Michelle Facos / Sharon L. Hirsh (eds.): Art, Culture and National Identity in Fin-de-Siècle Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2003, XV + 297 S., ISBN 978-0-521-81565-9, GBP 55,00
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Elf Aufsätze beleuchten das Phänomen, Nationalbewusstsein und kulturelle Identität durch Kunst auszudrücken. Im Zentrum steht dabei die Zeitspanne zwischen 1870 und 1914. Bemerkenswert ist die geografische Spannweite des Buches: Neben den "klassischen" Interessensgebieten der Kunstgeschichte - Frankreich, Großbritannien, Deutschland - werden der skandinavische Raum und das Baltikum betrachtet. Schon die Tatsache, dass mit Polen, Ungarn oder Norwegen Länder in den Fokus gerückt werden, bei denen gemeinhin bereits die Sprachbarriere eine Auseinandersetzung erschwert, wenn nicht gar verhindert, macht das Buch zu einer Bereicherung. Auch liegt hier eine der ersten übergreifenden kunsthistorischen Untersuchungen zur nationalen Identität um 1900 vor, welche historische Publikationen ergänzt. [1] Die Texte bieten inhaltlich viel Neues und zeigen die durch den Niedergang der traditionellen Muster notwendig gewordenen neuen Formen und Themen, die für eine nationale Präsentation ge- und erfunden werden mussten.
Das weit gefächerte Themenspektrum behandelt Länder, die gesellschaftlich, sozial, politisch, ethnisch, konfessionell sowie in Bezug auf den Stand ihrer kulturellen oder industriellen Entwicklung stark differieren; dies spiegelt sich in der Heterogenität der Beiträge. Dennoch werden bei der Lektüre übergeordnete Fragestellungen deutlich: so die Unterschiede zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung, die Frage, ob bestimmte, von außen herangetragene Klischees bedient oder bewusst verweigert werden, oder der Versuch zu konstatieren ist, von vornherein ein heterogenes Bild einer Nation zu präsentieren.
Der einführende Artikel von Janis A. Tomlinson ("State Galleries and the Formation of National Artistic Identity in Spain, England and France 1814-1851", 16-64) legt mit der Betrachtung der ersten Jahrhunderthälfte das Fundament der folgenden Untersuchungen. Mit der - skizzenhaften - Darstellung der Gründungen der drei Nationalmuseen Prado, Louvre und British Museum ist zudem der Problemkreis von staatlicher Lenkung, nationaler Diskussion und internationaler Rezeption erstmals angesprochen.
Diese Themenkomplexe werden wiederholt anhand der Weltausstellungen untersucht. Hier lässt sich nicht nur das "Selbstbild" der jeweiligen Nation, sondern auch die Rezeption im In- und Ausland festmachen. Idealtypisch demonstriert dies Terri Switzers Beitrag "Hungarian Self-Representation in an International Context: The Magyar Exhibited at international Expositions and World's Fairs" (160-185). Programmatische Rückbesinnung auf nationale Traditionen und die Darstellung als touristische, folkloristisch geprägte Nation führte im Ausland zu einem "exotischen" Ungarn-Bild: " where Hungarians spoke of ancient virtues, Europeans discerned the vices of an orientalized Other." (182). Auch in Anne Helmrichs Aufsatz zu England ("The Nation and the Garden: England and the World's Fairs at the Turn of the Century", 39-64) und Sharon Hirshs Untersuchung der Schweiz ("Swiss Art and National Identity at the Turn of the Nineteenth Century", 250-285) steht die Präsentation auf internationalen Ausstellungen im Mittelpunkt. Wie Klischeevorstellungen ausländischer Rezipienten Darstellungen beeinflussen und sogar in Hinblick auf eine Erfüllung dieser Erwartungen verändern können, verdeutlichen Janet Kennedys Beitrag "Pride and Prejudice: Serge Diaghilev, the Ballet Russes and the French Public" (90-118) sowie Switzers Aufsatz.
Gleichzeitig dokumentieren diese Beispiele wie unterschiedlich die Definition von "Nation" gehandhabt werden muss, um die Untersuchung eines so weiten Spektrums zu ermöglichen: Abgesehen von längst etablierten Ländern geht es um de iure (noch) nicht als solche kodifizierte "Nationen", die zunächst Teil eines größeren "Reiches" sind: Neben Habsburg-Ungarn und dem geteilten Polen (Anna Brzyski: "'Unsere Polen...': Polish Artists and the Vienna Secession, 1897-1904", 65-89) wird diese besondere Situation anhand von Schottland diskutiert (John Morrisson: "Nationalism and Nationhood: Late-Nineteenth-Century Painting in Scotland", 186-206).
In Norwegen galt es, dem nach 600 Jahren Fremdherrschaft 1905 selbstständig gewordenen Land eine neue nationale Tradition zu geben. Dass sich hier die Anstrengungen vor allem an die eigene Bevölkerung richten, demonstriert Patricia G. Bermans und andere anhand von Munchs Gemälden für die Aula der Universität Oslo ("Making Family Values: Narratives of Kinship and Peasant Life in Norwegian Nationalism", 207-228). Hier wie andernorts werden ländliche Kultur und Familie zu sinnstiftenden Erinnerungsorten.
Einen Sonderfall stellt die Schweiz dar, die zwar eine lange Tradition als Kantonsbund hat, aber erst im Jahre 1849 eine geschriebene Verfassung erhielt. Zudem fehlt hier die gemeinsame Sprache, welche bei anderen Nationsbildungen ein entscheidender Identitätsfaktor war (254f.). Hirsh zeigt, wie die Schweiz auf Weltausstellungen als touristisches Ziel präsentiert wird. Als Beispiel dient das 1900 in Paris im "Heimatstil" (275) aufgebaute "Schweizer Dorf", ein Konglomerat typischer Bauten aller Kantone inklusive künstlichem Wasserfall, Bergpanorama und Kuhherde. Signifikanterweise wurde diese Installation abseits der Nationenpräsentation der Rue des Nations errichtet. Dies führte dazu "both to ostracize the country from the usual attention accorded that display and at the same time concretize its identity as a nonserious (that is tourist) destination." (275). Jedoch wurde keinesfalls ein ungebrochenes Schweiz-Bild gezeigt: Die Autorin verdeutlicht dies am Beispiel Hodlers. Anders als die Osloer Wandbilder Munchs, bei denen Nationalbewusstsein und moderner Stil zur Deckung gebracht werden konnten, gelang dies im Fall der Schweiz und Hodlers nicht: Die Vorführung so heterogener Facetten führte dazu, dass im Ausland gerade "such lack of definitive style" als "typically Swiss" bewertet wurde (274).
Die meisten Artikel fragen, inwieweit das jeweilige Bild der "Nation" ein Konstrukt, eine "imagined community" im Sinne Andersons, darstelle (3, 41-3, 213); daneben rekurrieren viele Autoren auf Hobsbawns Konzept einer "invention of tradition" (41-43, 162, 204, 221). [2] Die Elemente dieser Traditionserfindung sind - wie das Buch eindringlich demonstriert - immer wieder dieselben: die rückwärts gewandte Beschwörung nationaler Größe, der Bezug auf die anscheinende Ursprünglichkeit des Bauerntums, die Betonung von Regionalismus. Paradigmatisch demonstriert Carmen Ela Popescu in "National Romanian Architecture: Building National Identity" (137-159) die Kombination "folkloristischer" Motive, regionaler Baustoffe, orientalischer Einflüsse und modernistischer Stilbewegungen zu einem "Romanian Style or National Style" (137). Durch die königliche Patronage und die Flexibilität des neuen Stils wird diese architektonische Nationalsprache zu einer Art "offizieller Staatsarchitektur", die pittoreske Details und monumentale Proportionen kombiniert (150), und schließlich vom rumänischen Totalitarismus instrumentalisiert wurde (153-156).
Angesichts der Dominanz regionalistischer und das ländliche Leben als Wiege nationaler Traditionen feiernder Tendenzen in allen betrachteten Ländern, erstaunt die Einordnung derselben Phänomene in Robin Lenmans Beitrag "Art and National Identity in Wilhelmine Germany" (119-136). Die Einseitigkeit des vom Autor gezeichneten Deutschlandbildes deutet sich bereits im ersten Satz an: "Nationalism in the Wilhelmine period (1888-1914) evolved toward chauvinism, with a distinctly antimodern tenor, and this was reflected in art." (119). Als Symbole einer affirmativen Wendung zur Vergangenheit dienen Lenman die Vollendung des Kölner Doms, der "Dürer-Kult", die Historienbilder Pilotys, Anton von Werners und Menzels, der auf einen Historiographen Friedrichs des Großen reduziert wird. Diese Werke "focused on Moments of unity and collective Germanic (sic) triumph" (123). Parallelerscheinungen in anderen europäischen Ländern - beispielsweise die Napoleonbegeisterung in Frankreich - bleiben unerwähnt. Die Einseitigkeit seiner Darstellung zeigt sich auch in der Behauptung, die offizielle Pariser Kunstszene sei für Deutsche "predictably frosty" gewesen, selbst für Klinger und Liebermann (125). Das dies jedoch eine Frage von Themenwahl und Stil sein könnte, thematisiert der Autor nicht: Fritz von Uhde beispielsweise hatte auf dem Pariser Salon des Jahres 1889 eine Ehrenmedaille erhalten und war ein Jahr später zum Mitglied der Société Nationale des Beaux-Arts ernannt worden. Geradezu absurd erscheint Lenmans Behauptung "in the mid-1890s national museums began to adopt the policy that their collections should be international in scope, instead of functioning merely as repositories for art produced by Germans or artist residing in Germany." (129). Wenn schließlich die Werke der Künstlerkolonie Worpswede als "symbols of blood-and-soil romanticism" abqualifiziert werden, kann der Leser - schon angesichts der Wortwahl - sein Unbehagen und seinen Unmut kaum unterdrücken. [3]
Dieses veraltete und verzerrte Deutschlandbild Lenmans ist glücklicherweise nur ein "Ausreißer" in einem ansonsten fundierten, interessanten und viel Neues erschließendem Buch. Ein kleiner Wermutstropfen ist das Fehlen eines Aufsatzes zu Italien nach dem Risorgimento, oder zu Belgien und den Niederlanden, die als noch vergleichsweise "junge" Nationen ebenfalls nach einer nationalen Kunstsprache suchten. Ohne Zweifel jedoch wird das Buch in Zukunft ein Referenzwerk zum Kontext der Kunst um 1900 werden.
Anmerkungen:
[1] Einen Überblick dazu (3, 13f.) sowie eine Auswahl neuerer kunsthistorischer Literatur in der Einleitung (Anm. 8, 14). Eine Ergänzung um nicht englischsprachige Publikationen wäre hier wünschenswert gewesen - beispielsweise fehlt Marek, Michaela: Kunst und Identitätspolitik: Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung. Köln 2003.
[2] Benedict Anderson: Imagined Communities, Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, New York 1991; Eric Hobsbawn / Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1983.
[3] In dieselbe Richtung geht Lenmans unreflektierte Heranziehung von Julius Langbehns "Rembrandt als Erzieher" (131). Darüber hinaus ärgert man sich über die nicht weniger als zehn Rechtschreibfehler in den Anmerkungen des Autors (134-136). Ein besseres Lektorat hätte im Übrigen auch verhindert, dass im Vorwort aus Riegels "Kunstwollen" "Willenkunst" geworden wäre (11).
Ekaterini Kepetzis