Thomas W. Gaehtgens / Christian Michel / Daniel Rabreau: L'art et les normes sociales au XVIIIe siècle (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Bd. 2), Paris: Éditions de la Maison des sciences de l'homme 2001, 543 S., 16 Farbtafeln, zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-2-7351-0917-3, EUR 48,00
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"Kunst und soziale Normen" ist der vage, aber programmatisch gemeinte Titel eines Bandes, der 28 Aufsätze vereint. Er beruht teils auf einem (gleichnamigen?) Kolloquium des Deutschen Forums für Kunstgeschichte, teils wurden noch nachträglich Beiträge aufgenommen. Zusammengeführt sind auf diese Weise laufende Forschungen französischer und deutscher Doktoranden mit denen schon arrivierter Kunsthistoriker, die sich unter einem gemeinsamen methodischen Ansatz vereinen möchten: der Auffassung, dass es nicht genüge, die Materialkenntnisse zur Kunst des 18. Jahrhunderts zu erweitern. Vielmehr müsse - so das Vorwort der Herausgeber - nach dem Status von Kunst gefragt werden, das heißt, nach dem Zusammenhang von Kunstproduktion, ihrer Rezeption und ihrem Bezug zu sozialen Normen. Nicht bei der Formanalyse stehen zu bleiben, wird angemahnt. Stattdessen ist die Aufgabe gestellt, angesichts des "radikalen gesellschaftlichen Wandels" während des Zeitalters der Aufklärung die Frage nach dem Begriff und der Funktion von Kunst neu zu stellen. Die Rezensentin reibt sich verwundert die Augen, fragt sich, ob ein derartiges Einrennen offener Türen mehr dem bisweilen sicher mühsamen Geschäft des deutsch-französischen Wissenschaftstransfers oder mehr dem Zwang geschuldet ist, nur sehr lose - über die Epoche - zusammengehaltene Beiträge zu einem handlichen Paket zu verschnüren.
Wie dem auch sei: Die Frage nach der Autonomie oder der Zweckbindung von Kunst, die das Vorwort eingangs noch stellt, ist im Titel des Bandes schon entschieden. Und es besteht fraglos Einigkeit, dass die Kenntnis des Materials durch künstlermonografische Ausstellungen beziehungsweise Bücher der letzten Jahrzehnte vorangetrieben, die Grundlage für alles Weitere bildet - genauso wie ein "interesseloses Wohlgefallen" als Ziel von Kunstgeschichte nicht mehr zur Debatte steht.
Es ist hier nicht genug Platz, um alle Beiträge, die durchweg ihr Material und ihre Argumentation auf hohem Niveau ausbreiten, im Einzelnen vorzustellen und zu würdigen. Die insgesamt acht Kapitel sind unterschiedlich stark besetzt. Die Kunsttheorie wird einerseits als eigenes Feld begriffen (Pascal Griener/Cecilia Hurley zur Entwicklung des Vokabulars; Élisabeth Décultot zur Winckelmannlektüre in Frankreich und Deutschland). Andererseits wird die Verbindung zur Naturwissenschaft hergestellt (Ulrike Boskamp zu Regenbogen und Farbtheorie bei Vien; Étienne Jollet zur Ponderation). Unter Kunst als "Lebensrahmen" verbergen sich die Beiträge zur Architektur (Marianne Le Blanc zum Palais Soubise und dessen Nutzung zur fürstlichen Repräsentation; Jean-François Cabestan zur Distribution im Hôtel de Belle-Isle; Rita Hofereiter zum Schloss des Finanziers Étienne-Michel Bouret; Iris Lauterbach zu Pariser Stadtgärten). Dem Sammeln von Kunst ist der folgende Abschnitt gewidmet (Guilhem Scherf zu Sammlern nachantiker Plastik; Astrid Dostert zum Schicksal der Antiken im königlichen Besitz während des Rokoko; Édouard Pommier zum Projekt des königlichen Museums ab 1747).
Die politische Zweckbindung der Bilder ist mit Pierre Wachenheim zu den grafischen Porträts und Allegorien um den Abbé Chauvelin und David Beaurain über die Herstellung der Königsbildnisse unter Louis XV eher dünn vertreten. Hierhin hätte auch Christophe Henrys Aufsatz aus dem letzten Abschnitt gepasst: Er konfrontiert die Genese der einschlägigen Begriffe wie "fin", "but" oder "fonction" mit der tatsächlichen Auftragslage in der Historienmalerei und zeigt so das Geflecht aus Interessen der Künstler, der beginnenden Kunstkritik und der Auftraggeber auf. Das Bild vom Künstler und die Künstlerausbildung dagegen haben mehr Gewicht: Selbstporträts und anderweitige Profilierung der eigenen Figur bei Liotard (Andreas Holleczek) und Chardin (Claudia Denk), die Auseinandersetzung von Diderot und Falconet über den Nachruhm von Künstlern (Martin Papenheim), aber auch eine bislang weniger beachtete Figur wie Descamps als Kunsthistoriker (Gaëtane Maës) und als Organisator von Zeichenausbildung (Aude Henry-Gobet) finden hier Platz. Die Liste der Namen mag ein nicht genug zu lobendes Charakteristikum des Bandes hier besonders erhellen: Berühmtes und weniger Berühmtes stehen gleichrangig nebeneinander.
Der Konnex zwischen Werken und ihrer Rezeption durch Auftraggeber und Publikum wird im Folgenden an Bildthemen wie Martyriumsszenen (Martin Schieder) und Naturkatastrophen (Sylvie Wuhrmann), an der Präsenz und Positionierung von Porträts vor allem der bürgerlichen Haushalte (Michael Müller) sowie mit allgemeineren Perspektiven (Thomas Kirchner) aufgezeigt. Was in dieses Raster nicht passte, kam in die letzte Abteilung, die einigermaßen rätselhaft mit "Ästhetische und erzählerische Erwartungen" überschrieben ist: die Rezeption von Raffaels Loggien in der Innendekoration (Alexia Lebeurre); die Kombination von Text und Bild zur Durchsetzung des visualisierten Exemplum virtutis (Peter Schneemann); der schon erwähnte Beitrag über den Zweck von Kunst von Christophe Henry; Hubert Roberts Katastrophenbild vom Brand der Pariser Oper als Beitrag zu einer neuen Bildgattung (Sabine Weicherding); Fragonards Erneuerung der Landschaftsmalerei (Richard Rand) sowie die Rolle der Faktur insbesondere in Bildnissen von Fragonard (Uwe Fleckner). Ein Index der Personen erlaubt das schnelle Auffinden auch der zahlreichen Sachinformationen.
Es handelt sich um ein fast vollständiges Panorama der Künste im französischen - das heißt fast ausschließlich Pariser 18. Jahrhundert. Angesichts der Breite der behandelten Themen fällt eine Lücke um so mehr auf: die des Kunstgewerbes/der arts décoratifs. Was gerade im 18. Jahrhundert im beweglichen Gut eines Haushalts den größten materiellen Wert ausmachte, was aus staatlichen wie privat-unternehmerischen Interessen heraus das Bild der Nation prägte, kommt nur am Rande vor. Wird zu Tapisserien, Möbeln, Bronzearbeiten und vielem anderem mehr derzeit überhaupt nicht geforscht? Oder ist diese Forschung gar zu sehr dem Material verhaftet, gewissermaßen positivistisch, sodass sie nicht zur Grundkonzeption des Bandes zu passen schien?
Es sei daher erlaubt, den Beitrag herauszugreifen, der den Rang des Kunstgewerbes und der Provinz für das französische 18. Jahrhundert exemplarisch verdeutlicht: Ausgehend von Jean-Baptiste Descamps' Rede "Sur l'Utilité des Établissemens des Écoles Gratuites de Dessein en faveur des Métiers", die 1767 einen Preis der Akademie gewann, stellt Aude Henry-Gobet am Beispiel Rouen die Verflechtungen von Akademie, von Zeichenunterricht für das Handwerk, insbesondere für die Fayence-Manufakturen, und somit von Wirtschaftsförderung dar. Sie kann zeigen, wie sich die fortbestehenden Spannungen zwischen akademischer Künstlerausbildung und Zünften einerseits, zwischen der Pariser Zentrale und den eigenständigen Akademien in Städten wie Rouen, Reims oder Lyon andererseits graduell im gemeinsamen Bemühen um ein Konzept und um die Durchführung von kostenlosem Zeichenunterricht für die Kinder aus dem (und für das) Handwerk auflösten. Sie kann auch zeigen, dass in der Realisierung solcher Projekte die Städte in der Provinz der Kapitale vorausgingen.
Der Beitrag zeigt freilich auch ein Problem eines solchen Sammelbandes auf: Descamps' Tätigkeit als Kunsthistoriker, also die erste französische Untersuchung zu den "peintres flamands, allemands et hollandais", ist Gegenstand der Studie von Gaëtane Maës. Die Aufsätze stehen unverbunden nebeneinander. Die Autorinnen fragen nicht danach, ob Descamps mit seinem Bemühen um das Schließen einer kunsthistorischen Lücke mehr als eine kluge Reaktion auf die damalige Konjunktur im Kunstgeschmack und -handel gezeigt habe: Welche Rolle die Geschichte der niederländischen Kunst neben der verbal überlieferten Referenz auf die Antike im pädagogischen Konzept Descamps' gespielt haben könnte, muss sich der Leser selbst zusammenreimen.
Noch mehr allein gelassen wird er bei anderen Fragen, die in mehreren Beiträgen angerissen werden. Widersprüchliches zur Salle/Chambre du Dais liest man bei Marianne Le Blanc (Palais Soubise) und Jean-François Cabestan (Hôtel de Belle-Isle), und was Cabestan in einer Anmerkung zur Präsentation des Porträts Ludwigs XV. unter dem Baldachin sagt, muss mit Michael Müllers Untersuchungen zum Platz des Porträts in den Appartements und zum zeremoniellen Umgang mit derartigen Bildern verbunden werden. Wenn es auf dem Kolloquium einen Austausch zu solchen Fragen gegeben hat, dann hat er sich in der Redaktion der so voneinander isolierten Aufsatz nicht niedergeschlagen.
Trotz solcher Detailkritik: Der Sammelband zeigt, dass französische wie deutsche Forschungen zu weiten Bereichen der französischen Kunst des 18. Jahrhunderts derzeit mit großer Sachkenntnis und klarem methodischem Bewusstsein betrieben werden. Er zeigt auch, dass sich die Auseinandersetzung mit diesem Feld der Kunstgeschichte weiter lohnt - mehr als ein Jahrhundert, nachdem die Brüder Goncourt und andere die Rocaille wieder gesellschaftsfähig gemacht hatten.
Katharina Krause