Rezension über:

Gerhard Diehl: Exempla für eine sich wandelnde Welt. Studien zur Norddeutschen Geschichtsschreibung im 15. und 16. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen; Bd. 38), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2000, 416 S., ISBN 978-3-89534-257-8, EUR 38,00
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Rezension von:
Gabriel Zeilinger
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Gabriel Zeilinger: Rezension von: Gerhard Diehl: Exempla für eine sich wandelnde Welt. Studien zur Norddeutschen Geschichtsschreibung im 15. und 16. Jahrhundert, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 12 [15.12.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/12/2859.html


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Gerhard Diehl: Exempla für eine sich wandelnde Welt

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Schon Reimar Kock, der Lübecker Chronist des 16. Jahrhunderts, führte die im Vergleich zu anderen Gebieten des Reichs geringe Dichte 'sächsisch-wendischer' Geschichtsschreibung als Motivation für seine eigene Beschäftigung mit der Geschichte seiner Heimat ins Feld. Parallel dazu waren Untersuchungen zur norddeutschen Geschichtsschreibung in Spätmittelalter und früher Neuzeit bis vor kurzem mit Ausnahme einiger Studien zur (hanse-) städtischen Historiographie rar gesät. Gerhard Diehls zu besprechende Göttinger Dissertation machte es sich zur Aufgabe, diese Lücke schließen.

Der Autor will ein "Profil der norddeutschen Geschichtslandschaft zeichnen" (18) und wählt dafür bewusst die Zeit zwischen 1400 und 1600, für die sich nach seiner Meinung in besonderer Weise Entwicklungslinien der Historiographie und die "Wirklichkeitswahrnehmung über eine 'Epochenschwelle' hinweg" (18) durch eine werkimmanente Interpretation untersuchen lassen. Dazu stellt Diehl im ersten Hauptteil ("Texte") seiner Untersuchung einige ausgewählte Chroniken und deren Autoren aus verschiedenen Entstehungszusammenhängen - fürstliche Herrschaft, Kloster, Bistum und Landstadt - vor: Dabei macht die "Norddeutsche Klosterchronistik aus dem Umfeld der Bursfelder Kongregation" (24) mit dem Hauptvertreter Johannes Legatius aus Hildesheim (1462-1516), der eine Geschichte seines Klosters Sankt Godehard verbindet mit der Geschichte der Bursfelder Reform, den Anfang. Der zweite Chronist Ertwin Ertmann (um 1430-1505) war Osnabrücker Bürgermeister und bischöflicher Rat, der mit seiner Cronica sive catalogus episcoporum Osnaburgensium den bischöflichen Hof - nicht die Gemeinde der Kathedralstadt - mit der Zusammenstellung geschichtlicher Tradition bediente. Sein Werk ist in der Tat mit "Historiographie als Geschichte des Rechts- und Besitzstandes" (60) des Hochstifts zu charakterisieren.

Eine regelrechte Auftragsarbeit des Grafen Johann V. von Oldenburg war das Chronicon Archicomitum Oldenburgensium des Augustinereremiten, gräflichen Beichtvaters und Prinzenerziehers Johannes Schiphower (gestorben nach 1521). Schiphower hatte, wie Diehl zeigen kann, eine recht zentrale Stellung am überschaubaren Oldenburger Hof inne - in seiner Doppelfunktion von Hofgeistlichem und Hofhistoriographen erinnert er fast an Matthias von Kemnat am Pfalzgrafenhof. Das Abfassen von Schiphowers Chronik ab 1504 fällt in die Zeit der inneren Konsolidierung wie äußeren Behauptung der Oldenburger Herrschaft, deren Geschichte und Rechte Schiphower vornehmlich kompilatorisch zusammentrug. Es folgt die Vorstellung des Chronicon domesticum et gentile des Mindener Stadtkämmerers und bischöflichen Rates Heinrich Piel (1516/17-1580). Das Werk des Protestanten Piel sieht sich zum einen in einer "Traditionsreihe von 'Sachsengeschichten'" (148) und ist zum anderen eine Geschichte seines 'Vaterlandes', das für ihn das Hochstift mit der Landstadt Minden darstellt. Piel schreibt mehr als Ertmann aus der Sicht der Stadt, deren Protektor und Förderer für ihn freilich der Bischof und Stadtherr ist. Interessanterweise treibt sowohl Piel als auch den altgläubigen Hildesheimer Dekan des Heilig-Kreuz-Stiftes, Johannes Oldecop (1493-1574), in besonderer Weise die Sorge vor den weltlichen und machtpolitischen Konsequenzen der Reformation um. Oldecop, ehemaliger Student Luthers und weit gereister Kanoniker, beschränkt sich auf eine Geschichte seiner eigenen Zeit, die er mit ihren kirchlichen Verwerfungen der 'guten alten Zeit' kritisch gegenüberstellt.

Diehl bietet eine gelungene und gründliche Vorstellung und Charakterisierung der von ihm ausgewählten norddeutschen Geschichtsschreiber, ihres sozialen Ortes, ihrer Weltsicht sowie ihrer Schreibintentionen und Methoden. In der Methodik der Chronisten deutet sich im Laufe des Untersuchungszeitraumes ein sukzessiver Übergang von der Kompilation zu Ansätzen quellenkritischer Bearbeitungen an. Die Auswahl der Quellen mit ihren verschiedenen Entstehungszusammenhängen erscheint sinnvoll, wenngleich die Hinzuziehung einer dezidiert städtischen Quelle, zum Beispiel einer Ratschronik, das Bild noch komplettiert hätte. Diehl ist sich dessen bewusst und verweist auf die dazu bereits erfolgten Untersuchungen. Zudem erweitert er seine Quellenbasis erheblich für den zweiten Hauptteil ("Themen") seiner Arbeit, in dem er auch den städtischen Kontext stärker berücksichtigt.

Teilweise parallel zu den Einzeluntersuchungen im ersten Teil, was bisweilen Doppelungen unvermeidlich werden lässt, bildet Diehl in komparatistischer Gesamtschau drei thematische Längsschnitte nach der seit Hugo von Sankt Viktor bekannten Einteilung: Raum, Personen, Zeit und Wandel. Was die Raumdarstellungen und -wahrnehmungen angeht, kann er eine Tendenz zur Regionalisierung wahrscheinlich machen, wobei besonders die Identifikation mit den jeweiligen Hochstiften als 'Vaterland' bei Ertmann, Piel und Oldecop in Abhebung von der größeren Landschaft ('Sachsen') auffällt. Das Scharnier für die Verknüpfung von Universal-, Reichs- und Regionalgeschichte bildet der Gedanke der 'translatio imperii' und die Integration der Sachsen in den Reichs- und Glaubensverband. Dabei sind sich die Chronisten fast durchgehend der 'Reichsferne' des Nordens in kultureller Hinsicht, aber auch durch die "mangelnde Realpräsenz der Herrscher" (249) bewusst. Das Reich wird in den untersuchten Quellen zunehmend transpersonal oder gar - wie zum Beispiel beim Protestanten Piel - dualistisch verstanden, auch durch das Hervortreten der Reichsinstitutionen. Bemerkenswert, wenngleich wenig überraschend, ist das Ergebnis, dass die Türkengefahr in den norddeutschen Texten aus größerer Distanz gesehen wurde und die daraus resultierende Besteuerung gleichsam ein "'negatives' Reichsbewusstsein" (253) erzeugte.

Bei den Personendarstellungen stellt Diehl bei der Untersuchung vor allem von Abts- und Bischofsbeschreibungen oftmals geradezu topische Charakterisierungen in exemplarischen Episoden meist entlang der gängigen (zum Beispiel adligen) Wertvorstellungen fest - ein Befund, der im Rahmen dessen bleibt, was man für das 15. und 16. Jahrhunderts erwartet. Viten werden als 'gestae' dargeboten, in denen allenfalls "exemplarische Individualität" (376) gezeigt wird. Beim Themenfeld 'Zeit und Wandel' geht Diehl zunächst auf die verschiedenen chronologischen Modelle der Zeitgenossen ein. Danach fragt er nach den Eindrücken und Zeugnissen von Wandel bei den Chronisten: Kirchenreform, Reformation, sozialer Aufruhr, generell Altes und Neues. Religiöser Wandel erwies sich bei den betrachteten Chronisten als hervorgehobenes Indiz der Veränderung. Diehl untersucht die Reformation und ihre Einordnung in den Werken am eingehendsten, obgleich man sich im zweiten, strukturellen Hauptteil eine noch ausführlichere Betrachtung dieses Komplexes gewünscht hätte. Es ist aber zu konzedieren, dass dieser Frage bei den Einzeluntersuchungen in Hauptteil I besonders für Piel und Oldecop intensiv nachgegangen wird. Hervorzuheben ist, dass gerade diese beiden Chronisten über die Konfessionsgrenzen hinweg in "Einigkeit herrschender Schichten" (382) den Äußerungen allzu extremen Glaubenseifers beim Gemeinen Mann skeptisch bis warnend gegenüberstanden. Es zeigt sich insgesamt in der Betrachtung der Welt und ihrer Veränderungen ein "von Harmoniestreben geprägte(s) Ordnungsdenken" (382) der gelehrten und meist aus der Oberschicht stammenden Chronisten.

Insgesamt ist es Gerhard Diehl gelungen, eine interpretatorisch solide und gut lesbare Studie zur norddeutschen Geschichtsschreibung im 15. und 16. Jahrhundert vorzulegen, die Lücken der Forschung schließt und gleichzeitig Anregung für weitere vergleichende Untersuchungen zur Chronistik bestimmter 'Geschichtslandschaften' geben könnte.


Gabriel Zeilinger