Rezension über:

Insa Mareike Rega: Die sowjetische Neubesiedlung des nördlichen Ostpreußen bis 1950. Am Beispiel von vier Landkreisen (= Schriften der J. G. Herder-Bibliothek Siegerland e.V.; Bd. 35), Siegen: Herder-Bibliothek 2002, 136 S., 1 Faltkarte, ISBN 978-3-936355-35-2, EUR 18,00
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Rezension von:
Eckhard Matthes
Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Eckhard Matthes: Rezension von: Insa Mareike Rega: Die sowjetische Neubesiedlung des nördlichen Ostpreußen bis 1950. Am Beispiel von vier Landkreisen, Siegen: Herder-Bibliothek 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 7/8 [15.07.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/07/3348.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Insa Mareike Rega: Die sowjetische Neubesiedlung des nördlichen Ostpreußen bis 1950.

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Im WS 1998/99 wurde die hier zu besprechende Studie an der Universität Freiburg als Magisterarbeit vorgelegt. Sie gehört zu den wenigen akademischen Abschlussarbeiten aus den 1990er-Jahren in Deutschland, für die russische Archivalien zur Erforschung der Nachkriegsentwicklung im nördlichen Ostpreußen ausgewertet wurden. Neben den Arbeiten von Luschnat zur Lage der Deutschen [1], von Hoppe zur Stadtentwicklung [2] und von Brodersen zur Frage der Industriearbeiter [3] liegt nun auch zum ländlichen Sektor eine Pionierarbeit vor.

"Die sowjetische Besiedlung und damit die Errichtung einer sowjetischen Gesellschaft sowie der Aufbau verschiedener Wirtschaftszweige im Gebiet des nördlichen Ostpreußen" (1) wird für vier Landkreise untersucht. Ausgangspunkt ist zunächst "der politische Rahmen für die sowjetische Neubesiedlung" (Kapitel 2). Es folgen Einzelheiten "zur sowjetischen Neubesiedlung im Kaliningrader Gebiet" (Kapitel 3), weiterhin Darstellungen zu "Aufbau und Entwicklung der Landwirtschaft" (Kapitel 4) und "Aufbau und Entwicklung von Handel, Industrie und Gewerbe" (Kapitel 5). Auf die soziale und kulturelle Infrastruktur gehen abschließend zwei kürzere Abschnitte ein: "Medizinische Versorgung" (Kapitel 6) und "Schulen und kulturelle Einrichtungen" (Kapitel 7).

In einem Anhang werden die Ausführungen durch Aspekte zur Umbenennung der Ortschaften (114-116) durch zwölf Tabellen zur Bevölkerungsentwicklung, zu Kolchosgründungen und zum Bodenbesitz von Nebenwirtschaftsbetrieben (117-127), durch einen Exkurs über die Instandsetzung eines großen Industrieunternehmens (128-131), durch eine Ortsnamenkonkordanz (132-136) und eine Übersichtskarte der behandelten Landkreise ergänzt. Besonders die detaillierte und zuverlässige Aufschlüsselung der benutzten Bestände im Staatlichen Gebietsarchiv Kaliningrad (GAKO) ist von hohem informativen Wert (102-106).

Der Themenrahmen wurde für eine Magisterarbeit weit gesteckt, denn die Autorin schlug ein noch unerforschtes Kapitel der Nachkriegsgeschichte auf, zu dem Grundlagenforschungen bisher fehlen. Hierzu gibt sie wertvolle Anregungen, etwa durch den wichtigen methodischen Schritt, für die Fragestellung drei höchst unterschiedliche Quellengruppen miteinander zu verbinden: die amtliche sowjetische Überlieferung im GAKO, die "Erlebnisberichte" und "Gemeindeschicksalsberichte" aus der Ost-Dokumentation im Bundesarchiv, von denen Teile durch Erlass des Bundesministers des Innern vom 18. März 1975 als "amtliches Schriftgut" eingestuft wurden [4], und die persönlichen Aussagen sowjetischer Neusiedler, die von russischen Historikern interviewt worden waren. Die Aussagen russischer und deutscher Zeitzeugen, die vor der Aussiedlung der Deutschen bis 1948 gemeinsam in Ostpreußen gelebt haben, verdienen die Aufmerksamkeit der Forschung. Dem standen in beiden Ländern lange Zeit ideologische Vorbehalte entgegen. Regas Arbeit trägt zu deren Überwindung bei und lässt erkennen, welche ungehobenen Schätze hier warten.

Der komplexe Vorgang der Neubesiedlung folgte in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Handel und Gewerbe unterschiedlichen und bis heute nicht erforschten Gesetzmäßigkeiten. Aus der nicht minder komplexen Überlieferungslage werden Einzelheiten des neuen sozialistischen Lebens in Ostpreußen sichtbar gemacht und durch viele bisher unbekannte Details belegt: "Die persönlichen Aspekte der Um- und Ansiedlung" (43), "Wie begegneten die sowjetischen Bürger der deutschen Bevölkerung?" (45), "Was erwartete die 1946-1950 neu ankommenden Kolchosbauern und Sowchosarbeiter aus den Gebieten Zentralrußlands im Königsberger/Kaliningrader Gebiet?" (S. 48), welche Folgen hatte "die Übertragung einer anderen Wirtschaftsverfassung" (70) für das Land? Mit den von der Verfasserin in ihrer Arbeit formulierten Leitfragen wird zugleich die Richtung für künftige Forschungen gewiesen.

Besonders zum Aufbau der ländlichen Strukturen hat sie aus der Archivüberlieferung viele Einzelheiten erstmals offen gelegt, die nun, über den Rahmen der Magisterarbeit hinaus, einer weiteren Ergänzung, Durchdringung und Bewertung bedürfen. Auch wenn Rega selbst die Aussagekraft Ihrer Ergebnisse relativiert ("Als pars pro toto für das Gesamtgebiet können die vier Rayons mit ihren Städten dennoch gelten" (100)), legte sie damit eine für andere Landkreise des Gebiets vorbildliche Fallstudie vor und fügte die aus den Archivquellen gewonnenen neuen Erkenntnisse in den aktuellen Zusammenhang der Forschung ein. So folgte sie einem höheren Standard wissenschaftlicher Arbeit als zwei zeitgleich entstandene deutsche Dissertationen [5]: durch saubere Quellenarbeit und ihre kritische Auseinandersetzung mit der früheren und aktuellen Forschung zum Themenumkreis.

Der J.G. Herder-Bibliothek Siegerland ist die Veröffentlichung dieser wichtigen Studie zu danken. Es ist zu wünschen, dass die Pionierarbeit der Autorin auf einer anderen Ebene aufgenommen und fortgesetzt wird: indem vergleichbare akademische Abschlussarbeiten künftig in Deutschland und Kaliningrad thematisch und in der Quellenerschließung koordiniert vergeben werden. Hier läge ein vielversprechender Ansatz möglicher Zusammenarbeit von Historikern beider Länder.

Anmerkungen:

[1] Gerhild Luschnat: Die Lage der Deutschen im Kaliningrader Gebiet 1945-1948, 2. Aufl. Frankfurt a.M. u.a. 1998.

[2] Bert Hoppe: Auf den Trümmern von Königsberg. Kaliningrad 1946-1970, München 2000.

[3] Per Brodersen: Enttäuschte Hoffnungen. Kaliningrader Industriearbeiter und die Neubesiedlung des nördlichen Ostpreußen in der sowjetischen Nachkriegszeit (1945-1953). 1. Teil, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 10 (2002), S. 117-143.

[4] Bundesarchiv Koblenz, Findbuch Ost-Dok. 1 Anhang (Erhebungsbögen), [Koblenz Mai 1975] Vorbemerkung, S. 1.

[5] Vergleiche hierzu die völlig unzureichende Berücksichtigung des Forschungsstandes bei Ruth Kibelka: Ostpreußens Schicksalsjahre 1944-1948, 2. Aufl. Berlin 2001, und Volker Frobarth: Das Königsberger Gebiet in der Politik der Sowjetunion 1945-1990. Mit einer analytischen Betrachtung des Kaliningrader Gebiets in der Politik Rußlands 1991-2000, Berlin 2001.

Eckhard Matthes