Über die sogenannte New Left, die Neue Linke, wurde im Kontext des Umbruchsjahres "1968" und des damit verbundenen sozialen und kulturellen Modernisierungsschubes der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft schon vieles geschrieben. [1] Während das umfangreiche Werk des Namensgebers, des Soziologen C. Wright Mills [2], in der deutschsprachigen Forschungslandschaft eher zurückhaltend aufgenommen wurde, beschäftigt sich eine Fülle von Studien mit der 1968er "Kulturrevolution", ihren Protest- und Lebensformen und ihren Auswirkungen insbesondere auf die westlichen demokratischen Gesellschaften. Gleichwohl sind profunde Studien über die Ausdifferenzierung der Neuen Linken eher rar.
Die Neue Linke lässt sich auch als Chiffre für einen akademischen Marxismus [3] im Kontext der 1968er Ereignisse deuten, der die bürgerliche Gesellschaft mittels einer Gegenbewegung und -öffentlichkeit überwinden wollte. Nach der Lesart von David Bebnowski fungiert sie als lose verkoppelte Sammlungsbewegung unterschiedlicher marxistischer oder vulgärmarxistischer Strömungen, die dazu die Vorarbeit leisteten. Diese agierten jenseits der prädominanten sozialdemokratischen oder kommunistisch-stalinistischen Parteiformationen.
In diesem Zusammenhang stehen wichtige Fragen im Mittelpunkt, denen sich Bebnowski annähert. Welche Kommunikationswege, welche Medien standen den Akteuren aus den Reihen der Neuen Linken zur Verfügung? Wie gelang es vor diesem und dem Hintergrund eines antikommunistischen und restaurativen gesellschaftspolitischen Klimas plurale, das heißt strömungsübergreifende marxistische Diskurse in Form von Zeitschriftenprojekten zu etablieren? Wie konnte sich die Neue Linke im Zuge von "1968" Schritt für Schritt institutionalisieren und trotz Existenz- und Sinnkrisen über Wasser halten?
Zwei bekannten, im damaligen West-Berlin ansässigen Zeitschriften, der 1959 maßgeblich von Wolfgang Fritz Haug gegründeten Das Argument und der 1971 von den ehemaligen "Argument"-Redakteuren Elmar Altvater und Bernhard Blanke initiierten Probleme des Klassenkampfes, kurz Prokla, hat Bebnowski seine umfangreiche Dissertationsschrift gewidmet. Sie wurde vom Potsdamer Antisemitismus- und Kommunismusforscher Mario Keßler betreut und vermag nicht nur eine Forschungslücke zu schließen, sondern auch Impulse für vergleichbare Projekte zu setzen.
Die Debatten um beide Zeitschriftenprojekte, so lautet Bebnowskis These, "geben Auskunft über die Verfasstheit der Neuen Linken" (15). Aufgrund seiner Insellage und Frontstadtfunktion während des Kalten Krieges und den Bemühungen der USA, unter anderem mittels der 1948 gegründeten Freien Universität und dem neu eingeführten Fach Politikwissenschaft, einer demokratischen Kultur eine solide Basis zu geben, erscheint West-Berlin als nahezu idealer Nährboden für nonkonformistische Theorieexperimente. Somit beschreibt Bebnowskis Buchtitel "Kämpfe mit Marx" den intellektuellen Aufbruch einer Generation junger Marx-Interessierter, ihre Versuche, marxistische Theorie in einer Hochschullandschaft zu verbreiten. Beide Journale erweisen sich Bebnowski zufolge als Seismografen einer Gesellschaft im Umbruch, sie sind Teil einer politischen Suchbewegung der Neuen Linken, einer "vorgestellten Gemeinschaft", auf der Suche nach einer Systemalternative (21). Dabei nimmt Das Argument auch aufgrund seines längeren Bestehens einen deutlich größeren Raum und möglicherweise eine etwas wichtigere Funktion ein.
Das Buch umfasst neben einer umfangreichen Einleitung sechs Schwerpunktkapitel. Im ersten Kapitel wird der akademische Marxismus als transnationales Epochenphänomen mit Auswirkungen auf die westdeutsche respektive Berliner Entwicklung der Neuen Linken und der beiden untersuchten Zeitschriftenprojekte hergeleitet. Das kurze zweite Kapitel illustriert Verbindungslinien zur "Alten Linken". Namentlich die Bedeutung der Internationalen Liga für Menschenrechte und das wieder nach Frankfurt am Main zurückgekehrte Institut für Sozialforschung waren Eckpfeiler, an denen sich Intellektuelle wie Wolfgang Fritz Haug orientierten. Die bereits erwähnte Besonderheit des West-Berliner "Biotops" skizziert Bebnowski knapp im dritten Kapitel. Instruktiv sind seine Darlegungen über die Verdienste des aus dem US-Exil zurückgekehrten Franz L. Neumann beim Entstehungsprozess der Freien Universität als "Reformuniversität" und des Faches Politikwissenschaft als Baustein einer angedachten Reeducation. Zum intellektuellen Umfeld gehören auch Ernst Fraenkel, Ossip K. Flechtheim und andere. In diesem Nischenmilieu nahm 1956 Wolfgang Fritz Haug sein Philosophiestudium auf und gründete drei Jahre später Das Argument, das 1959 bis 1965 zum Sammelpunkt der Neuen Linken avancierte. Neben Protestbewegungen wie "Kampf gegen den Atomtod" gaben intellektuelle Protagonisten, wie Margherita von Brentano, Günter Anders und Herbert Marcuse, aber auch Horkheimers Antisemitismusanalyse oder die Renaissance der Faschismustheorien in dieser Entwicklungsphase wichtige Impulse.
Damit waren theoretische Prämissen gesetzt, die durch die transnationale Politisierungswelle 1966 bis 1970 noch mehr an Fahrt aufnahmen. Bebnowski spinnt den Faden in Kapitel fünf ebenso problemadäquat weiter wie zuvor. Zu den Höhepunkten des Buches gehört Kapitel 5.4, in dem Das Argument, auch aufgrund der engen Liaison mit der DKP-nahen "Marburger Schule" um Wolfgang Abendroths Schüler Frank Deppe, Georg Füllberth und Karl Hermann Tjaden, ins "Gravitationsfeld" (283f.) der 1968 gegründeten DKP rückte. Zweifellos eiferte die Partei einem dogmatischen Marxismus-Leninismus nach, der dem Konzept eines sich kritisch nennenden Marxverständnisses widersprechen musste. Rückblickend stufte Haug diese Zusammenarbeit als den "vielleicht größten taktischen Fehler in der Geschichte dieser Zeitschrift" ein (287).
Gleichwohl fällt Bebnowskis Bilanz für diese Etappe positiv aus: "Die Entscheidung, sich mit dem Argument auf eine marxistische Gegenwissenschaft zu konzentrieren und damit nahezu alle Bereiche der 'bürgerlichen' Wissenschaft kritisieren zu können, entwickelte sich für Das Argument zur Erfolgsformel auf dem 'Markt für Marx'" (300). Die Zeitschrift steigerte ihre Auflage und ergänzte, im Wesentlichen initiiert durch Frigga Haug, ihre Kompetenzfelder durch den populärer werdenden Feminismus und die feministische Sparte (ariadne). Dank des Gespürs der Eheleute Haug gelang es, kritische Wissenschaft sowie Themen- und Geschäftsfelder in Einklang zu bringen und damit zu überleben.
Eine Folge der umstrittenen Liaison mit der DKP und dem Westberliner Ableger SEW war die in Kapitel sechs vortrefflich geschilderte "Verinselung" der Neuen Linken. Zwischen 1971 und 1976 beschleunigte sich deren Zersplitterung. Dem gesellschaftskritischen Boom folgte der sektiererische Niedergang in K-Gruppen oder der Rückzug ins Private. An diesen sich verschiebenden politischen Kräfteverhältnissen änderte auch die Gründung der Prokla 1971 wenig. Sie entstand im Dissens wegen der DKP-Nähe der Redaktion von Das Argument. Ihre Kontroversen zur Staatsableitungsdebatte, zum Staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap) oder zum Hauptwiderspruch oder Nebenwidersprüche des Kapitalismus werden kenntnisreich referiert.
Es ist den Gründern der Prokla hochanzurechnen, dass sie diesen Schritt wagten und Alternativen zu DKP- oder SEW-nahen Marxinterpretationen anboten. Der Terrorismus der Roten-Armee-Fraktion und die von der sozialliberalen Koalition 1972 dekretierten Berufsverbote für Kommunisten führten zu einer gewissen Annäherung der beiden konkurrierenden Zeitschriften.
Summa summarum gelingt es dem inzwischen an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität lehrenden Historiker Bebnowski mittels dieses Zeitschriftenvergleichs die Genese unterschiedlicher Theoriedebatten und politischen Auseinandersetzungen kenntnisreich zu analysieren. Die Lektüre lohnt, weil sie flüssig geschrieben ist, auf vielen Archivalien, Nachlässen und Zeitzeugeninterviews beruht und im Fazit wichtige Forschungsperspektiven, etwa auch zur vernachlässigten DKP-Forschung, aufzeigt.
Anmerkungen:
[1] Zusammenfassend: Wolfgang Kraushaar: 1968. 100 Seiten, Ditzingen 2018.
[2] C. Wright Mills: Letter to the New Left, in: New Left Review 1 (1960) Nr. 5, 18-23.
[3] Der Begriff geht auf den Philosophen Jaques Rancière zurück und wurde 1975 vom Merve-Kollektiv als "Invektive gegen eine praxislose Theorie" aufgegriffen (46).
David Bebnowski: Kämpfe mit Marx. Neue Linke und akademischer Marxismus in den Zeitschriften Das Argument und PROKLA 1959-1976 (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 25), Göttingen: Wallstein 2021, 534 S., ISBN 978-3-8353-5031-1, EUR 48,00
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