Robert Stalla (Hg.): Druckgraphik - Funktion und Form. Vorträge beim Symposium zur Ausstellung "Es muß nicht immer Rembrandt sein ... - Die Druckgraphiksammlung des Kunsthistorischen Instituts München" vom 2. bis 3. Juli 1999, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2001, 192 S., 148 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06296-2, EUR 24,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Robert Stalla (Hg.): Es muss nicht immer Rembrandt sein... - Die Druckgraphiksammlung des Kunsthistorischen Instituts München. Ausstellungs-Katalog Haus der Kunst, München, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 1999, 420 S., 174 Abb., ISBN 978-3-422-06277-1, EUR 29,95
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Dokumentiert sind in den zwei hier vorgestellten Bänden die Ausstellung und die begleitende Tagung der Druckgrafiksammlung des Kunsthistorischen Instituts München: "Es muss nicht immer Rembrandt sein...". Ihr Titel dämpft einerseits die Erwartungen an die Güte der Sammlung. Andererseits öffnet er den Blick - über die altbekannten Meister hinaus auf qualitätsvolle Kunst jenseits der großen Namen.
Vor zweihundert Jahren, am 13. Januar 1803, kündigte Kurfürst Maximilian IV. von Bayern an, dass die Ruedorfer Kupferstichsammlung als Lehrmittelsammlung zum kunsthistorischen Studium an der Landshuter Universität erworben werden sollte. In den folgenden Jahren wurde der Bestand durch weitere Ankäufe erheblich erweitert. 1826 wurde der Bestand der Münchener Universität übertragen.
Nach langem Dornröschenschlaf wurde die Sammlung im Rahmen eines studentischen Projekts unter der Leitung Robert Stallas reanimiert. In Kooperation mit dem Haus der Kunst in München wurde sie reorganisiert, restauratorisch betreut und für die Ausstellung bearbeitet. Im Zuge dieser Arbeiten wurde der Bestand mit dem Computer inventarisiert.
Robert Stalla beschreibt im Ausstellungskatalog das eng mit der Geschichte des Münchener kunsthistorischen Instituts verbundene Schicksal der Druckgrafiksammlung. Sie diente nicht der Lehre über die Druckgrafik speziell, sondern der Kunstgeschichte allgemein. Als Ende des 19. Jahrhunderts fotografische Bildmedien in die Lehre Einzug hielten, verlor die Kupferstichsammlung ihre Bedeutung. Nach 1880 wurden nur noch vereinzelte Stücke dazu erworben. Die gesamte Sammlung ging vorübergehend an die Universitätsbibliothek, wurde mit Büchern und fotografischen Reproduktionen vermischt. Erst in den 1960er-Jahren nutzte Friedrich Piel die Sammlung für die Lehre - nunmehr für die Geschichte der Druckgrafik.
Auf Grund der Missachtung des Bestandes über Jahrzehnte ist erklärlich, dass die einst 8000 Blätter umfassende Sammlung auf heute 2000 geschrumpft ist. Der Verbleib der übrigen 6000 ist unklar, wahrscheinlich wurden sie gestohlen, unter ihnen wichtige Arbeiten Albrecht Dürers.
Stalla klärt auch auf über die wechselnde Systematisierung und Schwerpunktsetzung im Laufe der Zeiten. Die etwas disparaten Reste wurden bei der jüngsten Neuordnung für den Katalog sinnvoll gegliedert. Wie es sich anbot, wurden die Werke eingeordnet in ikonografische Gruppen (christliche Ikonografie, Mythologie) zeitliche (17. Jahrhundert, Altmeister, Kunst um 1800), eine biografische (Künstlerinnen), technische und fünf weitere. 148 Werke umfasst der Katalog, der neugierig macht auf den Gesamtbestand, der wegen seiner überschaubaren Größe hoffentlich bald im Internet zugänglich gemacht wird. Da die Grunddaten bereits in der EDV erfasst sind, dürfte der Aufwand zu bewältigen sein. In der Buchform geht Klasse vor Masse: Jedes Objekt ist ausführlich erläutert und ganzseitig reproduziert. Nur eine kritische Anmerkung dazu: das Lay-out hätte es erlaubt, öfters Blätter im Maßstab 1:1 abzubilden an Stelle geringer Verkleinerungen und sogar Vergrößerungen.
Zwar verheißt der Buchtitel "Druckgraphik. Funktion und Form" eine systematische Untersuchung der Druckgrafik. Als Tagungsband versammelt er jedoch stattdessen exemplarische Beiträge. Sie spannen den Bogen von der italienischen Renaissance bis zu den neuen Medien. Künstlergrafik, Plakatkunst und Reproduktionsfotografie stehen gleichberechtigt nebeneinander. Und neben Formen der Grafik werden verschiedene ihrer Funktionen vorgestellt: Kommunikationsmittel, Reproduktion, Lehrmittel. Die Reihenfolge der Beiträge ist eher lose, mit einer Betonung funktionaler Fragen in den ersten Texten und formaler Aspekte in den weiteren.
Frank Büttner versteht seinen Beitrag "Thesen zur Bedeutung der Druckgraphik in der italienischen Renaissance" als Zusammenfassung der Forschung zu diesem Thema seit den 1970er-Jahren. Gegenüber der älteren Forschung mit ihrer Fixierung auf die "Genieästhetik" erkennt er als wichtigsten Ertrag die positive Neubewertung der reproduzierbaren Kunst generell und somit auch der Renaissancegrafik. Auf wenigen Seiten führt Büttner in die Thematik ein, ohne ins Detail gehen zu können. Seine Thesen eignen sich gut als Einführungstext über die topografische und zeitliche Eingrenzung hinaus.
Von dem Diskurs über die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks in der Moderne führt Norberto Grammaccini zurück in eine ähnlich gelagerte Debatte: "Die Rechtfertigung der Druckgraphik als reproduzierende Kunst. Zur Diskussion in den Quellen des 18. Jahrhunderts" in Frankreich. Was sich in der Geschichte der Kupferstichsammlung des Münchner Instituts spiegelt - die Umbewertung der Druckgrafik vom Medium zum Kunstobjekt - wurde ehedem vor allem von den ausführenden Künstlern betrieben. Grammaccini bezieht aber auch weitere Funktionen ein, wie den pädagogischen und nationalen Nutzen der Druckgrafik.
Werner Teleskos Beitrag "Das Thesenblatt: Gestaltwandel und Funktionsweise eines frühneuzeitlichen Kommunikationsmittels" zeigt, dass die bislang weitgehend von der Germanistik bestimmte Erforschung dieser Bildgattung auch in der Kunstgeschichte sinnvoll ist.
An Grammaccini knüpft Robert Stalla an mit "'...wird die schöne Kupferstichsammlung zweckmäßig benutzt werden...'. Die Funktion der Druckgraphik im universitären Kunstunterricht des 19. Jahrhunderts". Hier wie dort geht es um didaktische Fragen. Stalla untersucht hier mit umfassender Perspektive das Thema der Ausstellung. In seinem Beitrag im Ausstellungskatalog hatte er den Spezialfall München geschildert und mediengeschichtliche und didaktische Fragen nur skizziert. Hier widmet er sich letzteren Problemen ausführlicher und fügt weitere Studien an, über die Sammlungen der Universität Göttingen und der ETH Zürich. Interessant sind vor allem seine Schilderungen des unterschiedlichen Gebrauchs der Druckgrafik. Stalla filtert vier Hauptfunktionen heraus, von der Erwerbung von Denkmälerkenntnis bis zur Vorlage für den Zeichenunterricht.
Posthum abgedruckt ist das Redemanuskript von Hermann Bauers "Bemerkungen zur Bedeutung von Dürers Druckgraphik". Bauer kommentiert kurz einige von Dürers wichtigsten druckgrafischen Arbeiten.
Ein sperriger Titel lässt zu Unrecht vor der Lektüre des Aufsatzes von Christiane Wiebel zurückschrecken: "Graphische Bildzyklen im Kontext universaler Weltsicht. Überlegungen zur instruktiven Funktion allegorischer Bilderfolgen in der niederländischen Grafik des 16. Jahrhunderts am Beispiel von Cornelis Corts Folge der 'Sieben Freien Künste'". Wiebel erörtert nicht nur die Ikonografie der Artes Liberales innerhalb der Druckgrafik, sondern zeigt sich ebenso kundig in ikonologischen und funktionsgeschichtlichen Fragen. Corts Zyklus wird von Wiebel in den Zusammenhang mit Sittenlehren und sogar der frühen Museumsgeschichte gestellt. Weltordnung und Ordnung der Dinge in kunst- und Wunderkammern rücken hierbei zusammen.
Einem originellen Künstler begegnet Wolfram Morath mit einer originellen Problemstellung. In "Ein Grenzgänger im Zentrum des barocken sensus allegoricus: der holländische Landschaftsradierer Hercules Segers. Strukturen eines bildlichen Phänomens, schematische Analyse der Konzeption und die Kriterien Walter Benjamins". Segers radiertes Oeuvre ist eine bleibende Herausforderung für die Forschung. "Es widerspricht eben einer traditionsorientierten Bilderwartung, daß der landschaftliche Gegenstand und seine bildliche Präsentation sich im Sehen nicht leicht zusammenschließen: daß im künstlerischen Resultat der technisch-instrumentelle Aspekt des druckgraphischen Verfahrens offen zutage liegt, anstatt wie üblich hinter der Suggestion des Motivs zu verschwinden." (67). Um Segers nicht einseitig als Vorfahren der Moderne zu schildern, verweist Morath auf dessen Traditionsverhaftung in seiner Behandlung der Bildthemen. Walter Benjamin kommt ins Spiel, weil Morath ausgehend von dessen Allegoriebegriff Segers Kunst bestimmt: "Allegorisierung nicht als ikonographische Bedeutungszuweisung, sondern als bildnerischer Prozeß" (78).
Auch Bettina Hausler befasst sich - allerdings am Rande - mit Segers: "'An Rembrandt kann keiner vorbei'. Rembrandtismus in der Druckgraphik". Hausler geht einem Spezialfall der Rembrandtrezeption nach. Sie verfolgt Rembrandts Spuren durch die Radierkunst der Jahrhunderte, bis hin zu Picasso und Horst Janssen, anhand von zuvor herausgearbeiteten typischen Merkmalen seiner Kunst.
Wolfgang Holler gibt mit "Das 'Was' und das 'Wie' - Giovanni Battista Tiepolo und seine Druckgraphik" eine problembezogene Einführung in Tiepolos Werk.
Ernst Rebel beschreibt die "Aquatinta. Zwei Wirklichkeiten eines vorindustriellen Druckverfahrens". Von der Beschreibung der reproduzierenden Funktion der Technik "Verwechslungs-Wirklichkeit A" (105) kommt er auf ihre Mutation zu einer primär künstlerischen Technik "Wirklichkeit B" durch Francisco Goya. Leider sehr knapp geraten ist seine abschließende mediengeschichtliche Überlegung zu dem Verhältnis der Aquatinta zu schwarz-weiß-Pressefotos.
Drei Beiträge studieren die Beziehungen zwischen Technik und künstlerischer Intention im Werk einzelner Künstler: Gisela Scheffler ("Zur Wechselwirkung zwischen künstlerischer Absicht und graphischen Techniken im Entstehungsprozeß der 'Sieben Gegenden aus Salzburg und Berchtesgaden [...]' von Ferdinand Olivier"), Margret Stuffmann ("'Randbemerkungen'. Delacroix' Lithografien zu Goethes Faust, Teil I"); Felix Billeter ("Wilhelm Leibl und die Renaissance der Maler-Radierung")
Eine notwendige Grenzverschiebung nehmen drei Aufsätze vor, die sich mit der Fotografie, der Plakatkunst und den neuen Medien befassen, die allesamt eng mit der traditionellen Druckgrafik verbunden sind. Helmut Heß ("'Unnachahmlich treu, aber leicht vergänglich.' Zur frühen Reproduktionsfotografie") untersucht die technische Entwicklung von Reproduktionsverfahren, die auf der Fotografie basierten. Sie lösten handwerkliche grafische Techniken ab (Radierung bis Lithografie) und trugen bei zur stärkeren Trennung der Begriffe des Originals und der Reproduktion. Wolfgang Urbanczik präsentiert "'Die Sechs' - Eine Vereinigung Münchner Plakatkünstler".
Nicht ohne Witz ist, dass der Nestor der Druckgrafikforschung, Walter Koschatzky, das in mehreren Beiträgen eher en passant beschriebene Verhältnis der Druckgrafik zu den Neuen Medien untersucht: "Druckkunst oder Kunstdruck? Zur Frage von Original-Graphik und neuen Medien". Koschatzkys kurzer Essay knüpft an Heß' Beitrag zur Reproduktionsfotografie an und skizziert die Entwicklung bis in die neueste Zeit. Die Trennung zwischen Originalgrafik und Reproduktion verschwimmt seit einigen Jahrzehnten zusehends. Verantwortlich dafür sind sowohl die Experimentierfreude zahlreicher KünstlerInnen der Pop Art und anderer Kunstrichtungen als auch die Verlockungen des Marktes. Selbst Oskar Kokoschka ließ frühe Zeichnungen fototechnisch in Lithografien umwandeln. Als in jüngerer Zeit als Gegenbewegung wieder einmal das Originalkunstwerk, geschaffen mit handwerklichen Techniken, eine Renaissance erfuhr, wurden computergestützte grafische Verfahren entwickelt. Koschatzky plädiert für die unvoreingenommene Würdigung der "Computer-Medien". Er sieht keine Konkurrenz zwischen manuellen und elektronischen Künsten, besteht aber darauf, dass sie nicht über einen Kamm geschoren werden.
Losgelöst von den übergreifenden Fragen des Symposions beendet ein weiterer Aufsatz Koschatzkys über "Graphische Kunst in Österreich" im 20. Jahrhundert den Band, eine knappe Einführung. Sie nennt auch KünstlerInnen der jüngeren Generation, legt aber ihren Schwerpunkt auf die 1960er und 1970er mit Hrdlicka, Hundertwasser und Rainer.
Beide Bände sind sorgfältig gestaltet und qualitätvoll illustriert. Die Zahl der Druckfehler hätte gerne verringert werden dürfen. Die Texte sind überwiegend nicht zu speziell gefasst, sodass sich bei der Lektüre immer wieder Querverbindungen ergeben. Angesichts der Reichhaltigkeit des Inhalts fallen die Kritikpunkte - die hier auszuführen nicht möglich ist - nicht ins Gewicht. Robert Stalla und sein studentisches Team haben mit ihrem Projekt eine schöne und wissenschaftsgeschichtlich interessante Sammlung wieder belebt und mit dem lesenswerten Aufsatzband der Druckgrafikforschung ein gutes Forum geboten.
Christoph Danelzik-Brüggemann