Rezension über:

Paul Münch (Hg.): "Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; 31), München: Oldenbourg 2001, 474 S., ISBN 978-3-486-64431-9, EUR 74,80
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Rezension von:
Gabriele Haug-Moritz
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Haug-Moritz: Rezension von: Paul Münch (Hg.): "Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München: Oldenbourg 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 11 [15.11.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/11/3550.html


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Paul Münch (Hg.): "Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte

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Der Herausgeber des Bandes, Paul Münch, verfolgte ein ehrgeiziges Ziel, als er "Erfahrung" als heuristische Kategorie der im September 1999 in Essen abgehaltenen dritten Konferenz der "Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit" im deutschen Historikerverband vorgab: Der Erfahrungsbegriff sollte zur verbindenden Klammer der in Essen versammelten FrühneuzeitforscherInnen werden, um, so seine Analyse des Zustandes deutscher Frühneuzeitforschung, die "Mikro- und Makrosphäre, die in der geschichtswissenschaftlichen Rekonstruktion der Vergangenheit häufig nur getrennt wahrgenommen werden" (11), miteinander zu verbinden.

Unter dieser Prämisse vereint der Band 35 Beiträge, die - neben einleitenden Bemerkungen des Herausgebers - sieben Erfahrungsfelder "entsprechend der Bedeutung abzubilden (bestrebt sind), die sie für die Menschen während der Vormoderne vermutlich gehabt haben" (25). Der thematische Bogen ist weit gespannt. Er reicht von der Körpererfahrung, verstanden als die Erfahrung von Gesundheit und Krankheit (Teil 1 - Sektionsleitung: Robert Jütte), in geschlechtergeschichtlicher wie sozialer Differenzierung (Teil 2 - Sektionsleitung: Otto Ulbricht), über die Arbeitserfahrung in der ländlichen Gesellschaft (Teil 3 - Sektionsleitung: Jan Peters), die Erfahrung von Naturkatastrophen (Teil 4 - Sektionsleitung: Jutta Nowosadtko/Ralf Pröve) und die religiösen Erfahrungen in Luthertum, Reformiertentum und Katholizismus (Teil 5 - Sektionsleitung: Rudolf Schlögl) bis hin zu den Erfahrungen der Untertanen mit dem territorialen Justizwesen (Teil 6 - Sektionsleitung: Gerd Schwerhoff) und dem "Staat" (Teil 7 - Sektionsleitung: Martin Dinges).

Unmöglich ist es, im Rahmen einer in ihrem Umfang begrenzten Rezension die einzelnen, in Umfang wie inhaltlicher Differenzierung sehr heterogenen Beiträge vorzustellen. Stattdessen sei danach gefragt, inwieweit die in dem Sammelband gewählte Konzeptualisierung des Erfahrungsbegriffes dazu angetan ist, das selbst gesteckte Ziel, die verschiedenen methodischen Annäherungen an die frühneuzeitliche Geschichte zu integrieren, zu erreichen. Teilt man die Einschätzung Wolfgang Reinhards nicht, dass Erfahrung zu den Grundbegriffen zählt, die sich "nicht oder nur tautologisch definieren lassen" (473), so kommt man nicht umhin - und zahlreiche BeiträgerInnen tun dies mehr oder weniger explizit -, sich Rechenschaft darüber abzulegen, in welcher Weise man den Erfahrungsbegriff zur Grundlage der eigenen Arbeit machen möchte. Dass "Erfahrung" als Kategorie geschichtswissenschaftlicher Forschung in den letzten Jahren "den Status eines positiv wie negativ besetzten Kampfbegriffes zugleich innegehabt" habe (448), konstatiert nicht nur André Holenstein, sondern auch Karl Härter und Martin Dinges.

Als ein Begriff, dem es darum zu tun war, die "Innenwelten der Subjekte" (Münch, 15) zum Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung zu machen, fand die Kategorie "Erfahrung" Eingang in den historiographischen Diskurs und geriet in den vergangenen Jahren ins Kreuzfeuer methodologischer Diskussionen. Erfahrung, konzeptualisiert als "subjektives Erlebnis mit prägendem Charakter" (Ritzmann, 59), das durch "dichte Beschreibung" (Dinges, 417) zu veranschaulichen ist, evozierte - betrachtet man den Beitrag von Ritzmann zu Recht - den Vorwurf, die Geschichtsschreibung in eine neohistoristische Sackgasse zu führen, die in einer "Art 'Geistesgeschichte' des kleinen Mannes und der kleinen Frau" (Reinhard, 473) ende. Erfahrung scheint in einem solchen Verständnis als dem subjektiven Bereich zeitgenössischer Selbstdeutung zugeordnet, wird oftmals - auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes - mit Begriffen wie "Erlebnis" und "Wahrnehmung" gleichgesetzt und vermag damit das genau nicht zu leisten, worin Paul Münch sein erkenntnisförderndes Potenzial ausmacht - die Dichotomie zwischen "subjektiver" und "objektiver" Geschichtsbetrachtung für das Verständnis vergangener Wirklichkeiten fruchtbringend zu überwinden.

Warum ein Erfahrungsbegriff, der Erfahrung mit Subjektivität gleichsetzt, nicht trägt, begründet der Konstanzer Soziologe Hubert Knoblauch in seinem Beitrag theoretisch und veranschaulicht Michael Stolberg am historischen Beispiel eindringlich: Die Vorstellung, dass es dem Menschen möglich ist, eigene authentische Erfahrungen zu machen, ist unhaltbar, denn jede Erfahrung ist - dies sei auch gegen die genau aus diesem Grund wenig tragfähige Unterscheidung von Münch angeführt (19-22) - vermittelte Erfahrung.

Und so wird der Band vor allem an den Stellen interessant, in denen die Beiträger diesen Befund aufgreifen und sich um die definitorische Klärung des Erfahrungsbegriffs bemühen. Gemeinsam ist den Überlegungen von Karl Schlögl, Thomas Kaufmann, Andreas Jolzem, Hubert Knoblauch, Gerd Schwerhoff, Karl Härter und Lothar Schilling, um diejenigen zu nennen, die sich besonders intensiv um ein "neues" Verständnis des Erfahrungsbegriffs bemühen, dass "Erfahrung" nicht als subjektives Erleben, sondern als permanenter Verarbeitungsprozess von Erlebtem verstanden wird, in dem Wahrnehmung, Deutung und Handeln ineinander greifen. Erfahrungen sind "vom Bewusstsein gebildete Erlebniseinheiten" (Knoblauch, 335), die im Spannungsfeld von anderen leiblichen Erfahrungen und dem gesellschaftlich zugeschriebenen, kommunikativ vermittelten Sinn des Erlebens entstehen. Kommunikation ist "das Einfallstor der Gesellschaft ins Bewußtsein" (ebenda), die Schnittstelle zwischen Akteur und Gesellschaft, zwischen "subjektivem" Erleben und gesellschaftlich vorgegebenen "Objektivationen" in Gestalt von Institutionen, Traditionen und gesellschaftlichen Wirklichkeitstheorien. Erfahrungen wirken, da sie zu Erwartungen an die Zukunft werden, handlungsleitend und unterliegen, da sie unauflöslich mit dem geschichtlichen Geschehen verbunden sind, historischen Wandlungsprozessen. Die Erforschung von Erfahrung ist daher immer auch die Erforschung von Erfahrungswandel. Kollidiert das für die Zukunft Erwartete mit dem gegenwärtig Erlebten, verändern sich die erfahrungsstiftenden "Kommunikations- und Handlungsroutinen" (Schwerhoff, 344) und schaffen damit wiederum veränderte Erfahrungsräume.

Kommunikation als "Indikator für die Konstitutionsbedingungen der Erfahrung" (Schlögl, 273) wird zum Schlüsselbegriff einer so verstandenen Erfahrungsgeschichte. Kommunikation freilich nicht in einem engen, allein auf sprachliche Diskurse begrenzten, sondern in einem weiten Verständnis, das auch die symbolisch vermittelte gesellschaftliche Interaktion (Rituale, Zeremonien, et cetera ) einbezieht. Gerade in der Frühen Neuzeit vollzog sich durch die gutenbergsche Erfindung der beweglichen Lettern eine fundamentale Veränderung des gesellschaftlichen Kommunikationsraumes, die "neue", spezifisch frühneuzeitliche Erfahrungsmöglichkeiten schuf. Ein kommunikationsgeschichtlicher Zugriff würde es nicht nur erlauben, frühneuzeitliche Erfahrungsräume in ihrer je spezifischen Zeit- und Standortgebundenheit zu rekonstruieren, sondern auch deren Wandel, von Schlögl für den Bereich der religiösen Erfahrung zumindest angedeutet, in den Blick geraten lassen. Die Konzeption des vorzustellenden Sammelbandes freilich, der in Aufbau wie inhaltlicher Gewichtung allzu sehr dem Verständnis von Erfahrung als subjektivem Erleben verpflichtet ist, lässt den möglichen Erkenntnisgewinn, der mit dem Erfahrungsbegriff auch und gerade für die Frühneuzeitforschung einher geht, allenfalls ansatzweise zu Tage treten. Und so besteht sein eigentliches Verdienst darin, wichtige Überlegungen zu bündeln, die es künftiger Forschung erlauben werden, einen "diffusen" Begriff nunmehr mit größerer theoretischer und methodischer Fundierung für die eigene Arbeit fruchtbar machen zu können. Und insofern löst der Band die Funktion ein, die ihm der Herausgeber zuschreibt - er ist ein Anfang.


Gabriele Haug-Moritz