Marc Carel Schurr: Die Baukunst Peter Parlers. Der Prager Veitsdom, das Heiligkreuzmünster in Schwäbisch Gmünd und die Bartholomäuskirche zu Kolin im Spannungsfeld von Kunst und Geschichte, Ostfildern: Thorbecke 2003, 204 S., 200 Abb., ISBN 978-3-7995-0127-9, EUR 74,00
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Marc Carel Schurr weiß, dass er etablierte Trends der Kunstgeschichte gegen sich hat, wenn er einen Begriff von der Architektur Peter Parlers zu erarbeiten beabsichtigt mit dem Instrumentarium "moderner Stilanalyse, die sich von einem evolutionistischen Determinismus zu trennen hat, ohne doch das kostbare Gut, welches sich die Kunstgeschichte mit dieser einzigen genuin von ihr selbst erarbeiteten Methode erworben hat, preiszugeben" (97). Er nimmt daher den Stier bei den Hörnern und konfrontiert die Fachwelt mit der zutreffenden Beobachtung, dass die in methodischen Vorworten mit Überzeugung abgelehnte Stilanalyse im weiteren Verlauf der Studien vielfach doch genutzt wird, und mit der begründeten Warnung, dass die Verdammung der Stilanalyse in ihren Konsequenzen nicht nur "eine systematische Auseinandersetzung mit den formalen Qualitäten der Kunstwerke" verwirft, sondern auch deren Wert als eigenständiger Träger von Überlieferungen (9). Ein Zitat Wilhelm Vöges unterstreicht, dass Schurr in der Befassung mit der äußeren Erscheinung der Werke tatsächlich auf den "verborgenen Process der Stilbildung" zielt - dies aber nicht als eine Rückkehr in alte Geleise und keinesfalls mit den einstmals verfolgten Zielsetzungen der völkisch-nationalen Interpretation, sondern um "sich den gestalterischen Qualitäten der Bauten von einem historischen Standpunkt aus zu nähern" (11).
Der erste Hauptteil führt den Leser an Personen und Werke heran, Peter Parler von Gmünd und seine Familie (13-24) sowie die bereits im Titel genannten Hauptwerke der Architektur (25-96). In der Art kleiner Monografien werden Entstehungsgeschichte, kunsthistorische Einordnung sowie in Umrissen der historische Kontext ihrer Entstehung dargestellt. Zwei Anliegen sind deutlich zu erkennen. Der Autor versucht, eine früher politisch bedingte und heute noch auf Sprachbarrieren beruhende Trennung aufzuheben, "der tschechischen Forschung gerecht zu werden und den dieser Sprache nicht mächtigen Leser mit dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse [...] vertraut zu machen2 (11 und auch 52). Dazu hat Schurr die neueren Beiträge von Benesovská, Chotebor, Hlobil, Homolka, Líbal und anderen intensiv ausgewertet - offensichtlich mehren sich die Ansätze, nebeneinander bestehende nationale Forschungstraditionen zur Kunst in Mitteleuropa wieder zusammenzuführen. Auch dem leidigen Problem, dass in der "Forschungsliteratur viel zu oft Fakten und Hypothesen nicht klar genug voneinander getrennt" wurden (17), soll abgeholfen werden. Die Darstellung geht konsequent vom Material aus; in der Zusammenschau von Quellenaussagen und Baubefunden wird das Feststehende konstatiert und klar geschieden von den sorgfältig abwägenden Folgerungen - in diesem Sinne wird beispielsweise im Falle von Schwäbisch Gmünd der behauptete ursprüngliche Plan einer Basilika als reine Hypothese beurteilt (28).
So entstand eine konzise und gut lesbare Zusammenfassung des Forschungsstandes, die insbesondere auch für "Neulinge" einen zuverlässigen Einstieg in die Materie vermittelt. Zu Gunsten der Lesbarkeit sind dabei die eigentlichen Architekturanalysen mit ihren unvermeidlichen Detaildeskriptionen ausgelagert und als eine Art Bestandsaufnahme als Anhang in kleinerer Schrifttype beigefügt (141-157). Über ein Resümee geht Schurr mit eigenen Pointierungen und überzeugenden Thesen hinaus. Gegen eine Abhängigkeit vom Kölner Dom, auf Grund der bekannten Inschrift am Prager Triforium oft favorisiert, wird dafür argumentiert, "dass die Architektur des Heiligkreuzmünsters zu Schwäbisch Gmünd sich ausgezeichnet in das Gesamtbild der Baukunst des 14. Jahrhunderts im schwäbisch-elsässischen Raum einfügt" (49). Als Belege werden motivische Übereinstimmungen mit der Marienkirche in Reutlingen und der Esslinger Frauenkirche sowie den dominierenden Dombauhütten der Region in Straßburg und Augsburg herangezogen - generell profitiert der Autor von seiner großen Denkmälerkenntnis im süddeutschen Sprachraum. In der umstrittenen Zuschreibungsfrage des Sakristeigewölbes am Prager Veitsdom (dazu Jochen Schröder, Neuere tschechische Forschungen zum Prager Veitsdom, Kunstchronik Heft 1 Januar 2003, 25-31, dort 27/28) präsentiert Schurr einen Lösungsvorschlag, der alle Eigentümlichkeiten des Baubefunds zu erklären vermag: Peter Parler übernahm hier mit Modifikationen eine Konzeption des Matthias von Arras und auch bereits dafür angefertigte Werkstücke für die Rippen, die erst später versetzt und unter Verzicht auf die Wölbungskappen nun frei durch den Raum geführt wurden. Die kühne Hypothese von der geplanten Doppelchörigkeit des Veitsdoms basiert dagegen nur auf einem schwachen Quellenhinweis und liturgisch-kultischen Erwägungen (67/68).
Der zweite Hauptteil - "Peter Parlers Stil, seine Herkunft und Motivation" - beginnt mit methodischen Klarstellungen: die Unterscheidung von vorgegebenen Architekturtypen und dem bei ihrer Ausgestaltung entwickelten Stil sowie die Ankündigung von drei Ebenen, die der Autor bei der Analyse der "gestalterischen Prinzipien" in Rechnung stellt: "Beeinflussung und Formung, die der Künstler im Laufe seines Berufslebens erfahren hat"; die Neuerungen "die auf den Baumeister selbst und die in seiner Person begründeten [...] Fähigkeiten zurückgehen"; und schließlich die Frage nach den "Absichten des Auftraggebers oder inhaltlich bedingten Motivationen" (98/99). Offensichtlich soll diese Differenzierung jene Verengungen vermeiden, die in der Verfolgung eines strikt biografischen, stilgeschichtlichen oder aber kontextuellen Ansatzes häufig zu beobachten sind. Vor allem die klare Unterscheidung dieser Ebenen und die Prägnanz der Zusammenfassung der charakteristischen Gestaltungsweisen Peter Parlers führen über die in der älteren Literatur vielfach bereits getroffenen Bestimmungen hinaus: die in der Grundrissdisposition bereits angelegte Geräumigkeit und Lichtfülle; die kubische Verfestigung im Kontrast zum komplexen Maßwerkgespinst am Außenbau; Traditionen und Neuerungen des Wandaufrisses; Ableitung der im Ausgleich von Weite und Höhe erzielten "lichtvollen Heiterkeit" (116) von der französischen Kapellenarchitektur; Stellenwert des Gewölbes in der Raumauffassung - überflüssig hier die Abgrenzung von Bachmann, der mit dem "Prinzip des Dreistrahls" (118) nicht ein baldachinartiges Kompartiment, sondern eine grundlegende Idee bei der Konzeption der neuartigen Gewölbefigurationen charakterisieren wollte -; Herleitung der konstituierenden Maßwerkformen aus Schwaben und dem Elsass, nun allerdings durch eine Tendenz zu "Aufweichung und Dynamisierung der Formen" verändert (124); das Prinzip der Inversion, nämlich das "Übereinanderlegen unterschiedlich rhythmisierter Gliederungen in verschiedenen Raum- oder Wandschichten" (125).
Methodisch am wichtigsten ist wohl der kurze Abschnitt "Die Anwendung verschiedener Artikulationen und das Problem der Stillagen" (127-133). Schurr würdigt zwar einen früheren Anstoß, in der Rede von den 'Stillagen' Unterschiede in der Gestaltung auf verschiedene Funktionen und Bedeutungen der Bauten zurückzuführen (Robert Suckale, Peter Parler und die Stillagen, in: Die Parler, Band 4, Köln 1980, Seite 175-183). Der Begriff der Rhetorik bietet aber eigentlich nur einen metaphorischen Verweis auf unterschiedliche Anspruchsniveaus, wohingegen eine konkretisierende Anwendung der 'genera dicendi' und Tropen der Rhetorik auf die Qualitäten eines Bauwerks nicht gelingen will. Schurr verweist auf die Architektur selbst zurück und versucht, die Variationsbreite innerhalb eines Stils noch jenseits der Interpretationen mit dem Begriff der "Artikulation" zu fassen, der "gestalterischen Differenzierung innerhalb eines bestimmten Formenvokabulars", wobei "der Begriff der Artikulation zunächst nur den formanalytischen Befund festhält, ohne dass diesem Phänomen bereits eine irgendwie geartete inhaltliche Bedeutung unterlegt wäre" (130). Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Ratschlag an die "Anwender der formanalytischen Methode" durchsetzen wird, doch vermeidet Schurrs methodischer Standpunkt die Fixierungen einer deterministischen Stilgeschichte, er lädt ein zur begrifflichen Formulierung der werkimmanenten Qualitäten, wertet den Architekten als bewusst gestaltenden Baukünstler und nicht als Exekutor von Sachzwängen oder fiktiven Stilfahrplänen, und er bleibt uneingeschränkt zugänglich für historisch-kontextuelle, liturgiegeschichtliche oder architekturikonologische Ansätze der Forschung, die in der jeweiligen "Artikulation" Konkretisierung und Bezug für ihre Thesen am Bauwerk finden.
Bei der Frage nach dem eigentlichen Motor für Stilbildung und Artikulation kommt Schurr - an Standpunkte Branners und Kimpel/Suckales anknüpfend - auf die Intentionen des Auftraggebers zurück - eine Generalthese, die sich bereits in Einschätzungen zum Augsburger Domchor und zur Pfarrkirche in Kolin angekündigt hat. Der Architekt reagiere nicht nur in der Umsetzung der liturgischen Funktionen und bei der Wahl des Typus, sondern auch "mit den Mitteln des Stils und seiner Artikulation" auf Anregungen des Kaisers (137) - eine These, die nicht zu widerlegen, wegen des Mangels an einschlägigen Quellen aber auch nicht zu beweisen ist. Daher häufen sich in solchen Passagen versichernde Vokabeln ("offensichtlich", "durchaus" und "zweifellos"); sie können sich nur auf die ihnen immanente Plausibilität stützen. Dass sich die Gestaltungsweise von Kapellen und anderen herrscherlichen Stiftungen auf die Prager Kathedralgotik ausgewirkt habe, ist jedenfalls eine Überlegung wert. Die Ableitung der Maßwerkbalustraden an den Hochchören von Reims und Prag von den rheinischen Kaiserdomen erscheint in formaler wie politischer Hinsicht allzu disparat (107). Stellenweise basieren die Deutungen auf sehr subtilen Unterscheidungen, so dann, wenn Verbindungen mit der süddeutschen Baukunst auf die virulente Rivalität zwischen der luxemburgischen und der habsburgischen Dynastie zurückgeführt werden: "dass also die [...] schwäbisch-elsässische Komponente in der kaiserlichen Architektur die als staufisches Erbe empfundene Zugehörigkeit Schwabens und des Elsass zur kaiserlichen Machtsphäre zum Ausdruck bringen sollte" (139). Eine solche Aussageintention setzt einen sehr kundigen Auftraggeber und ein Publikum mit einem reflektierten Verständnis der Bauformen voraus. Mehr noch: der Autor unterstellt den damaligen Akteuren Parameter der Auffassung, die er sich selbst erst in einer langjährigen kunsthistorischen Tätigkeit und unterstützt durch moderne professionelle Hilfsmittel der Bilddokumentation und Bauanalyse erarbeiten konnte.
Wenn der Kunsthistoriker als geistigen Horizont von Bauherr und Publikum seinen eigenen stilgeschichtlichen Standpunkt wieder findet, dann scheint am Ende des Beitrags doch noch ein wuchtiger Pferdefuß der Stilgeschichte zum Vorschein zu kommen. Gleichwohl: dieses Bedenken ändert nichts daran, dass die Studie Schurrs in ihrer Anbindung präziser Formanalyse an die Fragen von Funktion, Liturgie und politischem Kontext geeignet ist, die architekturhistorische Debatte in einer zentralen Frage voranzubringen.
Ulrich Fürst