Gerhard Müller / Klaus Ries / Paul Ziche (Hgg.): Die Universität Jena. Tradition und Innovation um 1800. Tagung des Sonderforschungsbereichs 482: "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800" vom Juni 2000 (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 2), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, 237 S., ISBN 978-3-515-07844-3, DM 86,05
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Warum gerade das provinziell-kleinstaatliche Milieu Thüringens für eine kurze Zeit zum Ort einer kulturellen Blütezeit von Weltruhm werden konnte, bildet eine der Grundfragen des Jenaer Sonderforschungsbereichs 482: "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800". Der vorliegende Band ist aus einer Tagung des Sonderforschungsbereichs hervorgegangen, die versucht, sich dem vielschichtigen "Ereignis Weimar-Jena" über die Geschichte der Jenaer Universität im Spannungsfeld von Tradition und Innovation zu nähern. Dabei steht nicht so sehr das Wirken einiger "großer Männer" im Vordergrund, mit denen wir das Ereignis Weimar-Jena meist verknüpfen, sondern vielmehr die personellen Verflechtungen, Handlungsebenen, Prozesse und Strukturen, die zu dieser einzigartigen Konstellation beitrugen.
Notker Hammerstein beginnt mit einem allgemeinen Überblick über die deutsche Universitätslandschaft im 18. Jahrhundert. Es folgt ein Abschnitt über "Grundlagen und Strukturen der 'deutschen' Universität im Vergleich". Dabei tritt vor allem die Bedeutung Jenas als "historisches Zwischenglied" der Universitätsentwicklung auf dem Weg von Halle und Göttingen nach Berlin ins Blickfeld. In kritischer Auseinandersetzung mit Peter Moraws Periodisierung der deutschen Universitätsgeschichte in vorklassische, klassische und nachklassische Universität, innerhalb derer Berlin das Modell der klassischen Universität bildet, beschreibt Helmut G. Walther Jena als ein eigenständiges Reformmodell. Gerrit Walther widmet sich der Universität Göttingen als zeitgenössischem Ideal einer Reformuniversität und skizziert den Wandel ihrer Wahrnehmung vom Symbol des Neuen zum "Inbegriff des bewährt Soliden". Joachim Bauer untersucht in seinem Beitrag die Entwicklung der Universität Jena zwischen Tradition und Moderne.
Im Vordergrund steht dabei weniger die intellektuell-wissenschaftliche Ebene als vielmehr eine Analyse der verschiedenen Entwicklungsstufen der korporativen Verfasstheit der Universität und die Einbindung in ihr territoriales Umfeld. Gerade im Hinblick auf die Universitätsverfassung bildete Jena einen spannenden Sonderfall in der Universitätsgeschichte des alten Reiches, denn sie unterstand mit den ernestinischen Höfen, den sogenannten "Nutritoren", nicht einem, sondern vier Landesherren gleichzeitig.
Der Beitrag Rüdiger vom Bruchs zur Gründung der Berliner Universität führt anschließend zum klassischen, vom "Mythos Humboldt" geprägten, Universitätsmodell. Vom Bruch plädiert dabei zu Recht für eine präzisere Verortung des Berliner Modells in der Universitätslandschaft der "Sattelzeit".
Der zweite Abschnitt des Bandes ist der Universität Jena als geistig-politischem Zentrum gewidmet. Ulrich Rasche beleuchtet in einem umfangreichen Beitrag (der 23,2% des gesamten Bandes einnimmt!) die Entwicklung der Immatrikulationsfrequenz im 18. und 19. Jahrhundert. Ist Mitte des 18. Jahrhunderts ein deutlicher Rückgang der Frequenz zu beobachten, führt das "Ereignis Weimar - Jena" 1780-1803 zu einem erneuten Anstieg der Immatrikulationen, bis sie schließlich ab 1803 wieder stagnieren. Der sprunghafte Anstieg der Immatrikulationsfrequenz im "Ereigniszeitraum" wird dabei (neben der Anziehungskraft der idealistischen Philosophie und der Rolle Jenas als Zentrum studentischer Ordens- und Reformbewegung), vor allem - und das scheint ein überraschender Befund - auf die gestiegene Attraktivität der medizinischen Fakultät zurückgeführt.
Unterschiedliche Perioden der Universitätspolitik Goethes beschreibt Gerhard Müller am Beispiel von dessen Einfluss auf die Berufungspolitik und seinem Versuch zur Reform der Universitätsverwaltung. Thomas Bach untersucht die mit der Berufung Schellings zum außerordentlichen Professor für Philosophie einsetzende Etablierung der Naturphilosophie als eigenständigem Fachgebiet. Auch hier spielte der institutionelle Kontext der "außerordentlichen Universität" eine wichtige Rolle.
Klaus Ries thematisiert in seinem Beitrag die Jenaer Universität als Ort des politischen Professorentums. Der politische Professor als "Bildungsbürger zwischen Staat und Gesellschaft" wird von Ries als ein erstmals in der Zeit um 1800 auftretendes Phänomen begriffen. Die Verbindung der spezifischen politischen Rahmenbedingen Sachsen-Weimars mit einer bereits früh etablierten bürgerlichen Öffentlichkeit ließen Jena zu einem frühen Zentrum des politischen Professorentums werden. Am Beispiel Heinrich Ludens, Lorenz Okens und Jakob Friedrich Fries' versucht Ries dabei die Funktion des "Ereignisraums" Weimar-Jena als Motor liberal-nationaler Ideen zu verdeutlichen.
Der dritte Abschnitt widmet sich verschiedenen Facetten der Leitkategorie einer "extraordinären" Universität, welche den eigentlich innovativen Aspekt des Bandes bildet. Das zunächst von Gerhard Müller vorgestellte heuristische Modell der extraordinären Universität soll einen integrativen Zugang zum Wissenschaftsstandort Weimar-Jena bieten, der es ermöglicht, die Zugänge verschiedener Disziplinen zu vernetzen. Die extraordinäre Universität umfasst dabei im Wesentlichen drei Bereiche: erstens die Lehrenden, die keine der 18 ordentlichen Professorenstellen innehatten, zweitens die außerhalb des Rechtsbereichs der Universität stehenden wissenschaftlichen Institutionen wie Bibliotheken und Sammlungen und drittens die privaten, von Universitätsmitgliedern gegründeten Sozietäten und Institute. Der so entstandene Wissenschaftsverbund ermöglichte es - so die Annahme Müllers -, die Modernisierungsdefizite des klassischen Universitätssystems zu kompensieren, und wurde infolgedessen zu einer wichtigen Grundlage dafür, Jena zu einem Zentrum deutscher Wissenschaftskultur zu machen.
Im Anschluss daran werden drei Beispiele aus den unterschiedlichen Feldern der extraordinären Universität vorgestellt. Margarete Mildenberger verfolgt die personelle wie inhaltliche Verankerung der "Allgemeinen Literatur-Zeitung" innerhalb der Universität. Anhand der Geschichte des herzoglichen botanischen Gartens untersucht Igor Polianski, wie sich vor dem Hintergrund der extraordinären institutionellen Stellung des Gartens die Etablierung eines alternativen botanischen Systems vollzog. Denn auf Betreiben Goethes wurde er, im Gegensatz zum botanischen Garten der Universität sowie den meisten anderen vergleichbaren Gärten der Zeit, nicht nach dem damals vorherrschenden System Karl Linnés, sondern nach dem "natürlichen" System seines Direktors August Batsch angelegt. Paul Ziche verfolgt abschließend die Wechselwirkung universitärer und extra-universitärer Forschungseinrichtungen am Beispiel der "Naturforschenden Gesellschaft" und der "Physikalisch-mechanischen Anstalt".
Insgesamt zeichnet sich der Band durch eine hohe inhaltliche Geschlossenheit aus. Angesichts einer deutlichen Fokussierung auf institutionsgeschichtliche Fragestellungen vermisst man jedoch streckenweise eine deutlichere Berücksichtigung individueller Handlungsspielräume oder sozialer und wissenschaftlicher Praktiken. Dennoch veranschaulichen die vorliegenden Beiträge die Fruchtbarkeit einer interdisziplinär angelegten Universitätsgeschichtsschreibung nicht nur für ein so hochkomplexes wissenschaftsgeschichtliches Phänomen wie das "Ereignis Weimar-Jena", sondern auch für die allgemeine Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte.
Marian Füssel