Ulrich Sucker: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie. Seine Gründungsgeschichte, seine problemgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen (1911-1916) (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 3), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 228 S., ISBN 978-3-515-07912-9, EUR 46,00
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Als im Jahr 1911 die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) ins Leben gerufen wurde, waren sich die Beteiligten schnell einig, dass neben Chemie und Physik ebenso die Biologie intensiv gefördert werden sollte. Damit wurden nicht nur Forderungen von verschiedenen Wissenschaftlern, sondern auch von privaten Geldgebern aufgegriffen, die ihre Spenden explizit für biologische Forschungen verwendet sehen wollten. Eine wichtige Vorbildfunktion übten zudem die USA aus, wo schon eine starke Förderung der Biologie eingesetzt hatte. Die Kaiser-Wilhem-Gesellschaft plante daher frühzeitig den Aufbau eines biologischen Instituts, dessen Gründungsgeschichte Ulrich Sucker in seiner Habilitationsschrift untersucht hat. Die Arbeit wurde bereits 1987 von der Humboldt-Universität in Berlin angenommen und jetzt in unveränderter Form in der von Rüdiger vom Bruch und Eckart Henning herausgegebenen Reihe "Pallas Athene" publiziert.
Sucker geht es in seiner Arbeit um "die Aufdeckung des innerwissenschaftlichen Musters der Biowissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts" (15). Die Gründungsgeschichte des 1916 in Berlin-Dahlem eröffneten Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Biologie liefert dazu das notwendige Material. Was Sucker interessiert, sind die problemgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Vorraussetzungen dieser Institutsgründung, die im Prozess des "agenda setting" - der Suche nach dem zu realisierenden Forschungsprogramm - deutlich werden. Andere Aspekte der Institutsgründung, zum Beispiel Fragen der Finanzierung, werden von Sucker demgegenüber bewusst ausgeblendet (18). In der mittlerweile überholten, Mitte der Achtzigerjahre aber noch aktuellen Unterscheidung von internalistischer und externalistischer Wissenschaftsgeschichte würde Suckers Arbeit mit dieser Ausrichtung sicherlich das erstgenannte Lager repräsentieren.
Der vielfach gesehenen Notwendigkeit, biologische Forschung zu fördern, standen um die Jahrhundertwende große Unsicherheiten über den eigentlichen Gegenstandsbereich der Biologie gegenüber. Anders als Chemie und Physik war sie noch nicht allgemein als eigenständige naturwissenschaftliche Disziplin anerkannt. Biologische Forschung zielte auf ein sehr heterogenes Wissensgebiet, das von konkurrierenden, theoretischen und methodischen Ansätzen geprägt war und auch Raum für naturphilosophische Spekulationen ließ. Mit dem Aufkommen neuer experimenteller Methoden im späten 19. Jahrhundert wurde zudem eine Umbruchphase in den Biowissenschaften eingeläutet, in der sich unter ihren Vertretern erst allmählich ein neues Selbstverständnis herausbildete.
Vor diesem Hintergrund verlangten die Planungen für das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie ganz besondere Weitsicht. In Abstimmung mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gab das preußische Kultusministerium deshalb nicht weniger als 30 Gutachten bei namhaften Biologen und Medizinern in Auftrag, die zukunftsträchtige Felder biologischer Forschung identifizieren sollten. Sucker hat diese Gutachten erstmals systematisch historiographisch ausgewertet und ins Zentrum seiner Arbeit gestellt, ohne sich allerdings auf diesen Quellenbestand zu beschränken. Seine Leitfrage ist, inwieweit die Gutachten "dem objektiven Entwicklungsstand der Biowissenschaften zu dieser Zeit entsprachen und das wissenschaftliche Profil des 'KWI f. Biologie' beeinflussten" (17).
Bevor er sich den Planungen für das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie zuwendet, diskutiert Sucker den Stand der Biowissenschaften zur Jahrhundertwende. Dabei benennt er die Genetik und Entwicklungsphysiologie als "die entscheidenden progressiven disziplinären Trends" (23), mit denen sich die experimentell-empirische Methode in den Biowissenschaften durchzusetzen begann. Obwohl daraus eine gewisse Integration biologischer Forschung resultierte, macht Sucker deutlich, dass es sich bei der Biologie eben nicht um eine einzelne Disziplin, sondern um ein Ensemble von Einzeldisziplinen handelte. Diese heterogene Struktur war Ausdruck eines fortschreitenden Ausdifferenzierungsprozesses, der sich nicht zuletzt in dem höchst variablen Gebrauch des Begriffs "Biologie" niederschlug. So wurde Biologie häufig mit einzelnen Forschungsfeldern gleichgesetzt, zum Beispiel der Ökologie und Verhaltenskunde, aber auch mit einer spezifischen Methodik und dann im Sinne von experimenteller Biologie verwendet.
Diese heterogene Struktur spiegelt sich, wie Sucker ausführlich darstellt, in den Gutachten wider, die sich in ihrer individuellen Schwerpunktsetzung teilweise stark unterschieden. Im preußischen Kultusministerium war man damit vor das Problem gestellt, aus der Fülle vorgeschlagener Sachgebiete auszuwählen. Anfang Januar 1912 wurde dazu vom Ministerium eine Sitzung der Gutachter einberufen, auf der sich ein gewisser Konsens zugunsten der Förderung der experimentellen Biologie einstellte. Als mögliche Forschungsfelder kristallisierten sich Vererbungs- und Entwicklungslehre, Bakterien- und Protistenforschung, Hirnforschung sowie experimentelle Physiologie heraus. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beschloss daraufhin die Einrichtung einer Vorbereitungskommission für das zu gründende Institut, in die neben anderen der renommierte Würzburger Entwicklungsbiologe Theodor Boveri berufen wurde. Die genauen Umstände der Kommissionsbildung konnte Sucker nicht eruieren (152). Ebenso ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Aufbau und die zukünftige Leitung des Instituts schließlich gerade Boveri übertragen wurden. Als Ergebnis lässt sich jedoch mit Sucker eine "Personalisierung des Problems der Institutskonzeption" (151) festhalten.
Boveri erarbeitete bis September 1912 ein Konzept, in dem er die Forschungsinhalte und die Organisationsstruktur für das neue Institut darlegte. Als zentrale Forschungsfelder benannte er die Entwicklungsphysiologie, Vererbungslehre sowie Protistenkunde, wobei er besonderes Gewicht auf die experimentelle Forschung legte. Im Übrigen wollte er den zu berufenden Forschern, für die er ebenfalls Vorschläge unterbreitete, größtmögliche wissenschaftliche Freiheit bei der Arbeit gewähren. Nachdem Boveri sein Konzept der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vorgelegt hatte, bereitete man dort zügig dessen Umsetzung vor. Mitte des Jahres 1913 trat Boveri jedoch aus gesundheitlichen Gründen von der zukünftigen Leitung des Instituts zurück. Als Ersatz wurde im Oktober Carl Correns, einer der drei "Wiederentdecker" der mendelschen Gesetze, gewonnen. Durch diesen Personalwechsel wurde das Profil des Instituts nun zugunsten einer stärkeren Betonung der Vererbungsforschung verschoben und insbesondere um deren botanische Variante, die das Fachgebiet von Correns war, erweitert. An Boveris Gesamtkonzept änderte sich jedoch wenig und auch die personelle Besetzung der einzelnen Abteilung wurde seinem Vorschlag gemäß durchgeführt.
Suckers zentrale These ist, dass für "die Entstehung des 'KWI für Biologie' [...] in erster Linie dringende eigene Bedürfnisse der biowissenschaftlichen Entwicklung maßgebend [waren], sodass diese Zusammenhänge für die Rekonstruktion der Gründungsgeschichte wesentlich sind" (198). In der Tat gelingt es dem Autor, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie mit seinem progressiven und - wie sich bald zeigen sollte - höchst erfolgreichen Forschungsprofil als Ergebnis des Umbruchs in den Biowissenschaften der Jahrhundertwende verständlich zu machen.
Suckers kenntnisreiche und nah an den Quellen erzählte Geschichte zeigt freilich auch, dass Forschungsprogramme nie für sich alleine stehen, sondern immer mit konkreten Personen verbunden sind, die ganz unterschiedlich erfolgreich ihre Interessen durchsetzen. Wirklich verständlich werden diese Dynamiken aber wohl nur Leserinnen und Leser, die sich mit einer gehörigen Portion biologiegeschichtlichen Vorwissens an die Lektüre des Buches machen. Ohne dieses lassen sich die meisten der bei Sucker auftauchenden Akteure nur schwer einordnen. Ähnliches gilt für die sehr sparsame Einbettung der Problemgeschichte in den gesellschaftlichen und wissenschaftspolitischen Kontext des späten Kaiserreichs. Das ist schade, denn für die in seiner Arbeit letztlich aufgeworfene Frage nach der politischen Steuerbarkeit von Forschung hätte sich durchaus auch ein der Biologiegeschichte ferner Leserkreis interessieren können. Die Herausgeber hätten daher gut daran getan, auf eine entsprechende Überarbeitung zu drängen.
Thomas Wieland