Jutta Weber: Umkämpfte Bedeutungen. Naturkonzepte im Zeitalter der Technoscience, Frankfurt/M.: Campus 2003, 318 S., ISBN 978-3-593-37140-5, EUR 39,90
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Seit dem letzten Jahrhundert wird in den Wissenschaften eine Auseinandersetzung um den Naturbegriff geführt, die eine tief greifende gesellschaftliche Orientierungskrise signalisiert. Der Singular dieses Zentralbegriffes der europäischen Kulturgeschichte unterstellt in der Vielfalt seiner häufig weit in die antike Vergangenheit reichenden Verständnisweisen mittlerweile eine problematische Einheit, die sich nur noch auf eine schmale Bedeutungsschicht bezieht. Natur hieß traditionell zumeist das Gegebene, von selbst Daseiende und sich Verändernde, das nicht vom Menschen Gedachte oder Geschaffene. In den Motiven, die diese Naturverständnisse fragwürdig gemacht haben, reflektieren sich Verschiebungen in den menschlichen Existenzbedingungen, von denen vor allem zwei herausragen: der machtvolle Zivilisations- und Industrialisierungsprozess, der die ursprünglich vom Menschen unberührte Natur immer weiter zurückgedrängt, überformt und ersetzt hat, und die stürmische Entwicklung der Naturwissenschaften, welche die technischen Eingriffsmöglichkeiten in die Natur sprunghaft erhöht hat.
Der Streit um den Naturbegriff ist auf die Frage fokussiert, ob bei der zunehmend anthropogenen Weltgestaltung zu Recht noch von Natur als dem unabhängig vom Menschen Gegebenen die Rede sein kann. Grob gesprochen, entfaltet sich die Kontroverse zwischen zwei Extrempositionen. Auf der einen Seite argumentieren (meist geisteswissenschaftliche) Vertreterinnen und Vertreter von kulturalistischen Auffassungen, bei dem mit Natur Bezeichneten handele es sich um ein wandelbares soziales Konstrukt, dessen Bedeutung ganz in den menschlichen Erkenntnisbedingungen aufgehe; auf der anderen Seite stehen (oft wissenschaftstheoretische) Naturalisten, für die Natur auf eine unabhängig vom Menschen bestehende, auch die kulturelle Welt bestimmende Wirklichkeit verweist.
Jutta Webers Buch handelt von einem wichtigen Aspekt dieses Streites. Mit dem Ausdruck "Technoscience" sind die in der Moderne typische Verschränkung von Wissenschaft und Technik sowie ihre Auswirkung auf die Forschungsgegenstände und -bedingungen gemeint. Zur Technoscience gehören damit so unterschiedliche Phänomene wie Großtechnologien, die wachsende Technisierung der Lebenswelt, die Militarisierung der Forschung sowie der enge Zusammenhang von Staat, Industrie und Naturwissenschaft (130ff.). Am Rande wissenschaftlicher Präzision verschmelzen in diesem Begriff Bedingungen und Folgen von Industrialisierung und naturwissenschaftlich-technischer Wissensproduktion. Weber behauptet, dass die erkenntnistheoretischen und ontologischen Annahmen der Technoscience ein "kybernetisches" Naturverständnis begründeten, das durch eine "Fusion von Kybernetik bzw. Informationswissenschaften und Biowissenschaften" (47) bisher bestehende Unterscheidungen von Organischem und Anorganischem sowie von Physischem und Nichtphysischem aufhebe (41ff.).
In der näheren Charakterisierung dieses vermeintlich neuen Naturverständnisses hebt Weber allerdings einseitig die Beseitigung der Differenz von Organischem und Anorganischem hervor (156ff.). In der "Artifical-Life-Forschung", die einen Hauptgegenstand der Untersuchung bildet, sei man darum bemüht, Prinzipien des Lebendigen zur Konstruktion von maschinellen Artefakten anzuwenden und umgekehrt maschinelle Verfahrensweisen zum Verständnis des Lebens heranzuziehen. Computer sollen belebt und Organismen als informationsverarbeitende, nur graduell von Apparaten unterschiedene Systeme erkannt werden. Weber steht diesen Versuchen, die ihrer Meinung nach zur "Entfremdung und Verdinglichung von Mensch und Lebenswelt" (115) führen, ablehnend gegenüber.
Obwohl die Artifical-Life-Forschung noch weit von ihren Zielen entfernt ist (211ff.), ist die ihr zugrunde liegende Idee allerdings alles andere als neu. Sie steht in der Tradition der auf René Descartes und andere zurückgehenden Aufhebung der antiken Differenz von Natur und Technik, deren teleologische Elemente - wie Weber zutreffend bemerkt (45 und öfter) - gleichwohl in ihr fortleben. Webers Kritik zielt aber nicht nur auf die Aufrechterhaltung dieser Differenz, sondern auch auf die Bewahrung des bis heute maßgeblichen Nachfolgemodells, der Trennung von Natur und Geist (248ff.), was Weber wider Willen in bedenkliche Nähe zu den theoretischen Annahmen ihrer Kontrahenten bringt.
In seiner Differenz zur Natur bezeichnet "Geist" die unabhängig vom Physischen bestehenden mentalen Vermögen. Die von den Vertreterinnen und Vertretern der Technoscience erhoffte und propagierte technische Neuerschaffung der Welt setzt gerade diese Unabhängigkeit voraus. So wird von den postulierten informationstheoretischen Lebensprinzipien behauptet, dass sie als ideelle Codes unabhängig von der besonderen Form ihrer materiellen Realisation gelten würden. Diese Materiefreiheit organischer Strukturannahmen ist dem nichtphysischen Charakter des rationalistischen Geistbegriffes der Neuzeit verwandt. Auch das von der Technoscience propagierte Ziel einer Welt ohne Krankheiten und andere natürliche Leiden geht von der Vorstellung des menschlichen Geistes als eines omnipotenten Konstrukteurs dieser Welt aus.
Webers Untersuchung arbeitet heraus, dass zwischen der Semantik der technizistischen Weltgestaltungsfantasien und derjenigen der kulturalistischen Positionen enge Wechselbeziehungen bestehen. Für Letztere analysiert sie exemplarisch die Erkenntniskritik von Jacques Derrida, Niklas Luhmann und Bruno Latour. Deren gemeinsame Tendenz zur "Subjektivierung der Erkenntnis" vereitle "eine kritische Revision des aktuellen definitionsmächtigen Naturbegriffs der Technokultur" (16). Als Alternative schlägt Weber in Orientierung an Donna Haraway und Slavoj Žižek eine Strategie der "Denaturalisierung" vor, die "zwar auch die Grenzziehung zwischen Konstruktion und Gegebenem [...] hinterfragen [müsse ...], aber [...] die Idee von Nichtdiskursivem, von Natur als Negativität, als Nicht-Sagbares, Inkommensurables, als etwas, das nicht in den diversen kulturellen Logiken aufgeht, bewahr[e]" (75). Während für die dargestellten kulturalistischen Positionen bezeichnend sei, dass sie "wenig [...] auf ihre Erzählpraktiken reflektieren" (109), lege die Denaturalisierungsstrategie ihre eigenen "erkenntnistheoretischen, ontologischen und politischen Optionen" offen (294).
Denaturalisierung grenzt sich damit nicht nur vom Kulturalismus, sondern auch vom Naturalismus ab, den man in den Natur- und Ingenieurwissenschaften verbreitet findet. Ihm zufolge sind die durch die Technoscience ermöglichten Veränderungen der Welt nicht "gesellschaftlich und politisch auszuhandeln", sondern durch vorgegebene Naturgesetze determiniert (115). Demgegenüber steht Weber auf der Seite derjenigen, die auf die Gestaltung der Lebensbedingungen gesellschaftlichen Einfluss nehmen wollen, ohne die Begrenzung ihrer Handlungsmöglichkeiten durch eine unhintergehbar eigensinnige Natur zu verkennen. Die dabei unterstellte Handlungsautonomie wird vom Naturalismus nicht zuletzt deshalb bestritten, weil sie in die neuzeitliche Tradition eines mit Natur kontrastierten Geistes fällt.
Weber kommt das Verdienst zu, einen Ausschnitt der komplexen Auseinandersetzung um den Naturbegriff vor dem Hintergrund der neuesten Forschungen im Artifical-Life-Bereich einer informativen und zugleich kritischen Bewertung unterzogen zu haben. Ihre Untersuchung leidet an der Überschätzung des Einflusses der Technoscience. Die lebensweltliche Kommunikation, der öffentliche Diskurs und die ästhetischen Wahrnehmungsformen sind längst noch nicht von den Eigenschaften einer nur durch Kybernetik oder einen sonstigen wissenschaftlichen Zugang verstehbaren Natur dominiert. Dem entspricht eine nach wie vor wirksame Vielfalt von Thematisierungsmöglichkeiten der Natur, die sich auch traditioneller Bedeutungen bedient. Eine kritische Theorie der Natur, zu der Weber sicher einen Beitrag leistet, sollte sich nicht auf die Ausarbeitung einer Position gegen eine zum Epochenphänomen stilisierte Technowissenschaft beschränken, sondern der Pluralität von Erfahrungen und Bedeutungen auch nichtwissenschaftlicher Naturbegriffe gerecht werden.
Gregor Schiemann