Rezension über:

Theresa Jäckh: Raumgeschichte einer Hauptstadt. Palermo unter muslimischer und christlicher Herrschaft (ca. 800-1200) (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 144), Berlin: De Gruyter 2023, XII + 365 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-072002-0, EUR 99,95
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Rezension von:
Julia Becker
Institut für Geschichte, Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Julia Becker: Rezension von: Theresa Jäckh: Raumgeschichte einer Hauptstadt. Palermo unter muslimischer und christlicher Herrschaft (ca. 800-1200), Berlin: De Gruyter 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 3 [15.03.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/03/38776.html


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Theresa Jäckh: Raumgeschichte einer Hauptstadt

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Die vorliegende Studie analysiert die grundlegenden Transformationen der Hauptstadt Palermo zwischen den Jahren 800 und 1200 aus der Perspektive der historischen Raumgeschichte, in dem sie nach den Auswirkungen der Umwälzung politischer und religiöser Ordnung auf die "räumlichen Strukturen, deren Anordnungen und Funktionen" (5) in der Stadt Palermo fragt und die verschiedenen Phasen erstmals gezielt auf Kontinuitäten beziehungsweise Diskontinuitäten untersucht. Bei der hier zu besprechenden Publikation handelt es sich um die für den Druck überarbeitete Fassung ihrer Dissertationsschrift, durch die Theresa Jäckh im September 2018 an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg promoviert wurde und deren Entstehung größtenteils in der Nachwuchsgruppe "Schutzgewähr in Phasen religiöser und politischer Expansion", angesiedelt am Heidelberg Center for Transcultural Studies, zu verorten ist.

Nach einer kurzen Einführung in die Begrifflichkeiten der Stadtgeschichtsforschung, verortet die Verfasserin ihre Studie im bisherigen Stand der Palermo-Forschung, aus der vor allem die Arbeiten des Palermitanischen Gelehrten Michele Amari hervorzuheben sind [1], und lenkt danach den Blick auf die Grenzen der Raumanalyse. Die dieser Untersuchung zugrundeliegenden Quellen gliedert Jäckh in fünf Quellengattungen: Raumbeschreibende Quellen wie historische Geographie, Kartographie und Reiseberichte, raumerzählende Quellen wie Historiographie und Dichtung, raumverwaltende Quellen wie Personenregister oder Grenzbeschreibungen, raumnutzende Quellen wie Toponomastik, Architektur und Materialität sowie raumerneuernde Quellen, unter die sie neuzeitliche Historiographie, Kartographie und Stadtplanung fasst. Aufgrund ihrer umfassenden Sprachkenntnisse kann die Verfasserin nicht nur arabische, hebräische, griechische und lateinische Quellen einbeziehen, sondern reflektiert auch den jeweiligen Erkenntniswert der einzelnen Zeugnisse sehr überzeugend und auf dem neuesten Stand der Forschung.

Im Hauptteil der Arbeit analysiert Theresa Jäckh den Zeitraum, in dem Palermo zur Hauptstadt Siziliens wurde, die Insel dominierte und als zentraler Handels- und Knotenpunkt im Mittelmeerraum fungierte (5). Die beiden Hauptkapitel "Palermo unter muslimischer Herrschaft" (I) und "Palermo unter christlicher Herrschaft" (II) sind weitgehend parallel aufgebaut. Im ersten Unterkapitel fragt die Verfasserin nach Eroberung und Transformation, indem sie die Raumerschließung, Raumerfassung und Raumsicherung erforscht. Das zweite Unterkapitel ist der Etablierung und Formierung von Strukturen der neuen Herrschaft gewidmet und rückt Aspekte wie Zentralisierung, Funktionalisierung, Islamisierung beziehungsweise Christianisierung in den Mittelpunkt. Im muslimischen Palermo untersucht Jäckh im abschließenden Kapitel "Aufspaltung und Übernahme" innere Konflikte und äußere Bedrohung bis hin zur normannischen Eroberung, während sie im christlichen Palermo nach "Aufspaltung und Überformung" fragt und Raumgrenzen, repräsentative Herrschaftsräume und Raumkonflikte durch Machtverschiebung und Restrukturierung thematisiert.

Die große Stärke dieser Studie ist darin zu sehen, dass erstmals die muslimische und christliche Periode der Stadtgeschichte Palermos gemeinsam und nicht getrennt voneinander beleuchtet werden. Durch die Einbeziehung vielfältigster Quellen gelingt es der Verfasserin in dieser innovativen Studie viele kleine, bisher unterbelichtete Ereignisse umzudeuten beziehungsweise neu zu gewichten und somit für die Raumgeschichte von Palermo nutzbar zu machen. Der urbane Transformationsprozess der sizilischen Hauptstadt lässt neue Rückschlüsse auf (Dis-)Kontinuitäten in der Raumnutzung, auf gesellschaftliche Aushandlungsprozesse sowie auf Konflikte um Ressourcen und Teilhabe an der Herrschaft zu. Obwohl aufgrund der Quellenarmut vor allem über die Frühzeit der Etablierung der normannischen Herrschaft in Palermo auch weiterhin einige Fragen offenbleiben werden müssen, erlaubt dieser Ansatz neue Erkenntnisse über Konfliktzonen, Repräsentationsräume und Marginalisierungsprozesse religiöser Minderheiten in der Mittelmeermetropole.

Selbsterstellte Karten zur Topographie Palermos und Siziliens, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister ergänzen diesen Band. Abgesehen von einigen formalen Flüchtigkeitsfehlern im Literaturverzeichnis und im Register, erstaunt bei der sonst so sorgfältig recherchierten Arbeit die Tatsache, dass die grundlegende Publikation von Hubert Houben zu Roger II. in der ersten Auflage zitiert wird [2] und die jüngst erschienene Studie von Martin Fuß zu Inklusivismus und Toleranz [3], die man beim Kapitel 3.2 "Der königliche Palast: Räume der Herrschaft und Repräsentation" erwartet hätte, nicht einbezogen wurde. Diese Einwände mögen aber den Gesamteindruck dieser detailreichen und quellennahen Publikation nicht schmälern, die aufgrund ihres inspirierenden Ansatzes nicht nur bei der weiteren Erforschung der palermitanischen Stadtgeschichte, sondern auch bei der Raumanalyse multiethnischer und multireligiöser Metropolen klare Maßstäbe setzen wird und der eine rege Rezeption zu wünschen ist.


Anmerkungen:

[1] Michele Amari: Storia dei Musulmani di Sicilia, 3 Bde., Firenze 1854-1872; 1933-1939 in zweiter, überarbeiteter Auflage erschienen. Außerdem Alex Metcalfe: The Muslims of Medieval Italy, Edinburgh 2009 (italienische Übersetzung: I musulmani dell'Italia medievale, Palermo 2019).

[2] Hubert Houben: Roger II. von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzident, 2., bibliographisch vollständig aktualisierte und ergänzte Auflage, Darmstadt 2010 (vor allem der Anhang zur 2. Auflage mit dem Kapitel "Zwischen Orient und Okzident: das personelle und kulturelle Umfeld Rogers II.").

[3] Martin Fuß: Inklusivismus und Toleranz. Das Bauprogramm und die Religionspolitik Rogers II. im theologischen Kontext des Hohen Mittelalters (= Beiträge zur Geschichte der Theologie des Mittelalters; Neue Folge, Band 88), Münster 2021.

Julia Becker