Thomas A. Brady (Hg.): Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (= Schriften des Historischen Kollegs; Bd. 50), München: Oldenbourg 2001, XXII + 258 S., 2 Abb., ISBN 978-3-486-56565-2, EUR 49,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in PERFORM.
Bradys Sammelband bietet die Beiträge einer von ihm durchgeführten Tagung des Münchner Historischen Kollegs vom Mai 1999. Er erscheint wie eine direkte Reaktion auf das 1996 von Bernd Moeller durchgeführte Symposion zur frühen Reformation in Deutschland als Umbruch.[1] Während dort - nicht ohne kritische Gegenstimmen (Heinz Schilling) - die Bruchlinie zwischen (Spät-)Mittelalter und Früher Neuzeit herausgestellt wurde, betont Thomas A. Brady in seiner Einleitung: "The thesis of continuity between the late Middle Ages and the Reformation", wie sie insbesondere die Sozialgeschichte herausgearbeitet habe, sei "rarely challenged today" (IX). Gleichwohl werde in den größeren Werken zur deutschen Geschichte am fundamentalen Epochenbruch zwischen "Mittelalter" und "Früher Neuzeit" festgehalten. Brady sieht die Ursache für diese Zählebigkeit der Epochenbruchthese im latenten Fortwirken der von Ranke inaugurierten nationalen Geschichtsschreibung, die in Luther und der Reformation die Geburtsstunde der deutschen Nation sah. Zwar sei diese Forschungsperspektive in den Trümmern des Ersten Weltkriegs untergegangen, doch habe es erst wieder seit 1960 (Bernd Moeller) nennenswerte deutsche historiografische Bemühungen um die Reformationsgeschichte gegeben, deren Neuansätze jedoch die gängigen Strukturen der Geschichtsschreibung noch nicht durchdrungen hätten. Auch wenn man einzelnen Aussagen Bradys folgen mag, wird man doch seine Perspektive auf die deutsche Reformationsforschung insgesamt als zu schematisch kennzeichnen müssen.
Gleiches gilt für sein Resümee der Beiträge des Tagungsbandes: "Mostly, we find interest and adaption but not a gospel which transforms the world. In the German lands the Reformation did not fundamentally change the patterns set in the fifteenth century. This is the true of the nascent territorial state, of the ricketing Imperial regime, of the urban political elite, of liturgical practice, of thinking about economies, and of the rhetorical praxis of the humanists and even Luther himself. Everywhere the new revitalizes more than it obliterates the old, making the German Reformation truly the 'harvest of the Middle Ages'." (XIX) Um Bradys pointierter Perspektive zu widersprechen, bedarf es hier nicht des Hinweises auf den Humanismus, dem die Konstruktion des "Mittelalters" wesentlich zu verdanken ist, auf die Medienrevolution im Masseneinsatz des Buchdrucks in der frühen Reformationszeit oder auf das nach 1525 eingetretene Ende der in Grundzügen uniformen Frömmigkeit und kirchlichen Strukturen. Es genügt schon die Lektüre der lesenswerten Beiträge dieses Sammelbandes, die eine durchaus differenziertere Antwort auf die nicht nur von Brady aufgeworfene Frage nach dem Epochenbruch geben. Das Spektrum reicht von einem konsequenten Votum für die Kontinuitätsthese (Heiko A. Oberman) bis zu Horst Wenzels kommunikationsgeschichtlichem Beitrag, der in starkem Maße den Umbruch der Reformationszeit betont.
Heiko A. Oberman distanziert sich einleitend - nicht ohne persönliche Reminiszenzen - von drei "master narratives" der Reformationsforschung,[2] um auf abseitigen Forschungspfaden "the innovation of sixteenth-century reform and reformation" im Licht einer "unbroken continuity" (15) sehen zu können.
Vier über das 15. Jahrhundert hinaus fortlebende "cultural clusters" (4) führt Oberman an:
1. Der nach den großen Pestwellen des 14. Jahrhunderts aufgekommene Nominalismus habe insbesondere das neue Bild eines Gottes als Person hervorgebracht und das einer Welt als Unbekannter mit ihrer Unberechenbarkeit, deren Regeln allererst zu entdecken waren. Die Physik sei von der Herrschaft der Metaphysik befreit worden. Die Via Moderna sei so ein wesentlicher Faktor für die intellektuelle Neuorientierung des "langen" 15. Jahrhundert gewesen.
2. Weniger überzeugend ist Obermans Versuch, vom Konziliarismus eine Brücke zum Genf Calvins und zum Speyerer Reichstag von 1524 zu schlagen. Die große Reformbewegung des 15. Jahrhunderts sei nicht mit der Florentiner Periode zu Ende gegangen, sondern habe als "political conciliarism" (8) in den aufkommenden Nationalstaaten fortgelebt, so in Calvins Campagne gegen die Nikodemiten, die an die gallikanischen Freiheiten (Bourges 1438) angeknüpft habe, und in den Bemühungen um die Errichtung einer deutschen Nationalkirche unter Einschluss der antilutherischen Bischöfe in Speyer 1524. Auch wenn sich hier Verbindungen herstellen lassen, ist doch zu fragen, ob die Differenzen nicht deutlich stärker ins Gewicht fallen.
3. Gleiches gilt für die von Oberman festgestellten Analogien zwischen der Devotio Moderna und der Reformation sowie
4. für die umherziehenden und predigenden Franziskanermönche als Propagatoren der Civitas Christiana im breiten Volk. Oberman folgert aus diesen langen Linien und bei allen Brüchen, die er durchaus konzediert, dass der Blick auf das "lange 15. Jahrhundert" die Teilung des Jahrs 1500 als künstlich erscheinen lässt und die Neuerungen des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang einer größeren Kontinuität gesehen werden müssen.
Im Schlussteil positioniert Oberman seine Perspektive gegenüber den reformationsgeschichtlichen Ansätzen Bernd Moellers, Thomas A. Bradys und Heinz Schillings. Während seine These, dass der deutsche "Sonderweg" nicht erst mit Bismarck und Versailles, sondern schon 1555 mit dem Rückzug des Reichs aus den europäischen Angelegenheiten begonnen habe, kaum ohne weiteres Gefolgschaft finden wird, dürfte seine Forderung nach einer europäischen Perspektive der Reformationsgeschichtsschreibung, in deren Mitte der Calvinismus zu stehen habe, auf Zustimmung stoßen. Für viele Länder sei er die erste (!) Reformation gewesen, die den Kontinent mit Konflikten und Migration belastet und das lange 15. Jahrhundert beendet habe. Wie viele der früheren Arbeiten Obermans ist auch diese Generalperspektive auf das 15. und 16. Jahrhundert kenntnisreich, originell und zum Widerspruch reizend.
Ernst Schuberts Beitrag, der die Komplexität der Frage von Kontinuität und Umbruch zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit anhand des "Wandels fürstlicher Herrschaft vom 15. zum 16. Jahrhundert" nachzeichnet, gehört zu den interessantesten des Bandes. In der Entwicklung von der auf den Einzelfall gerichteten fürstlichen Rechtssetzung des Spätmittelalters zu den allgemein an den Untertanenverband gerichteten Landesordnungen des 16. Jahrhunderts sieht Schubert durchaus einen Kontinuitätsbruch, der jedoch nicht voraussetzungslos war. In seiner den semantischen Wandel des Landes- und Herrschaftsbegriffs, aber auch materiale Veränderungen genau nachzeichnenden Untersuchung führt der Verfasser die Umformung der Landesherrschaft durch den Ausbau der Ämterverfassung, die Aufwertung von Kanzlei und Schriftlichkeit der Verwaltung unter dem Einfluss der Reichspolitik und der städtischen Verfassung als wesentliche schon im 15. Jahrhundert angelegte oder zumindest vorbereitete Faktoren des Wandels an. "Welche mentalitätsgeschichtlichen Folgen die Umformung der fürstlichen Herrschaft hatte, war an den Begriffsentwicklungen von Land mit all seinen Folgerungen - Deutschland und Vaterland - zu erkennen. Vom Gebot zur Landesordnung: Das umschloß nicht nur juristische, sondern auch verfassungsgeschichtliche und kulturelle Entwicklungen" (61).
Dass auch ein Blick in schon lange edierte Quellen noch neue Einsichten zu Tage fördern kann, zeigt Manfred Schulze anhand der durch Wülcker/Virck vor einem Jahrhundert veröffentlichten Berichte des kursächsischen Gesandten beim Reichsregiment, Hans von der Planitz.[3] Schulze zeichnet nach, wie Friedrich der Weise durch seinen Schutz für Luther zunehmend in "außenpolitische" Bedrängnis geriet, welche die Kurwürde des ernestischen Sachsen bedrohte. Kontakte zum Innsbrucker Hof wiesen die Trennung von den radikalen Kräften der evangelischen Bewegung im eigenen Herrschaftsbereich als Weg zur Entschärfung des gespannten Verhältnisses zum Kaiser. Karlstadts Landesverweisung nach Luthers Visitation in Orlamünde (18. September 1524) hat somit auch eine außenpolitische Dimension, über die sich offensichtlich weder Luther noch die bisherige Forschung im Klaren waren.
Die Komplexität von Kontinuität und Diskontinuität vermag auch Berndt Hamm mit seinem Beitrag über den Umgang von reformatorisch gesinnten Stadtschreibern mit den innerreformatorischen Konflikten um die Abendmahlsfrage und das Täufertum aufzuzeigen. Trotz der vom Verfasser in früheren Arbeiten vorgetragenen These vom "Systembruch"[4], den die Reformation gegenüber dem spätmittelalterlichen Gradualismus darstellte, zeigt er anhand der Stellungnahmen des Memminger Stadtschreibers Georg (Jörg) Maurer und seines Straßburger Kollegen Peter Butz wie in ihrer irenischen Haltung in der Abendmahlsfrage die spätmittelalterlichen Ideale des politischen und sakralen Wertekonsenses und des "gemeinen Nutzens" fortwirkten. Daher wollten sie die Streitfrage der Realpräsenz nicht zu den Hauptpunkten des Christentums zählen, in denen Einigkeit bestehen müsse. Anders dagegen der Nürnberger Lazarus Spengler, der die im lutherischen Sinn interpretierte Treue zum Wort Gottes über das kommunale Interesse der Konfliktbeschwichtigung stellte. Zurecht hebt Hamm die Position eines vertraulichen Gutachtens von Spenglers Nürnberger Kollegen Georg Frölich hervor, das für eine umfassende Toleranz der Obrigkeit nicht nur für "Zwinglianer" und Täufer, sondern auch gegenüber "Pabstischen", Juden und Türken eintrat, ohne mit diesen im Geringsten zu sympathisieren. Die vermutlich aus humanistischen Wurzeln gespeiste Haltung Frölichs ebenso wie die des streng lutherischen Spengler zeigen, dass auch im kommunalen Horizont Diskontinuität gegenüber dem tradierten städtischen Wertekosmos Folge der Reformation sein konnte ebenso wie eine Kontinuität sichernde Amalgamierung in Gestalt der irenischen Positionen der Straßburger und Memminger Vertreter. Die Pluriformität der historischen Erscheinungen lässt eine einfache Antwort auf die von Brady aufgeworfene Frage nicht zu.
Susan C. Karant-Nunn möchte zu einem umfassenderen Verständnis der religiösen Praxis der Reformation gelangen, indem sie die liturgische und katechetische Praxis, die Botschaften von Architektur, Ausstattung der sakralen Räume und die Rituale untersucht. Doch kommen ihre Ausführungen, die sie unter den Rubriken "Communality and Individual", "Emotion" und "The Location of the Divine" bietet, weitgehend ohne methodische Überlegungen zu diesen keineswegs leicht interpretierbaren Quellentypen aus und beschränken sich weitgehend auf eher allgemeine Überlegungen. Neue Ergebnisse, die man nicht wenigstens schon in Ansätzen bei Ernst Troeltsch hat lesen können, bringt ihre Herangehensweise kaum hervor.
Horst Wenzel befasst sich in seinem Aufsatz mit der Wechselwirkung zwischen dem Medium des Briefes und dem zum Massenmedium avancierenden Buch. Die massenhafte Verbreitung der Drucke, die Luther wie ein "zweites Pfingstwunder" erschien (207), markiert zweifellos einen Umbruch in der abendländischen Geschichte der Kommunikation, der auf die althergebrachte Briefkorrespondenz stimulierend und standardisierend wirkte, aber auch von dieser beeinflusst wurde. Wenzels grundsätzliche Ausführungen über Möglichkeiten und Grenzen der Gegenwärtigkeit des Abwesenden im Brief führen über den gegenwärtigen Forschungsstand kaum hinaus, zumal sie das für Luther und seine Korrespondenzpartner prägende neutestamentliche Vorbild brieflicher Repräsentanz nur marginal berücksichtigen. Weiterführend ist jedoch der Hinweis auf die Ausdifferenzierung von öffentlichem und privatem Brief unter dem Eindruck der Medienrevolution, wobei es Luther jedoch angesichts seiner Popularität nicht gelang, die Verbreitung seiner privaten Briefe zu unterbinden.
Weitere Beiträge stammen von Heinrich Richard Schmidt, Tom Scott und Constantin Fasolt. Bradys Sammelband profitiert vom Facettenreichtum der thematischen Fokussierungen und von der Bandbreite der Positionen. Kontinuität und Umbruch zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit werden ähnlich wie im eingangs zitierten Band Bernd Moellers zumeist so differenziert dargestellt, dass man sich eine baldige Fortsetzung der Debatte wünscht, da sie weiterführende Aspekte für das Gesamtverständnis dieses Zeitabschnitts hervorbringen dürfte.
Anmerkungen:
[1] Bernd Moeller / Stephen E. Buckwalter (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte; Bd. 199), Gütersloh 1998. Brady gehörte zu den Teilnehmern des Symposions.
[2] Oberman nennt die ältere Luther glorifizierende deutsche Reformationsdeutung, die moderne Sozialgeschichte und die Konfessionalisierungs- und Modernisierungsthese Heinz Schillings.
[3] Des kursächsischen Rathes Hans von der Planitz Berichte aus dem Reichsregiment in Nürnberg 1521 - 1523, ges. von Ernst Wülcker. Nebst ergänzenden Aktenstücken bearb. von Hans Virck, Leipzig 1899.
[4] Vgl. exemplarisch Berndt Hamm: Einheit und Vielfalt der Reformation - oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: ders. / Bernd Moeller / Dorothea Wendebourg: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 57-127, hier: 73-85 (Lit.).
Wolfgang Breul-Kunkel