Gleichheitskonzept für alle Menschen. Die USA blieben bis weit ins 20. Jahrhundert eine zutiefst rassistische, häufig dezidiert fremdenfeindliche Demokratie. Anders als die rechtsstaatlich schwache US-Demokratie des 19. Jahrhunderts setzte der starke Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs hingegen die garantierten Rechtsgleichheiten für Männer immer wieder durch: Trotz aller Diskriminierungen etwa konnten die als fremde "Nation" geltenden Polen ihr Wahlrecht ausüben und mit eigenen Kandidaten ins Parlament einziehen. Christian Jansen behauptet dabei, dass im Kaiserreich die Grundrechte allein deswegen nicht in die Verfassung aufgenommen worden seien, weil Bismarck "das verhindert hat". Die neuere Forschung findet dafür weit differenziertere Erklärungen. [3] Wirschings Abweisung eines zunehmenden Bedeutungsgewinns des Reichstags wiederum ignoriert die Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte zum Thema. [4]
Trotz aller nationalen und regionalen Unterschiede gibt es eben eine bemerkenswerte transatlantische Parallelität in den Demokratisierungsprozessen. Im Detail und dank intensiver Archivarbeit kann ich das aufzeigen: Partizipationsrechte etwa wurden um 1800 meistens von den Herrschenden installiert und kaum von unten erkämpft; auch breitete sich das Wahlrecht im 19. und 20. Jahrhundert in vielen nordatlantischen Ländern oft innerhalb von wenigen Jahren etwa gleich weit aus; die Konjunkturen der "sozialen Frage" und die Anprangerung von Armut beförderten in vielen Ländern zur gleichen Zeit die Demokratisierung; und auch ein Konsens für Massenpartizipation bildete sich international fast zeitgleich im letzten Drittel des 19. Jahrhundert heraus etc. Bei all dem werden einmal mehr die heterogenen Quellen von Demokratie deutlich.
Dass mir Christian Jansen vorwirft, ich würde die einschlägige Forschung zur Frauengeschichte nicht beachten (und dabei fälschlicher Weise eine Autorin nennt, die ich sehr wohl berücksichtige), ist erstaunlich. Erstaunlich auch Wirschings Kritik, ich würde dem "so wichtigen und aktuellen Forschungsfelder Demokratie und Geschlecht" nicht gerecht. Das erscheint mir angesichts seiner nicht ersichtlichen Leistungen auf diesem Feld als harsches Urteil. Gleichwohl stimme ich den Rezensenten zu: Es gibt hier ein großes Potenzial, das ich nicht annähernd ausgeschöpft habe.
So sehr Jansen und Wirsching Geschlechter- und Frauengeschichte in abstracto feiern, so lächerlich erscheint sie ihnen, wenn sie auftaucht. Die Arbeit der weiblichen Abgeordneten in der Weimarer Republik verkürzt Andreas Wirsching höhnisch: "'Parlamentarierinnen aus unterschiedlichen Fraktionen' sorgten dafür, dass Kinder gut erzogen wurden (215)". Tatsächlich steht bei mir, dass die Parlamentarierinnen dafür sorgten, "dass Kinder ein Recht auf eine gute Erziehung erhielten [...]. Minderjährige wurden als selbständige Subjekte mit eigenen Rechten anerkannt" (S. 215). Und es folgen in meinem Buch weitere Ausführungen zu den sozialstaatlichen Aufbrüchen in Weimar, zur Einführung der verpflichtenden egalitären vierjährigen Grundschule etwa oder zum Anstieg der Ausgaben für die Sozialversicherung im Vergleich zur Vorkriegszeit um 500 Prozent. All das passt freilich nicht in Wirschings Geschichtsbild - der neueren Forschung zum Trotz. [5]
Auch beim Thema Pille zeigt sich eine gewisse Befangenheit der Rezensenten gegenüber der Geschlechtergeschichte. Andreas Wirsching erklärt, meine Ausführungen dazu seien "ohne weitere Reflexion affirmativ-konsumgeschichtlich". Anstatt zu lesen, wie in meiner Darstellung die Personenrechte sich am Körper manifestieren und wie Gleichheit über den Körper soziale Relevanz gewinnt, wirft er mir vor, "Person" und "Körper" zu vermengen. An dieser Stelle aber verdeutliche ich, wie Körper und Körperpolitik einmal mehr die Demokratisierung prägen: Das spezifische Emanzipationspotential für Frauen, das durch die Möglichkeit einer sicheren Geburtenkontrolle entsteht, trug auf lange Sicht zu einer "Neujustierung der Geschlechterordnung" bei (S. 296). Dabei zeige ich unter anderem die Korrelationen von Geburtenrückgang, höherem Lebensalter der Eltern bei Geburt der Kinder und steigenden Bildungsmöglichkeiten mit der wachsenden Beteiligung von Frauen im Politikbetrieb (S. 294-297). Christian Jansen wiederum findet es höchst unangemessen, dass Pille und Gewalt in der Ehe neben der ihm bekannten Demokratiegeschichte mit Willy Brandt und Jugendprotesten auftauchen. Doch genau darum geht es mir: die Geschichte der Demokratisierung zugleich als eine des sich wandelnden politischen Systems und des neuen Körperregimes verständlich werden zu lassen.
Auch bei der Rolle von Eliten fällt es beiden Rezensenten schwer, auf mein Argument einzugehen. So räume ich den unterschiedlichen Eliten ein großes Gewicht im Demokratisierungsprozess ein. Dass ich allerdings behaupte, allein die Eliten seien der Motor der Demokratisierung gewesen, ist falsch. Ich stelle freilich heraus, dass es analytisch nicht sinnvoll und sowieso empirisch nicht überzeugend ist, jeder Klasse und jeder Schicht nur ein streng determiniertes Set an Interessen zuzugestehen: die Unteren lehnen sich auf, die Oberen unterdrücken. Oft war es komplizierter. Dabei betone ich auch den wachsenden Einfluss der unteren Schichten und damit etwa die kaum zu überschätzende Bedeutung der Sozialdemokratie für die Demokratisierung in Deutschland (S. 59-161).
Immer wieder verweise ich auf Ambivalenzen: Denn ich schreibe nicht, dass Revolutionen "der Entwicklung der Demokratie meist geschadet" hätten, wie Christian Jansen behauptet. Gleich zu Beginn betone ich beispielsweise, wie wichtig die Französische Revolution war (S. 8). Die Angst vor Revolutionen führte bei den Herrschenden häufig dazu, Reformen einzuleiten; doch ebenso verhinderte die Obrigkeit unter Hinweis auf Revolutionen ein ums andere Mal Erneuerungen, um jede revolutionäre Regung im Keim zu ersticken. Dass es allein die Revolution von 1918/19 war, die das Frauenwahlrecht gebracht habe, was beide Rezensenten behaupten, berücksichtigt nicht die einschlägige Forschung, die längst gezeigt hat, dass beispielsweise die Frauenbewegung in Deutschland wie in anderen Ländern schon vor dem Ersten Weltkrieg stark war und dazu beitrug, den Weg zum Frauenwahlrecht zu ebnen. [6] In jedem Fall aber ist der Hinweis beider Rezensenten berechtigt, die oft dialektische Verflechtung von Revolution und Reform in der Demokratiegeschichte intensiver und weniger dichotomisch zu diskutieren.
Einer ernsthaften Erwägung bedarf auch der in beiden Rezensionen erhobene Vorwurf der Teleologie, der fachlich wohl schlimmste Vorwurf in der Geschichtswissenschaft. Hat meine Geschichte einer zunehmenden politischen und sozialen Inklusion nicht tatsächlich einen teleologischen Charakter? Um Fehlschlüsse zu vermeiden, kommt es indes darauf an, teleologisches Denken und die Analyse von Pfadabhängigkeiten und Bestimmungsgründen sozialer Prozesse nicht in eins zu setzen. Es überzeugt kaum, Zusammenhänge zwischen funktionaler Differenzierung, Wohlstandsanstieg, Bildung, Individualisierung und sozialer Inklusion rundweg abzustreiten. Dass etwa die Frauen um 1900 allmählich Gehör fanden und Teil der Inklusionsrevolution wurden, war nicht zuletzt Modernisierungs- und Differenzierungsprozessen wie der wachsenden (auch transnationalen) Öffentlichkeit, einem neuen Körperregime, dem sich ausdifferenzierenden Arbeitsmarkt oder sich entfaltenden politischen und materiellen Freiheiten zu verdanken.
Auf einen Punkt kommt Andreas Wirsching wieder und wieder zurück: auf die deutsche Andersartigkeit, die in seinem Weltbild in klarem Gegensatz zur "westlichen Welt" (von der er einleitend spricht) auch vor 1933 steht. Der Großteil der Forschung sieht das seit langem differenzierter, nicht nur was die Weimarer Republik betrifft. [7] Auch für das Kaiserreich zeigt eine Vielzahl an international vergleichenden Studien der letzten Jahrzehnte eher Parallelen als Dichotomien auf. [8] Wirsching hält hier mit wenigen anderen wie Heinrich-August Winkler beharrlich an einer veralteten (übrigens höchst teleologischen) Position fest. Geschichtspolitisch wäre es für den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte wichtig, sich hier für eine Reflexion und für die neueren Diskussionen zu öffnen. Stattdessen diffamiert er die Gegenposition als "neo-nationalistisch". Um diese These ins Ziel bringen zu können, greift er zur Kennzeichnung meiner Position zu einer besonders eigenwilligen Zusammenstellung von Zitaten. Zunächst unterstellt er mir ein kriegsverherrlichendes Zitat von 1914. Dann will er meine politische Gesinnung damit nachweisen, dass bei mir lediglich "vom Nationalsozialismus als einer 'Simplifizierung von Volksherrschaft' (222) die Rede sei und von einer 'Akzentverschiebung bei den Urnengängen' im Jahr 1933 (236)". Ein weiteres Zitat-Schnipsel folgt: "Gleichwohl 'griff das NS-Regime auf die partizipativen und sogar auf die revolutionär-demokratischen Bestände zurück' (237)." Damit behauptet Wirsching, ich unterscheide nicht zwischen Nationalsozialismus und liberaler Demokratie. Der vollständige Satz von der "Simplifizierung von Volksherrschaft" lautet bei mir jedoch: "Die Herrschaft der Nationalsozialisten bedeutete eine Simplifizierung von Volksherrschaft und ein Ausschalten der checks and balances, ein Triumph der Faust" (S. 222). Zu den Urnengängen im Nationalsozialismus unterschlägt Wirsching meine detaillierten Ausführungen über die NS-Wahlen, in denen ich von "massivem Terror" (S. 236) schon bei den ersten Wahlen am 5. März 1933 spreche. Für meine Argumentation ist es gleichwohl zentral, dass sich die NS-Diktatur mit Wahlen und einer angeblichen Form der Volkssouveränität legitimieren wollte. "Massenpolitisierung und Egalitätsideale waren wichtige Voraussetzungen des Faschismus" (S. 320), schreibe ich.
Wer nach Erklärungen für den NS-Terror sucht und für das Menschheitsverbrechen des Holocaust, sollte diese Ambivalenzen der Moderne nicht ausblenden, tiefer schürfen und den Nationalsozialismus nicht allein mit den "autoritären Eliten" begründen. Der NS ging nicht aus einer langen exotisch antidemokratischen Geschichte hervor, sondern aus einer modernen Demokratie, die einen großen partizipativen und demokratischen Traditionsbestand hatte. Das macht die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit mühsamer - und wesentlich beunruhigender.
Beim Zusammenhang von Nation und Demokratie berufe ich mich unter anderen auf Liah Greenfeld und Dieter Langewiesche. [9] Das Konzept von Nation plausibilisierte Gleichheit, weil Nation alle zu Bürgern Deutschlands (oder Frankreichs oder Italiens) machte, unabhängig von Stand und Geburt. Dieser Egalitätseffekt wurde nicht nur während der Französischen Revolution und dann europaweit 1848 beschworen. Vorstellungen von Nation trugen zudem zur Akzeptanz sozialstaatlicher Solidarität bei. Tatsächlich erwies sich Nation auch im 20. Jahrhundert als der einzig operative Ort, an dem Demokratie institutionalisiert werden konnte. Dass sich Nation zugleich zu einem aggressiven Exklusionsinstrument zu entwickeln vermag, das zeige ich ausführlich. Wie also soll man die gegenwärtigen Herausforderungen für liberale Demokratien und auch für Europa verstehen, wenn man diese Gemengelage von Nation und Demokratie, von Exklusion und Inklusion nicht zur Kenntnis nehmen will?
Meine Geschichte der Demokratie ist keine purifizierte Geschichte des "Westens". Es ist die höchst ambivalente Geschichte der Moderne, eine Geschichte des Ringens um Menschenwürde, es ist die unwahrscheinliche Entwicklung zur rechtsstaatlichen, liberalen Demokratie: zur besten Staatsform, so meine Überzeugung, die Deutschland je hatte. Demokratie, so eines meiner zentralen Argumente, hat stets auch das Potential zum Populismus, Faschismus oder auch zum Nationalsozialismus. Deswegen lebt die liberale Demokratie wesentlich von ihrer Selbstbeschränkung.
Die Diskussion über diese Zusammenhänge sollte auch historisch informiert geführt werden und dabei womöglich noch mitreflektieren, wie stark sie selbst in die Formierung ihres Gegenstandes verwoben ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zu den wechselnden Bedeutungen von "Demokratie" etwa Joanna Innes u. Mark Philip: Re-Imagining Democracy in the Age of Revolutions. America, France, Britain, Ireland 1750-1850. Oxford 2015.
[2] Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, 2. Aufl. Berlin 2015, S. 731.
[3] Vgl. Oliver Haardt: Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Darmstadt 2020, S. 207-210.
[4] Vgl. Margaret L. Anderson: Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany. Princeton 2000.
[5] Vgl. etwa Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburg 2014.
[6] Gisela Bock: Das politische Denken des Suffragismus: Deutschland um 1900 im internationalen Vergleich, in: dies.: Geschlechtergeschichten der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis. Göttingen 2014, S. 168-203 (zuerst 1999).
[7] Vgl. beispielhaft zur neueren Forschung in internationaler Perspektive demnächst Nadine Rossol u. Benjamin Ziemann (Hg.): Aufbruch und Abgrund. Das Handbuch der Weimarer Republik. Darmstadt 2021.
[8] Vgl. etwa Mareike König u. Élise Julien: Verfeindung und Verflechtung. Deutschland und Frankreich 1870-1918. Darmstadt 2019; Daniel T. Rodgers: Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age. New York 2000; Thomas Bender: A nation among nations. America's Place in World History. New York 2006.
[9] Liah Greenfeld: Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge 1993, S. 10; Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer: Europas Kriege in der Moderne. München 2019, S. 20.
Anmerkung der Redaktion:
Die Stellungnahme von Hedwig Richter bezieht sich auf zwei Rezensionen, die unabhängig voneinander entstanden sind und in unterschiedlichen Organen veröffentlicht wurden:
Der Beitrag von Christian Jansen wurde am 9.2.2021 auf HSozKult publiziert (URL: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49883).
Der Beitrag von Andreas Wirsching erschien in der März-Ausgabe der sehepunkte (15.3.2021; URL: http://www.sehepunkte.de/2021/03/34995.html).
Hedwig Richter hat ihre Stellungnahme in identischer Form sowohl bei HSozKult wie den sehepunkten zur Publikation eingereicht.
Andreas Wirsching hat auf eine Replik verzichtet.