Brigitte Biwald: Von Helden und Krüppeln. Das österreich-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg (= Militärgeschichtliche Dissertationen; Bd. 14), Wien: öbv & hpt 2002, 2 Bde., 688 S., ISBN 978-3-209-04027-5, EUR 39,80
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Seit einigen Jahren zeigt sich ein verstärktes Interesse an der Geschichte der Medizin im Ersten Weltkrieg. Hierzu sind einige wichtige Sammelbände erschienen, die sowohl methodisch als auch thematisch neue Perspektiven eröffnet haben. [1] Der Umstand, dass in diesen Sammelbänden die Situation in Österreich-Ungarn unberücksichtigt blieb, verwies auf ein Forschungsdesiderat. Wer sich über die Medizingeschichte des letzten Kriegs der Donaumonarchie informieren wollte, konnte auf einzelne Passagen in Manfried Rauchensteiners Überblicksdarstellung sowie auf einige Aufsätze zurückgreifen [2], landete aber allzuschnell bei jenen Bilanzdarstellungen, die in der Nachkriegszeit von Ärzten verfasst worden waren und vorwiegend apologetischen Charakter hatten.
Vor diesem Hintergrund ist das Werk (es handelt sich um die gedruckte Dissertation) der Wiener Historikern Brigitte Biwald sehr zu begrüßen. Ihre in zwei Bänden präsentierte Geschichte des österreichisch-ungarischen Sanitätswesens im Ersten Weltkrieg ist ein Mammutwerk, und schon der Blick in das sechsseitige Inhaltsverzeichnis zeigt, dass eine Vielzahl von Themen angesprochen ist. Dennoch bleibt nach der Lektüre ein ambivalenter Eindruck. Biwalds wissenschaftliche Leistung ist empirisch überaus eindrucksvoll. Aufgrund ihrer umfassenden Recherchen im Österreichischen Staatsarchiv-Kriegsarchiv kann sie viel Unbekanntes und Neues darstellen. Da sie aber ihre Argumentation überwiegend quellengeleitet entwickelt und die neuere internationale Forschungsdiskussion kaum berücksichtigt - keine der in [1] genannten Arbeiten kommt bei Biwald vor - bleibt die Gesamtaussage der Studie etwas hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Teil 1 der Studie (1-319) beginnt mit der Darstellung der Entwicklung des österreichischen Militärsanitätswesens bis zum Ersten Weltkrieg. Im Mittelpunkt stehen die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensivierten Bemühungen, die Versorgung verwundeter Soldaten effizienter zu gestalten. Biwald arbeitet die Professionalisierung der österreichischen Militärmedizin heraus und kann zeigen, dass das Sanitätswesen zu einem komplexen Organisationsgefüge anwuchs, das bis in seine Einzelheiten geregelt war. Nach der Jahrhundertwende führten die Vorbereitungen auf den "nächsten Krieg" zu sommerlichen "Sanitätskriegsspielen", die den Ernstfall proben sollten, von den leitenden Strategen jedoch vorwiegend als Erholungsurlaub für sich und ihre Truppen benutzt wurden. Das darauf folgende Kapitel (54-128) behandelt Theorie und Praxis des Feldsanitätsdienstes im Ersten Weltkrieg: Flexiblen sanitätstechnischen Neuerungen wie Epidemielaboratorien, mobilen Zahnambulanzen sowie Chirurgengruppen, die unmittelbar hinter der Front operierten und mit röntgenologischen Stationen kooperierten, standen hierarchische Strukturen, Prioritätsstreitigkeiten und bürokratische Schlampereien gegenüber, die ein ständiges Improvisieren erforderten. Hinzu kam, dass die Verlaufsdynamik des Krieges ein bis dahin unvorstellbares Ausmaß an Verwundeten mit sich brachte, das sämtliche Planungsszenarien sprengte.
Ein Exkurs über die Verwundetenfürsorge auf Spitalsschiffen führt zu einem ausführlichen Kapitel über die Situation im Hinterland (141-266). Biwald gibt Einblicke in die Tätigkeit von Kriegshilfseinrichtungen (Rotes Kreuz, Malteser-Ritterorden), in den medizinischen Alltag von Barackenspitälern oder in die Maßnahmen der Invalidenfürsorge. Man erfährt hier eine Fülle von Details, wie der Krieg von den Sanitätsbehörden verwaltet wurde. Hervorragend gelungen ist etwa das Kapitel über jene Beamten des Kriegsministeriums, die sich jeden Tag durch einen Berg von Angeboten für den Ankauf von Sanitätsmaterial durchzuarbeiten hatten. An diesem Beispiel kann Biwald zeigen, dass das Sanitätswesen von militärischen, medizinischen, bürokratischen und ökonomischen Interessen bestimmt wurde, die nur selten vereinheitlicht werden konnten, aber häufig Anlass für Spannungen gaben. Etwas irritierend ist, dass Biwald ihre Argumentationsführung immer wieder unvermittelt abbricht; alle zwei oder drei Seiten beginnt ein neues Thema. Manche der Unterkapitel sind solcherart als Informationsfragmente aneinander gereiht, ohne dass am Ende auf die leitende Fragestellung Bezug genommen wird.
Teil 2 der Studie (327-688) bekräftigt diesen Eindruck. Biwald beschäftigt sich zunächst in über vierzig Kapiteln und Unterkapiteln mit dem "Schicksal der Kranken und Verwundeten an den Fronten". Jedem Kriegsschauplatz - von den Sümpfen Wolhyniens bis zur Karstfront am Isonzo - ordnet Biwald eine kurze Textpassage zu. Die weiteren Großkapitel des zweiten Bandes sind den Krankheiten in den Gefangenenlagern, der Kriegschirurgie, Infektionskrankheiten sowie der Kriegspsychiatrie gewidmet. Biwalds Ansatz, organisations- und alltagsgeschichtliche Themen blitzlichtartig darzustellen, holt eine Vielzahl von Aspekten ins historische Blickfeld; hat man sich durch die beiden Bände gelesen, ist eine Panoramafahrt zu Ende, bei der auf vieles aufmerksam gemacht, vieles aber auch im Flüchtigen belassen wurde. Um beim Beispiel der Kriegspsychiatrie zu bleiben: Biwald subsumiert die psychischen Erkrankungen der Soldaten unter dem Etikett "Posttraumatisches Stresssyndrom" (581). Diese Diagnose hat mit dem Ersten Weltkrieg nichts zu tun, sondern war eine Erfindung amerikanischer Psychiater, die mit dieser in den 1970er-Jahren die Forderungen von Vietnamveteranen auf Anerkennung psychischer Leiden stützten. Einzelne medizinische Spezialdisziplinen und Akteure werden im Hinblick auf ihre "Leistungen" im Krieg moralisch unterschiedlich bewertet. So wird die therapeutische Tätigkeit der Psychiater mit dem saloppen Schwenker "Vom Behandler zum Misshandler" bezeichnet, während die Chirurgen einzelne "Kapazitäten" hervorbrachten, die im Krieg revolutionäre Operationsmethoden entwickelten (478). Auch der Sanitätschef der kaiserlichen und königlichen Armee, Johann Steiner, wird in einem überwiegend positiven Licht dargestellt. An diesen Stellen blitzt die alte Medizin- und Militärgeschichtsschreibung hervor, die ranghohe Männer beschrieb, die im Krieg Großes geleistet hatten und sich stets einen Rest an Humanität bewahren konnten.
Eine Antwort auf die zentrale Frage, wie das Sanitätswesen beziehungsweise die Medizin Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg insgesamt zu charakterisieren ist, lässt Biwald weitgehend offen. Hierzu bedarf es noch weiterer Forschungen. Am Ende fehlt eine Zusammenfassung, in der die Ergebnisse der Arbeit präsentiert werden, und leider fehlt auch ein Register, das eine Navigation durch die Informationsfülle ermöglichen würde. Summa summarum ist jedoch festzuhalten, dass Biwald in vielen Bereichen wissenschaftliches Neuland betreten und aufbereitet hat. Ihre Studie ist trotz der vorgebrachten Einwände unverzichtbar für jeden, der sich mit der Geschichte Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg beschäftigen möchte.
Anmerkungen:
[1] Roger Cooter / Mark Harrison / Steve Sturdy (Hg.): Medicine and Modern Warfare, Amsterdam 1999; Roger Cooter / Mark Harrison / Steve Sturdy (Hg.): War, Medicine and Modernity, Stroud 1998; Wolfgang U. Eckart / Christoph Gradmann (Hg.): Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler 1996.
[2] Manfried Rauchensteiner: Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz / Wien / Köln 1993; Elisabeth Dietrich: Der andere Tod. Seuchen, Volkskrankheiten und Gesundheitswesen im Ersten Weltkrieg, in: Klaus Eisterer / Rolf Steininger (Hg.): Tirol und der Erste Weltkrieg. Innsbruck / Wien 1995, 255-275.
Hans-Georg Hofer