Lionel Lambourne: Victorian Painting, Berlin: Phaidon Verlag 2003, 512 S., 626 Farb-Abb., ISBN 978-0-7148-4359-9, EUR 45,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Markus Bertsch / Amelie Baader (Hgg.): Making History. Hans Makart und die Salonmalerei des 19. Jahrhunderts, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2020
Stephanie Moser: Painting Antiquity. Ancient Egypt in the Art of Lawrence Alma-Tadema, Edward Poynter and Edwin Long, Oxford: Oxford University Press 2020
Friedrike Kitschen / Julia Drost (Hgg.): Deutsche Kunst - Französische Perspektiven 1870-1945. Quellen und Kommentare zur Kunstkritik, Berlin: Akademie Verlag 2007
Lionel Lambournes erstmalig 1999 und nun in Neuauflage 2003 erschienenes Buch "Victorian Painting" umfasst 512 Seiten, darin enthalten sind zwei Seiten Auswahlbibliographie und ein siebenseitiger Index, der Namen, Schlagworte und Verweise auf die Abbildungen beinhaltet. Der Text gliedert sich in 22 Kapitel und ist mit 626 Farbabbildungen durchgehend reich illustriert. [1] Da der Autor, der durch seine Tätigkeit für das "Victoria and Albert Museum" in London als Kenner Viktorianischer Malerei ausgewiesen ist, auf eine Eingrenzung des Themas mittels eines Untertitels verzichtet, knüpft sich an das Werk die Erwartung, einen umfassenden Überblick über die englische Malerei zwischen 1837 - 1901, der Regierungszeit Königin Victorias, zu erhalten. Gemessen an der aufwändigen Bebilderung aber ist das Missverhältnis zum Textanteil und Umfang der Bibliografie nur zu offensichtlich und für ein Fachpublikum unbefriedigend.
Die Inhaltsangabe ist nicht gleichzusetzen mit einer strukturierten Gliederung: Die einzelnen Abschnitte sind weder chronologisch, noch inhaltlich klar geordnet. Anordnung und Einteilung ähneln auffallend der Christopher Woods in seinem ebenfalls 1999 erschienenen "Victorian Painting" [2]. Lambournes Kapitelüberschriften, wie "The fresco revival: mural painting", "Childhood and sentiment", "The Pre-Raphaelites", "The frailer sex and fallen woman" und "A transatlantic exchange" lassen keinen roten Faden erkennen. Das Strukturproblem wird offensichtlich, wenn man den Artikel "Women Artists" als Beispiel heranzieht: Dieses Relikt der Gender-Studies bewirkt, dass in den einzelnen Themengebieten die Werke von Künstlerinnen fehlen, und eine sinnvolle Einordnung dieser Bilder in den Gesamtkontext nicht vorgenommen wird. Erhöhter Konzentration bedürfen die inhaltlichen Sprünge im Text und in der Abbildungsfolge. Hierunter leidet gerade die Darstellung der Gattungen: So werden die Entwicklungen im Bereich der Historienmalerei nicht zusammenhängend dargestellt, Stillleben nur vereinzelt genannt.
Außer durch das Fehlen eines systematischen oder analytischen Ansatzes erschwert der Autor dem Leser das Verständnis zusätzlich, indem er seinem Werk nicht die kunsthistorisch übliche Zeiteinteilung zu Grunde legt; er nimmt vielmehr bereits das Geburtsjahr der Königin, 1819, zum Ausgangspunkt. Bei einem Überblickswerk dieses Umfangs, das grundsätzlich vor dem Problem einer zeitlichen Eingrenzung steht, ist diese bewusste Erschwernis kaum nachvollziehbar: Das Problem der Masse verlangt nach einer sinnvollen Strukturierung, Setzung von Schwerpunkten und Beschränkung auf das Wesentliche. Ein Totalitätsanspruch ist hier nicht angebracht und wird auch nicht erfüllt. So erfährt der Leser, der im "Preface" als erstes mit einem Zitat Humpty Dumptys konfrontiert wird, nicht einmal etwas über die Bilder, die den Umschlag zieren.
Lambourne stellt zunächst die Fresken- und Wandmalerei vor und somit die repräsentativen Staatsaufträge in den Vordergrund. Da aber schon auf Grund des Klimas die Freskomalerei in England vor unlösbare technische Probleme gestellt wurde, erweitert der Autor das Kapitel bereits im zweiten Satz zu einer allgemeinen Besprechung von Wanddekorationen. Eine Trennung zwischen öffentlichen Räumen und privaten Ausstattungen wird nicht vorgenommen. Im Folgenden stehen so narrative Freskenzyklen in einer Reihe mit rein dekorativen Wandmalereien (der Leser lasse sich nicht durch die falsche Abbildungsnummer des Peacock Rooms beirren) und auch Majoliken. Bei dieser Vielfalt und der fehlenden Beschreibung der bildspezifischen Besonderheiten fiel wohl nicht auf, dass die "Hospitality" von William Dyce seitenverkehrt abgebildet ist. Abschließend kommt Lambourne auf die von ihm eingangs besprochene Ausstattung der Londoner Houses of Parliament zurück und meint damit eine geschlossene Entwicklung der Freskenmalerei bis 1907 vorgeführt zu haben.
Der Text an sich ist leicht verständlich formuliert, wirkt in seiner Oberflächlichkeit aber schnell ermüdend. Name folgt auf Namen, Bild auf Bild. Selbst bedeutende Künstler gewinnen kein Profil, sondern verschwinden in der Masse, da sie immer wieder zu unterschiedlichsten Themen angeführt werden. Dem Leser erschließt diese Streuung kein analytisches Gesamtbild. Entwicklungen werden nicht anhand von Hauptwerken deutlich gemacht, vergleichende Gegenüberstellungen jeglicher Art fehlen und thematische Einordnungen werden nicht vorgenommen. Die Beschränkung auf die Viktorianische Malerei "verbot" offensichtlich die Abbildung von Vergleichsmaterial.
Im Vordergrund steht weder der Blick für das Gesamte, noch für das Spezifische, noch für das Wesentliche. Statt auf Qualität setzt der Autor auf Quantität und erschlägt den Betrachter erst mit der Bilderfülle und den Leser dann mit der Aneinanderreihung von Namen, kennerschaftlichen Details und nicht relevanten literarischen Querverweisen, wobei er nahezu wörtlich aus seinem eigenen Repertoire [3] schöpft. Probleme diskutiert er nicht: So verrät Lambourne alles über die Herkunft von John Singer Sargent, erklärt aber nicht, warum das Portrait von Madame Gautreau ein Skandal war und überlässt es dem interessierten Leser, der dahinter mehr vermutet als das tiefe Dekolletee der Dargestellten, näheres in dem Katalog Richard Ormonds, der in der Bibliografie genannt ist, nach zu lesen [4].
Auch eine internationale Einordnung erfolgt nicht. Vor allem die tief gehenden Bezüge zur damals tonangebenden französischen Malerei werden nicht explizit herausgearbeitet. Nur marginal werden Bezugspunkte erwähnt, wobei im Fall der Nazarener die Diskurse von Ruskin und Lord Lindsay zur "Christian Art" nicht berücksichtigt werden, obwohl schon Keith Andrews auf deren Wichtigkeit hingewiesen hat. [5]. Auch die Bedeutung der Weltausstellungen für die Malerei wird nicht vermittelt, selbst ein einflussreicher Künstler wie Delaroche wird lediglich einmal im Rahmen einer Aufzählung erwähnt.
Der Autor vermittelt konsequent seine Sicht auf die viktorianische Malerei, ohne ein Thema umfassend zu erschließen. Internationale Bezugspunkte, die sich zum Beispiel durch Aufträge an einen Künstler wie Heinrich von Angeli ergeben, werden ebenso ausgeklammert, wie die mögliche Vergleichbarkeit von Gemälden, welche bei Aufenthalten englischer Künstler im europäischen Ausland entstanden. Lord Frederic Leightons "Nanna"-Bildnis wäre hier ein trefflicher Ansatzpunkt gewesen, hätte der Autor, wie bereits Richard G. Dorment, beispielsweise noch Feuerbachs Umsetzungen desselben Modells herangezogen [6].
Das Buch kann dem Wunsch nach einem Standardwerk, das ein grundsätzliches Verständnis für die Besonderheiten der Viktorianischen Malerei vermittelt, nicht genüge tun. Inhaltlich befriedigt es nicht einmal einen interessierten Laien, da es dem Autor nicht gelingt, in analytisch verständlicher Form die Besonderheiten, Entwicklungen und Höhepunkte der viktorianischen Malerei zu vermitteln.
Der Kunsthistoriker vermisst neben der übersichtlichen Aufbereitung des Themas neue Erkenntnisse und Ansätze und stößt, wie Julian Treuherz, auf inhaltliche Fehler [7]. Auch als Handbuch ist das gewichtige Werk nicht zu gebrauchen, da die Informationen zu unstrukturiert und oberflächlich zusammengetragen sind. Als Kompendium von sehr guten Farbabbildungen ist es aber mit Sicherheit eine nützliche Ergänzung zur Forschungsliteratur.
Indem der Autor seine umfassenden Kenntnisse zwischen zwei Buchdeckel pressen wollte, ist er seiner eigenen Kennerschaft zum Opfer gefallen. Dem umfangreichen und wirklich schwer zu ordnenden Bilderkomplex hätte eine sinnvolle Einschränkung gut getan. Weniger Bilder, dafür gut beschrieben, klar analysiert und kunstgeschichtlich eingeordnet, hätten etwas von Lambournes Wissen vermitteln können, so droht sein Buch un- bis angelesen als Füllsel im Bücherregal zu verschwinden und sein Wert auf seine Brauchbarkeit zur Diareproduktion reduziert zu werden.
Anmerkungen:
[1] Die besprochene Paperback-Version des Buches von 2003 geht auf die erste Auflage von 1999 zurück.
[2] Christopher Wood: Victorian Painting, London: Weidenfeld & Nicolson 1999.
[3] Lionel Lambourne: An introduction to 'Victorian' genre painting : from Wilkie to Frith. Victoria and Albert Museum, London: Her Majesty's Stationery Office 1982.
[4] Elaine Kilmurray; Richard Ormond (Hrsg.): John Singer Sargent, London: Tate Gallery Publishing 1998, 101f.
[5] Keith Andrews: The Nazarenes: a brotherhood of German painters in Rome, Oxford: Clarendon Press 1964, 75ff.
[6] Richard Gerard Dorment: A Roman Lady by Frederick Leighton, in: Philadelphia Museum of Art Bulletin 73 (1977), Nr. 317, June, 2-11.
[7] Julian Treuherz: Rezension von: Lionel Lambourne: Victorian painting, London: Phaidon Press 1999, in: The Burlington Magazine (2000), Nr. 142, 646.
Doris H. Lehmann