Rezension über:

Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1750-1810 (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftlicher Schriften. Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 279), Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, 272 S., ISBN 978-3-8260-1687-5, DM 68,00
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Rezension von:
Erna Fiorentini
Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Erna Fiorentini: Rezension von: Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1750-1810, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, in: sehepunkte 1 (2001), Nr. 2 [15.02.2001], URL: https://www.sehepunkte.de
/2001/02/3465.html


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Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1750-1810

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Naturwissenschaft und Ästhetik sind in Bierbrodts Bochumer Dissertation "die äußeren Themenpole. (...) Das eigentliche Thema sind die Kräfte, die zwischen ihnen gewirkt haben" (6), und zwar zwischen 1750 und 1810. Diese Zeit erlebt einen Umbruch der Wissenssysteme: Die mechanistische Philosophie wird von einer neuen Episteme abgelöst, die stärker am Lebendigen orientiert ist, an der morphologischen Beobachtung und am Experiment. Hier entstehen die Ideale der Selbstbestimmung und Produktivität, der künstlerischen Autonomie und Spontaneität wie auch der Geniebegriff der Romantik. Dieser Übergang vom Mechanismus zum Organismus ist von Oszillationen zwischen Naturwissenschaft, experimenteller Neugierde, Anthropologie und Ästhetik charakterisiert, die der Autor in einer vergleichenden philosophie- und wissenschaftshistorischen Textanalyse beschreibt.

Wir erfahren, wie die mechanistische Philosophie im 18. Jahrhundert mehr als eine spezielle Lehre zur mathematischen Beschreibung von Kräften und Materie ist: Sie ist ein naturphilosophisches Credo, eine Fundamentallehre von hoher Komplexität und Vielgestaltigkeit. Sie beruht auf einem Erkenntnisoptimismus, der die Bewegungslehre als Bestimmungsfaktor aller Naturvorgänge wertet und Bewegungsgesetze metaphysisch beglaubigt, empirische Beweise dabei aber übergeht. Nicht nur die Physik, auch Psychologie und Gehirnforschung sind mechanistisch (man denke an Julien Offray de La Mettries "L'homme machine") und trennen scharf Seele und Körper. Im Schwerefeld des Mechanismus bildet sich auch die philosophische Ästhetik als Disziplin mit exaktem wissenschaftlichem Anspruch heraus. Alexander Baumgartens Schrift "Aesthetica" (1750), in der die Disziplin begründet wird und die ihr ihren bis heute gültigen Namen gibt, entwirft eine Philosophie der 'cognitio sensitiva' als notwendig empfundene Ergänzung der Logik, der Wissenschaft von der höheren, geistig-begrifflichen Welterkenntnis. Bierbrodt zeigt, wie die Ästhetik an der komplexen "Naturlehre der Seele" partizipiert, in der auch Psychologie, Anthropologie und Theologie versuchen, geistige Vorgänge mechanistisch zu erklären. Die Empfindung des Schönen wird an die wissenschaftliche Erkenntnis angenähert, in einer Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Kunst, bei der für die Herstellung von Kunstwerken keine geistigen Operationen reserviert sind. Die Einbildungskraft wird als durchschaubare und naturgesetzliche Größe definiert, die auf präformierte Formeln zurückgreift und sie lediglich nach dem Prinzip der Assoziation kombiniert.

In diesem Gefüge bilden sich aber Keime heraus, die den mechanischen Grundriss der Natur zu sprengen beginnen. Die Naturlehre befreit sich vom Diktat der Mathematik als rationaler Grundlage der Weltauffassung, mehrere Experimentalwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) mit eigener Heuristik und eigenem Erkenntnisanspruch maßen sich die Beschreibung der lebendigen und unbelebten Materie an und machen den Organismus zur ontologischen Größe. Das Lebendige gewinnt zudem mit der Begründung der experimentellen Physiologie an Eigenständigkeit. In vielen, wenn auch nebeneinander unausgeglichen bestehenden philosophischen Vorstellungen untergräbt dadurch ästhetische Skepsis die Annahme der Objektivität des Schönen, während verschiedene Modelle mechanistischer Psychologie, z.B. der Sensualismus mit Johannes Nikolaus Tetens versuchen, in der Definition von Fantasie- und Erfindungsbegriff der künstlerischen Spontaneität mehr Raum zu geben.

Der Wandel vom Mechanismus zu einem anderen Bild der Natur und des Menschen wird aber entscheidend durch die Krise der mechanischen Medizin eingeleitet. Albrecht von Hallers Begriff der Irritabilität des Körpers durch äußere Reize (1752) entblößt eine folgenschwere Anomalie im mechanistischen Denken. Erregbarkeit bedeutet eigene Tätigkeit, Autonomie, und lässt sich für einen als Maschine gedachten Körper nicht annehmen.

Aus diesem zentralen Problem entwickelt sich die "Naturphilosophie" der Romantiker als eine neue Naturlehre. Sie vollzieht um die Jahrhundertwende die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren, organischen und mechanischen Bewegungen, die autonom bestehen und miteinander in Wechselwirkung stehen. Dabei wirkt der Organismus aber auch auf sich selbst, ist selbstorganisiert. Als sich in der neuen Medizin die Epigenese als Zeugungstheorie durchsetzt, befördert ihr Gedanke einer 'creatio continua' auch in der Erkenntnislehre die Idee spontaner Geisteskräfte. Diese Idee verhilft in der Ästhetik dem Begriff vom schöpferischen Menschen zum Durchbruch, und dabei wird der Geniebegriff, und mit ihm die schöne Kunst, "enttechnisiert", von Assoziationsmechanismen gelöst. Hieraus entwickeln sich auch die philosophischen Einstellungen zur Selbstorganisation des Geistes, eine Idee, die zum Eckstein des Denkens avanciert (Kant, Girtanner, Ith, Reil). Die neue Vorstellung der Lebenselemente (Feuer, Äther, Verbrennung) und die Forschungen zur Elektrizität (Galvanismusstreit) sind nicht nur in den neuen chemischen und physikalischen Disziplinen ein Thema, sondern infizieren auch Anthropologie und Ästhetik. In der romantischen Naturlehre führt die Diskussion dieser neuen Erkenntnisse zu der Definition des "Selbst" als systemische Autonomie, aus dem sich allmählich das Bild von menschlicher Spontaneität und Schöpferkraft der romantischen Ästhetik herauskristallisiert.

Der Mechanismus als Fundamentaltheorie der unbelebten und belebten Natur beginnt also ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zu bröckeln und verliert auch als anthropologische Norm seine Geltung. Vor diesem Hintergrund beschreibt der Autor zum Abschluss des Buches die Versuche der Romantiker, die philosophische Ästhetik auch als eine umfassende "Naturgeschichte der Kunst" (Friedrich Schlegel) zu formulieren. Die Ästhetik fühlt sich vom naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal herausgefordert, teilt es aber immer seltener und macht sich zunehmend "zur Anwältin einer Erkenntnis, die sich dem Exaktheitsideal gegenüber neutral verhält (...) und sich im Verlauf ihrer Geschichte außer Reichweite der Naturwissenschaft und ihrer Ideale" bringt (324). Spätestens mit der Schellingschen Instanz der moralischen Autonomie der Kunst will die Ästhetik zu Beginn des 19. Jahrhunderts "keine exakte Wissenschaft sein" (339).

Diese abschließende "Wissenschaftsgeschichte der Ästhetik als Theorie der Kunst" (6) will sich nicht recht in den Gesamtduktus der Studie einfügen und ist im Vergleich zur Gründlichkeit der Gesamtanalyse mehr ein resümierendes Schlusswort als eine ausführliche Erörterung.

Es gliedert sich jedoch durchaus in den programmatischen Sinn der Untersuchung ein, der erklärtermaßen keine Geschichte von Naturwissenschaft und Ästhetik vorschwebt. Bierbrodt interessiert sich für das Bestehen von Wechselwirkungen, für die Analyse ihrer Beschaffenheit und Begrifflichkeit an einer epistemologischen Schwelle. Dabei geht er ein erfreuliches methodisches Experiment ein, in dem er vor dem Hintergrund von Peter Burkes "Historiographie der Mentalitäten" eine "Kartografie der Gedanken" anstrebt. Diese vermag den Ideentransfer als Modifikation von Wissen in heterogenen Feldern aufzuzeigen und dessen Modi, Formen und Wirkungen als fassbare Phänomene zu beschreiben. Dabei gelingt es dem Autor, eine komplexe Werteverschiebung wie die Abkehr vom Mechanismus zu definieren und historisch zu verorten. Ein Manko ist es daher umso mehr, dass gerade dieser zentrale Aspekt, dessen Dynamik den Hauptgegenstand des Buches darstellt, im allzu allgemeinen, ja verallgemeinernden Titel nicht avisiert wird.

Das Buch macht vor allem klar, dass die Abkehr von der mechanistischen Weltordnung sich nicht als Gegenüberstellung polarer Kräfte artikuliert. Sie entfaltet sich - und das gilt auch für Kants "Kritik der Urteilskraft" von 1790, die diese Abkehr faktisch besiegelt - in einer diskursiven Auseinandersetzung, bei der das mechanistische Welt- und Menschenbild "sich von seinen Rändern her zersetzte, von der Anthropologie und Ästhetik her, von der Erforschung von Elektrizität und Chemie, (...) von der Medizin und von der entstehenden Biologie her" (68). Neben Philipp Sarasins jüngstem Buch ("Reizbare Maschine. Eine Geschichte des Körpers", 2001) ist diese Studie sicherlich ein weiterer Beitrag zur Differenzierung jener pauschalisierenden Szenarien, die den Übergang zur Romantik noch immer als Bruchstelle und Konflikt zwischen anthropologischen Normen angeben. Mit Sarasins leichtfüßiger wissenschaftlicher Prosa kann das Buch allerdings nicht aufwarten. Als amüsanten Gegensatz zum analysierten Geniebegriff darf man auf die wiederholte Verwendung eines Anglizismus hinweisen, der mit "Artistenfakultät", "Artisten" und "artistischem Ausdruck" kaum an die Kunst und das Künstlerische, auf welche er sich bezieht, sondern unweigerlich an Zirkusbetrieb und Varietee erinnert.

Erna Fiorentini