Dietrich Beyrau / Rainer Lindner (Hgg.): Handbuch der Geschichte Weissrußlands, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 543 S., 5 Abb., 6 Karten, 1 Zeittafel, ISBN 978-3-525-36255-6, EUR 79,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Auch über ein Jahrzehnt nach dem Zerfall der Sowjetunion ist Weißrussland bis in Kreise der Wissenschaft hinein so etwas wie ein weißer Fleck auf der Landkarte geblieben. Als Orientierungshilfe für ein breiteres Publikum versteht sich der vorliegende Versuch einer historischen Gesamtschau. Das Werk besteht aus drei Teilen höchst ungleichmäßigen Umfangs, ergänzt durch einen Anhang mit Karten, Zeittafel und Bibliografie sowie Personen- und Ortsregister. Sehr kurz mit nur zwei Unterkapiteln ist der erste Hauptteil "Historiographie und Heraldik" gehalten. Hier hätte man zusätzlich einen Überblick über die Quellenlage erwarten können, zumal sich der entsprechende Abschnitt der Bibliografie - abweichend von der sonst verfolgten Praxis - auf westlichsprachige Titel beschränkt. Es folgt ein chronologischer, bis in die Gegenwart fortgeführter Durchgang durch die weißrussische Geschichte, dem sich Darlegungen zu ausgewählten Sachthemen anschließen. Die Überschrift dieses dritten und mit Abstand längsten Hauptteils "Aspekte der Sozial- und Kulturgeschichte" macht bereits deutlich, dass es sich bei dem Band eher um ein Sammelwerk als um ein Handbuch im klassischen Sinne handelt.
Eine gewisse Beliebigkeit von Themen, Fragestellungen und Ansätzen ist vielleicht aber unvermeidlich und dem Gegenstand letztlich auch angemessen: Entzieht sich weißrussische Geschichte als Geschichte eines Territoriums und seiner Bewohner doch einem einfachen Zugriff nach dem Muster nationalgeschichtlicher Meistererzählungen. Die Einführung der Herausgeber benennt diese Probleme in wünschenswerter Deutlichkeit. Dass sich nicht sämtliche Texte auf einem methodisch ähnlich reflektierten Niveau bewegen, kann angesichts des breiten Spektrums von Autorinnen und Autoren nicht weiter überraschen. Dem Leser präsentiert sich der Band als eine Kombination von Außen- und weißrussischer Binnensicht. Stark vertreten, vor allem durch Angehörige der jüngeren Generation, ist die deutschsprachige Albaruthenistik, aber auch führende Experten aus dem angelsächsischen Bereich konnten gewonnen werden. Wenn der Überblick über die vormodernen Eliten von einer polnischen Historikerin (Teresa Zielińska) stammt, die Geschichte der bäuerlichen Bevölkerung dagegen von einem Minsker Kollegen (Pavel Lojka) abgehandelt wird, so erscheint dies als ein Abbild historischer Verhältnisse wie historiographischer Traditionen. Auf dieser Ebene spiegelt das Buch auch die Probleme der weißrussischen Geschichtsschreibung wider, in einen konstruktiven Dialog mit der litauischen Seite zu treten. Der Beitrag zur Frühgeschichte des Großfürstentums Litauen (Autor wiederum der Agrarhistoriker Lojka) dürfte in Wilna schwerlich als Wiedergabe des aktuellen Forschungsstandes akzeptiert werden. Dabei ist das Werk als Ganzes sichtlich bemüht, nicht-weißrussischen Anteilen in der Geschichte dieses Gebiets Rechnung zu tragen. Die jüdische Bevölkerung etwa erscheint keineswegs nur als das Objekt von Antisemitismus und Völkermord.
Was die Schreibweise von Eigennamen anbelangt, so wird im Falle eines ethnischen Mischgebietes jeder Festlegung immer etwas Willkürliches anhaften. Dass hier überwiegend der weißrussischen Namensform der Vorzug gegeben wurde, erscheint nachvollziehbar, weniger indes das Prinzip ihrer Wiedergabe: Sie erfolgt im Textteil durchgehend nach der Dudenumschrift. Dies muss den wissenschaftliche Standards gewohnten Benutzer umso mehr irritieren, als keineswegs alle Ausdrücke auch in den Fußnoten oder im Anhang erscheinen, wo die Schreibweise den bekannten Regeln der Transliteration folgt (die selbst ein mittlerweile in dritter Auflage erschienener Reiseführer [1] seinen Lesern glaubt zumuten zu können). Ob dieses Verfahren tatsächlich geeignet ist, die Rezeptionsschwelle für den Nichtfachmann zu senken, darf bezweifelt werden, zumal ihm an keiner Stelle Hilfen für die Aussprache zur Hand gegeben werden. Dabei gehört gerade die Darstellung der vielfach zerklüfteten Sprachenlandschaft Weißrusslands zu den Stärken des Bandes. Einen ähnlich konzisen, kompetenten Überblick, wie ihn Jim Dingley für die Vormoderne bietet, wird man an anderer Stelle vergebens suchen.
Wenn auch manche Wünsche offen bleiben, hat hier doch die deutsche Osteuropaforschung in internationaler Kooperation eine Serviceleistung erbracht, die ihresgleichen sucht - außerhalb wie innerhalb der behandelten Region.
Anmerkung:
[1] Evelyn Scheer: Weißrußland entdecken. Natur und Kultur von Brest bis zum Dnepr, 3. Aufl. Berlin 2002.
Mathias Niendorf