Rezension über:

Hans-Heinrich Nolte / Klaas Bähre (Hgg.): Innere Peripherien in Ost und West (= Historische Mitteilungen. Beihefte; Bd. 42), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 188 S., 8 Karten, ISBN 978-3-515-07972-3, EUR 38,00
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Rezension von:
Alfons Brüning
Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Alfons Brüning: Rezension von: Hans-Heinrich Nolte / Klaas Bähre (Hgg.): Innere Peripherien in Ost und West, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/3621.html


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Hans-Heinrich Nolte / Klaas Bähre (Hgg.): Innere Peripherien in Ost und West

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Der vorliegende Sammelband enthält Beiträge einer Tagung mit dem gleichen Titel und beschließt eine Reihe von Sammelbänden, die in den Jahren 1991 und 1997 erschienen sind und sich mit der gleichen Fragestellung beschäftigen. So wurde zunächst nach "inneren Peripherien" in der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts gefragt, anschließend nach den Nämlichen im 20. Jahrhundert. Auch diese vorangegangenen Bände beruhten auf Tagungsbeiträgen. Hier nun wird die Thematik auf die Gegenwart ausgedehnt. Auf die vorangegangenen Bände wird verschiedentlich unter der Abkürzung "IP I" und "IP II"Bezug genommen, was sich ein Rezensent zu Nutze machen kann.

Durchgängig zugrunde lag dem Unternehmen ein Konzept von "innerer Peripherie", das auch in diesem Band, im Grundsatzreferat des Herausgebers, in seiner Definition vorgestellt wird. Demnach wird als "innere Peripherie" eine Region innerhalb eines Staates verstanden, in der die Bedingungen für Leben und Handeln einzelner Menschen so organisiert sind, dass die Vorteile den Menschen einer anderen Region ("Zentrum") zugute kommen. Eine weiter spezifizierende Unterteilung des Konzepts fragt nach vier Bereichen: Wirtschaft, Sozialstruktur, Politik sowie Ideologie und Religion. Eine enge Definition von "innerer Peripherie" gilt demnach - so will es dieses Schema - einer Konstellation, in der in allen genannten Bereichen ein solches Gefälle zwischen Region und Zentrum zu konstatieren ist. Eine weitere Definition umfasst demgegenüber solche Konstellationen, in denen nicht alle, womöglich nur einer dieser Bereiche betroffen ist.

Ein Rezensent steht zwangsläufig vor dem Problem, es in Wirklichkeit nicht mit einem separaten, sondern mit drei Sammelbänden und den darin niedergelegten Zugängen entlang einer über Jahre und mehrere Etappen entfalteten Systematik zu tun zu haben. So kann es weniger darum gehen, einzelne Beiträge zu kritisieren. Eher sollte - und kann, da das Projekt, wie es scheint, zu einem einstweiligen Abschluss gelangt ist - die Gesamtsystematik, allenfalls auch einige exemplarische Stränge bestimmter Regionen, auf ihre Fruchtbarkeit für weitere Forschungen und Überlegungen befragt werden. Ausdrücklich ist die Konzeption für historische Vergleiche geschaffen worden und darf sich folglich daran messen lassen, inwieweit sie solche auf fruchtbare Weise ermöglicht.

Ursprünglich anregend für die Fragestellung war die liberale Entwicklungspolitik und die dazu kritische Dependencia-Theorie seit den Fünfzigerjahren, doch ist man zu dem in diesem Kontext verwendeten Schlagwort eines (äußeren oder inneren) "Kolonialismus" auf begründete Distanz gegangen. Dagegen sind in die Konzeption der "inneren Peripherie" insbesondere die Systematisierungsversuche von Immanuel Wallerstein eingegangen, der sich vor allem in den 1980er-Jahren mit einer ökonomischen Arbeitsteilung der europäischen Regionen im heraufziehenden weltwirtschaftlich-kapitalistischen System beschäftigt hatte - "The Modern World System" hatte Wallerstein das genannt. Freilich enthält die im vorliegenden und den vorangegangenen Tagungsbänden verwendete Systematik in zweierlei Hinsicht eine erfreuliche Ausweitung von Wallersteins Darstellung. Zum einen nämlich werden die Regionen Ostmittel- und Osteuropas einbezogen, die Bände enthalten Beiträge sowohl zu Tschechien und Polen als auch zu Russland und seinen Regionen. Bei Wallerstein waren diese Gebiete noch ungebührlich knapp oder gar nicht (Russland) behandelt worden (Der Herausgeber, Hans-Heinrich Nolte, ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hannover und vollzieht gleichsam einen Brückenschlag in die andere Richtung, hat dies im Hinblick auf Russland im Übrigen auch schon in weiteren Aufsätzen getan). Zum anderen begrüßt man, dass in die Unterbereiche des Konzeptes "innere Peripherie" auch Religion und Ideologie eingegangen sind, die etwa in Wallersteins recht ökonomisch ausgerichtetem Schema zu kurz kommen.

Aufs Ganze gesehen erscheint das Konzept der "inneren Peripherie" zunächst tatsächlich gut durchdacht und praktikabel, insofern es beispielsweise erlaubt, tatsächliche Abhängigkeiten und Nachteile von Regionen innerhalb eines Staates (der als Bezugsgröße beibehalten wird) zu spezifizieren und gelegentlich auch Fälle auszuscheiden (wie das kurfürstliche Preußen in IP I, oder, im vorliegenden Band, Tschetschenien). Insofern sich die einzelnen Beitragenden diesem Zugang verpflichtet fühlen - in der Regel ist das der Fall -, sind auch in der Tat eine ganze Reihe von verwendbaren Studien zusammengekommen. Zwangsläufig versammeln die drei Bände sehr disparate Beiträge - die genannten Beispiele, die durch solche von Irland und Katalonien bis Polen und der Südukraine zu ergänzen wären, mögen illustrieren, wie weit der Rahmen hier gezogen wird. Europa reicht demnach ohne weiteres bis zum Kaukasus. Man wundert sich dann freilich darüber, wieso Südeuropa (Mezzogiorno!) oder der Balkan so ganz unterrepräsentiert sind, oder, um es anders auszudrücken, warum zwar die Vielvölkerreiche der Habsburger oder Russlands vielfach thematisiert werden, das osmanische Reich hingegen nicht.

Sollte es noch eine andere Erklärung dafür geben als die der wissenschaftsökonomisch begründeten Selbstbeschränkung? Man möchte es beinahe vermuten. Denn es sind nicht nur sehr unterschiedliche Regionen versammelt, sondern auch noch recht unterschiedliche historiografische Schulen. Hierin besteht die inhärente Gefahr, dass sich die Historiografie als eine Unterabteilung des oben genannten Bereiches von "Religion und Ideologie" darstellt, mit anderen Worten, dass sich manch eine Tradition bemüht, gerade die "innere Peripherisierung" und das Zukurzgekommensein der je eigenen Region nachzuweisen. In den Beiträgen beispielsweise zu Irland (von Stephen G. Ellis in IP I) oder Dagestan (von Tamerlan Gadzhiev im vorliegenden Band) spürt man zumindest diese Gefahr - umso mehr ist auch dem Herausgeber positiv anzurechnen, dass dennoch alle Aufsätze erfreulich differenziert und frei von Polemik sind. Ob dies mit den (in den Neunzigerjahren oft tendenziell wieder auf das nationale Pferd setzenden) Historikern Bulgariens, Rumäniens oder gar Serbiens ebenso möglich gewesen wäre? Insofern nicht bisher schon einschlägige Versuche mit "innerer Peripherie" eben daran gescheitert sein sollten, mag es eine Anregung sein, diese Regionen in Zukunft mit einzubeziehen.

Rein methodisch hat dieses Konzept möglicherweise zwei wunde Punkte. Dort, wo wie im Fall Irlands schon von "Peripherien innerhalb der Peripherie" (IP II) gesprochen wird, droht es ein wenig zu Tode differenziert zu werden. Zum anderen ist die Bezugsgröße des Staates auf den ersten Blick etwas problematisch, denn diese ist es, die man in den drei Sammelbänden als eine sehr wandelbare Instanz kennen lernt - einschließlich der Verlagerung von Zentren (von Wien nach Prag oder Brünn, von Moskau nach St. Petersburg und wieder zurück). Die wunden Punkte aber haben, was man eingestehen sollte, ihre Ursache in dem Prozesshaften der Herausbildung und schließlich auch in der Wiedereingliederung dieser "inneren Peripherien", und wenn sich über den in den Tagungsbänden dokumentierten Zeitraum hinweg eines beobachten lässt, dann, dass diese Prozesshaftigkeit zunehmend bewusst und thematisiert wird (Ob aber schon hinreichend?). Das geschieht zuletzt auch mit Beiträgen über die Regionalpolitik in der europäischen Union und mit Rückblicken auf (durchgängig gescheiterte) Versuche sozialistischer Staaten (Polen, Tschechien), ererbte regionale Ungleichheiten wieder auszubügeln.

Im Ganzen ist es schwierig, ein Unternehmen dieser Größenordnung in einem begrenzten Rahmen hinreichend zu würdigen. Auf gewisse inhärente Gefahren und neue Erkenntnisse hinzuweisen, mag insofern hier nur in dem Eindruck begründet werden, dass sich vor diesem Hintergrund eine Weiterarbeit mit einem gut durchdachten und erprobten Konzept, und zwar auch weiterhin interdisziplinär (Wirtschaftsgeschichte, historische Geografie, aber eben auch Kulturgeschichte), tatsächlich lohnen kann. Die Grundlagen sind brauchbar und anregend.

Alfons Brüning