Corinna Dörrich: Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, 272 S., ISBN 978-3-534-15954-3, EUR 49,90
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Schon der Titel der im Wintersemester 1999/2000 als germanistische Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München vorgelegten Arbeit zeigt, dass es sich um eine Untersuchung an der Schnittstelle von historischer und germanistischer Mediävistik handelt. Im Zentrum der Darstellung stehen literarische Texte; die Fragestellung zielt dagegen auf politisches Handeln und seine Ritualisierung, eines der zentralen Themen in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion der beiden letzten Jahrzehnte.
Die literarische Grundlage der Untersuchung bilden drei mittelhochdeutsche Texte (das Gralsritual in Wolframs "Parzival", die Munleun-Episode in Wolframs "Willehalm" und die verschiedenen Fassungen des Versöhnungsrituals zwischen dem Bayernherzog Ernst und Kaiser Otto in der "Herzog Ernst"-Überlieferung). Ob der Verfasserin eine innovative und überzeugende Deutung dieser Texte gelungen ist, muss dem Urteil germanistischer Rezensenten vorbehalten bleiben.
Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bietet die Arbeit von Corinna Dörrich einen doppelten Nutzen: Zum einen stellt sie dem nicht germanistisch vorgebildeten Historiker zentrale Beispiele für Begrüßungs- und Unterwerfungsrituale aus dem Bereich der mittelhochdeutschen Literatur bereit, zum anderen aber gibt sie im ersten Teil ihrer Darstellung eine systematische und mit zahlreichen Beispielen aus der mittelalterlichen Historiographie veranschaulichte Einführung in die nicht leicht zu überschauenden Grundlagen der Ritualtheorie.
Dass beide Teile zwar im Aufbau der Arbeit ineinander verschränkt sind, aber doch weitgehend unverbunden nebeneinander zu stehen scheinen, ist für die Benutzbarkeit ein wesentlicher Vorteil. Da die Auseinandersetzung mit der Theorie des Rituals nicht selektiv auf die für die literarische Interpretation notwendigen Aspekte reduziert wurde, fehlt es der Arbeit zwar äußerlich an Geschlossenheit. Dafür aber bietet sich die Möglichkeit, die Textbeispiele zu überspringen und die einleitenden Abschnitte als Einführung in den Umgang mit mittelalterlichen Ritualen zu lesen.
Zurecht verweist Dörrich einleitend darauf, dass "sowohl der nicht autonome Status literarischer Texte im Mittelalter als auch der für neuzeitliche Vorstellungen oft befremdlich fiktionale Charakter historiographischer Quellen" es erlaubt, beide Texttypen für die Frage auszuwerten, "wie Rituale [...] konstruiert sind und wie mit ihrer Hilfe Bedeutung generiert wird" (6).
Ihre Einführung in die "Poetik des Rituals", das heißt seine "Gemachtheit", gliedert Dörrich in die Abschnitte "Form", "Substanz" und "Funktion". Sie betont zunächst die "Formgebundenheit von Ritualen", insbesondere unter den Aspekten Zeit, Ort / Raum und Kleidung (15-18). Am Beispiel der Krönungsordines zeigt sie sodann auf, dass auch Rituale, die der Verschriftlichung unterlagen, nicht im Formalismus erstarrten, sondern neben einem "Kern von obligatorischen, relativ festen und gleichbleibenden [...] auch austauschbare und flexibel formal herausgehobene Handlungselemente" aufwiesen (18 f.). Am Beispiel der Eheschließung zeigt sie auf, wie "regenerative und generative Aspekte der Form" bei der Veränderung von Ritualen ineinander greifen (20-23). In knapper Form skizziert sie außerdem, wie nach der Doppelwahl von 1198 beide Könige in ihren Ritualen auf das Ritualhandeln ihres Gegenspielers Bezug nahmen (23-25). Bedenkenswert sind auch ihre Hinweise zu den "Ambivalenzen der Form": Gestörte Rituale erscheinen in der Geschichtsschreibung wie in der Literatur oft als Vorzeichen von Unheil. Verstöße gegen die Form der Handlungen können die zum Ausdruck gebrachten Ansprüche unterlaufen, umgekehrt kann aber auch das formgerechte Ritual zur Täuschung eingesetzt werden (25-27).
Unter dem Oberbegriff der "Substanz des Rituals" erörtert Dörrich im zweiten Teil ihrer Untersuchung dann Geltungsbereich und Valenz von Ritualen. Ausgehend von der kontroversen Geschichte des Begriffs in der ethnologischen, soziologischen und historischen Forschung [1] zeigt sie auf, wie sich im Ritual das "Heilige" und das "Profane", Exegese der Handlungen und Erfahrung von Sinnhaftigkeit, symbolisches und instrumentelles Handeln überlagern und jene Multivalenz ermöglichen, die eine "unspezifische Zuschreibung von Sinn erlaubt und zugleich einen Spielraum für die Interpretation ihrer Bedeutung eröffnet (34-43). Die wenigen Beispiele sind geschickt gewählt, etwa das Knien, das (je nach weltlichem oder geistlichem Kontext) zwar Unterordnung, aber auch Demut ausdrückt.
Im Kapitel "Funktion" zeigt Dörrich auf, wie mittelalterliche Rituale Ordnung konstituierten. Sie macht deutlich, dass zwischen Zeremonien, die einen status quo nur zur Schau stellen, und Ritualen, die eine Statusänderung zum Ziel haben, im Mittelalter nicht sinnvoll differenziert werden kann, da soziale und politische Bindungen der ständigen rituellen Erneuerung und Bestätigung bedurften. Rituale konnten aber auch "Funktionen erfüllen, die ihren ordnungsstiftenden Ansprüchen partiell zuwiderliefen", wenn sie "für das Austragen von Konkurrenz und rivalisierenden Ansprüchen instrumentalisiert wurden" (49-54). Ausführlich erörtert sie die Multifunktionalität mittelalterlicher Rituale am Beispiel der Begrüßung (Versicherung von Frieden und Huld, Demonstration von Rang und Status, Ehrerbietung; 54-63).
In der Einleitung des zweiten Teils wendet sich Dörrich schließlich dem oft zu wenig beachteten Problem der Selektion zu. In der Geschichtsschreibung wie in der Literatur kann das Fehlen von Ritualen an Stellen, an denen die Leser sie aufgrund ihres vorausgesetzten kulturellen Wissens erwarten würden, die Rezeption eines Textes entscheidend lenken. In völlig unterschiedliche Richtungen kann der Blick des Lesers auch durch die Auswahl der Teilhandlungen geführt werden, die ihrer Gesamtheit das Ritual konstituieren, als dekontextualisierte Teilinformationen jedoch dem Leser eine spezifische Deutung des Geschehens aufdrängen, das für die Beteiligten keineswegs eindeutig war (67-73).
Die Behandlung der literarischen Beispiele (Begrüßungszenen im Willehalm, 'deditio' im Herzog Ernst) ist dagegen für Historiker, die nicht zugleich germanistische Mediävisten sind, nur von begrenztem Nutzen. Dörrich setzt bei ihren Lesern Kenntnis der Texte und der Handlungsabläufe voraus, aus denen sich die von ihr analysierten Szenen ergeben; auch verzichtet sie darauf, einen Überblick über den Forschungsstand und die Kontroversen zu geben, auf den sie sich bezieht. Im Sinne der interdisziplinären Benutzbarkeit, auf welche die Veröffentlichung in der Reihe "Symbolische Kommunikation in der Vormoderne" zielt, wäre es außerdem wünschenswert gewesen, den mittelhochdeutschen Zitaten eine Übersetzung beizugeben, da nicht alle Historiker mittelhochdeutsche Dichtung so geläufig lesen wie das prosaische Latein ihrer Chroniken und Urkunden.
Zu bedauern ist im Übrigen, dass der Verlag auch bei der Fortsetzung der Reihe "Symbolische Kommunikation in der Vormoderne" die Fußnoten in den Anhang verbannt und ihre Benutzung damit erheblich erschwert hat. Es ist der Arbeit von Corinna Dörrich zu wünschen, dass sie zahlreiche historisch wie germanistisch interessierte Leser und Benutzer finden wird. Kaum anzunehmen ist allerdings, dass darunter auch solche sein werden, die den Wert eines Belegapparates nicht zu schätzen wissen und Fußnoten daher als störend empfinden.
Anmerkung:
[1] Hierzu jetzt ausführlich Philippe Buc: The Dangers of Ritual, Princeton 2001.
Klaus van Eickels