Katharina Stengels Studie untersucht die westdeutschen Prozesse zu NS-Verbrechen aus der Perspektive der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge, die als Zeugen und Zeuginnen in diesen Verfahren aussagten. In die Darstellung eingeschlossen sind der World Jewish Congress (WJC) und das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK), die die Interessen der Opfer vertraten; im IAK, einem antifaschistischen Lagerverband, waren vornehmlich die politischen Häftlinge organisiert, im WJC die jüdischen. Stengel analysiert die "Konfliktgeschichte" (39) zwischen den Juristen und den Überlebenden am Beispiel von vier Prozessen, beginnend in den 1950er Jahren bis Mitte der 1970er Jahre. Der Schwerpunkt der Analyse liegt, quellenbedingt, auf dem 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, auf dessen Beispiel sich auch diese Rezension zumeist bezieht.
Die Pionierstudie kann mit mehreren neuen Befunden aufwarten: Ohne die tatkräftige Unterstützung von IAK und WJC bei der Suche nach und der Kommunikation mit den Zeugen wären, wie Stengel verdeutlicht, die Gerichtsverfahren nicht in dieser Form zustande gekommen. Dieser Teil der Arbeit überzeugt besonders. Die beiden "Vermittlungsinstanzen" (40), die in Frankfurt kooperierten, unterschieden sich in Selbstverständnis, Prozessstrategie und Öffentlichkeitsarbeit. Die Verfasserin kann für beide Organisationen - zumindest für deren Führungsschicht - aufzeigen, dass die Signalwirkung und die gesellschaftliche Aufklärung über Auschwitz, die durch die Prozesse in der Bundesrepublik erreicht werden konnte, für wichtiger erachtet wurden als einzelne Verurteilungen.
Doch auch Einzelpersonen besaßen agency, die sich nicht darin erschöpfte, Strafanzeige zu stellen oder sich als Zeuge für die Ermittlungen und Prozesse zu melden. Es ist Stengels Verdienst, das Bild des angeblich passiven Opfers endgültig zurechtzurücken. Gleichzeitig beschreibt sie ausführlich die "Zumutung" (515), die die Situation inner- und auch außerhalb des Gerichtssaals für die Überlebenden darstellen konnte. Daneben führt sie aber auch Beispiele von Überlebenden an, die den Zeugenstand mit einem Gefühl der "Selbstermächtigung" (515) verließen, für einige brachten die Prozesse möglicherweise auch die in der Rechtstheorie angestrebte "Befriedung" (232).
Die Verfasserin beschreibt die vielschichtigen Motivationen der Überlebenden, sich als Zeuge zur Verfügung zu stellen. Auf die Verpflichtung gegenüber den Getöteten wurde auch von den beiden genannten Organisationen mit mehr oder weniger sanftem Druck hingewiesen. Dieser Aspekt spielte zugleich hinsichtlich des Wandels der Sozialstruktur der Zeugen eine Rolle. Stengel, die sich immer wieder gegen die Vorstellung ausspricht, es habe sich dabei um eine homogene Gruppe gehandelt, erklärt den immer wieder durchscheinenden, quantitativen und qualitativen Unterschied zwischen den Aussagen der Opfergruppen der Roma und der Juden durch das komplexe Zusammenspiel äußerer Umstände - der Anerkennung als Opfer und des Organisationsgrads - und kultureller beziehungsweise religiöser Traditionen.
Stengel zufolge gestalteten die Opferzeugen die Prozesse "durch ihre Berichte, Stimmen und Gefühle maßgeblich mit" (515) - diese Aussage steht im Spannungsverhältnis zu dem immer wieder konstatierten Machtgefälle zwischen Gericht und Überlebenden. Die mittelbare Macht der Zeugen bestand darin, die Richter mit ihrer Narration zu bannen, in der Fähigkeit, eine "kohärente und im besten Fall sinnstiftende" (503) und emotional nicht überfordernde Geschichte zu erzählen, so die These der Verfasserin.
An mehreren Stellen diskutiert Stengel die Frage, an welches größere Publikum die Zeugen sich wandten. Das Verfahren bot den Überlebenden die Möglichkeit, zu einer internationalen (präziser: westlichen) Öffentlichkeit zu sprechen; mehrmals werden Beschwerden von Zeugen aus Polen und der Tschechoslowakei über die fast gänzlich ausbleibende Berichterstattung in ihren Heimatländern zitiert. Dieser Umstand mag auch erklären, warum die Aussagen solcher Zeugen keinem klaren Deutungs- und Darstellungsmuster folgten. Teils beschreibt Stengel den offiziellen Diskurs über den Holocaust in den Ostblockstaaten jedoch zu schematisch: In den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang wirkte zwar die offizielle Marginalisierung jüdischer Opferschaft fort, in der ersten Hälfte der 1960er Jahren war aber durchaus eine indirekte Thematisierung möglich. Insgesamt geht die Verfasserin nur wenig auf die Perspektive der ausländischen Staaten ein, in denen die beiden nicht-staatlichen Organisationen agierten. Dies ist insbesondere hinsichtlich der Analyse des seit 1960 in Warschau ansässigen IAK bedauerlich. Die Arbeit dieses "Ost-IAK", das im Verlauf der 1960er Jahre in Polen immer stärker staatlich kontrolliert wurde, ist jedoch nicht Teil der Studie. Stengel arbeitet hauptsächlich mit dem Nachlass Hermann Langbeins, IAK-Generalsekretär bis zu seiner Absetzung im Jahr 1960/61. [1]
Wie fruchtbar ein Vergleich der Zeugenaussagen ist, kann Stengel an mehreren Beispielen zeigen. Hierbei könnte in Folgestudien der transnationale Ansatz noch stärker verfolgt und möglicherweise auch Quellen, die die persönliche Verarbeitung von Auschwitz im öffentlichen, nicht-juristischen oder privaten Raum wiedergeben, einbezogen werden.
Es seien nun einige Bemerkungen zu den juristischen Akteuren gestattet, die ausdrücklich nicht im Fokus der Autorin stehen. Diese Entscheidung ist legitim. Da Stengel eine "gemeinsame Sprachfindung von Zeugen und Juristen" (32) postuliert, wäre an manchen Stellen aber eine stärkere Einbeziehung nicht nur der politischen Belastung und rechtspolitischen Biografie der einzelnen Richter, sondern auch der situativen Momente in den Verfahren notwendig gewesen. Bei der Analyse der Zeugenaussagen nimmt Stengel die zeitliche Perspektive dezidiert in den Blick, vernachlässigt sie jedoch etwas hinsichtlich der Juristen. Für die zweite Hälfte der 1960er Jahre klafft eine Leerstelle, da sie kein Fallbeispiel aus diesem Zeitraum einbezieht. Ihre Deutung der Prozesse der 1970er Jahre als gewollte "Sackgasse" (41) überzeugt nicht völlig.
Stengel hadert spürbar mit dem Ablauf und den Ergebnissen der westdeutschen Verfahren, ohne diese Form der Vergangenheitsaufarbeitung grundsätzlich in Frage zu stellen oder andere Formen der transitional justice, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten, ins Spiel zu bringen. Sie übt insbesondere Kritik an den in der richterlichen Beweiswürdigung angewandten Glaubwürdigkeitskriterien, die sie für NS-Verfahren als gänzlich ungeeignet erklärt. Diese Kritik ist oft gut begründet. Gleichzeitig verweist Stengel implizit auch darauf, dass die Richter in Ermangelung anderer Beweismittel häufig keine Möglichkeit hatten, die Glaubhaftigkeit der Aussagen zu überprüfen, dass die Glaubwürdigkeit der Zeugen in der Bewertung also nicht, wie heutzutage üblich, nur als Hilfstatsache herangezogen wurde. [2] Erschwerend kam hinzu, dass sich die Richter zunächst an ihrem eigenen "Erfahrungswissen" und "Alltagshorizont" (63) orientieren mussten. Nur an wenigen Stellen wertet die Verfasserin die Zweifel der Richter an der Glaubhaftigkeit konkreter Belastungsaussagen aus der Perspektive der Historikerin als legitim und folgt damit Jan Gross' methodischem Diktum. [3] Gleichzeitig werden hier Fallstricke sichtbar: Neben den bereits bekannten Erinnerungsüberschreibungen zeigt Stengels Analyse, dass Hermann Langbeins Verhalten im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess im Einzelfall "nahe an Zeugenbeeinflussung" grenzte (341). Sie betont zugleich aber auch zu Recht, dass es keine Hinweise auf systematische Absprachen oder Manipulationen der Zeugenaussagen gebe.
Die Autorin spricht von einer "obsessive[n] Normalitätsfiktion der bundesdeutschen Justiz in NS-Verfahren"; u.a. begründet in der "Abwehr aller Ansätze, den NS-Verbrechen mit anderen rechtlichen Instrumenten als dem deutschen Strafrecht von 1871 zu begegnen" (514). Diese Kritik richtet sich jedoch möglicherweise an den falschen Adressaten. Hier wäre der Gesetzgeber in der Pflicht gewesen. Die Opferzeugen von der Beweislast zu befreien hätte jedoch Stengel zufolge möglicherweise ungewollt Fritz Bauers Diktum bestätigt, dass juristisch befriedigendere Lösungen nicht zwingend zur erwünschten gesellschaftlichen Aufklärung führen (52). Hier hätte die Rezensentin die Reflexion der im WJC und IAK tätigen Juristen interessiert, die die Perspektive der direkt Betroffenen - der Überlebenden - komplementiert hätte.
Stengels Arbeit gibt einen sehr gut lesbaren und anregenden Einblick in den zeitlichen Wandel der Kommunikation vor Gericht und zeigt insbesondere das Handlungs-, Wertungs- und Reflexionsspektrum der Überlebenden auf.
Anmerkungen:
[1] Eine Einsicht in den relevanten Quellenkorpus ist sehr aufwendig, da die Nachlässe der IAK-Leitungsfiguren über Europa und Israel verstreut sind. Die Papiere von Robert Waitz, IAK-Präsident 1960-1967, werden zum Beispiel an der Universität Haifa verwahrt, weiteres Material ist in den Archivbeständen des Verbands der Kämpfer für Freiheit und Demokratie (Związek Bojowników o Wolność i Demokrację, ZBoWiD) in Polen zu erwarten. Für diesen Hinweis danke ich Máté Zombory.
[2] Hier begeht Stengel auch ihre einzige begriffliche Ungenauigkeit und verwendet die juristischen Begriffe "Glaubwürdigkeit" (später "Verlässlichkeit/Zuverlässigkeit") und "Glaubhaftigkeit" nicht immer konsequent.
[3] Vergleiche: Jan Tomasz Gross: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001.
Katharina Stengel: Die Überlebenden vor Gericht. Auschwitz-Häftlinge als Zeugen in NS-Prozessen (1950-1976) (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 34), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 548 S., ISBN 978-3-525-31740-2, EUR 70,00
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