Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten, 5. Aufl., München: C. Bertelsmann 2003, 344 S., ISBN 978-3-570-00745-7, EUR 22,90
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Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist in der Tat eine der ungewöhnlichsten des Ersten Weltkriegs. An den Weihnachtsfeiertagen des ersten Kriegsjahres versammelten sich nach anfänglich zaghaften Kontaktversuchen zwischen den verfeindeten Gräben Soldaten aller beteiligten Armeen im Niemandsland, reichten sich die Hände, bestatteten - häufig in gemeinsamen Zeremonien - die Toten der vorangegangenen Kämpfe, tauschten kleine Geschenke wie Tabak, Süßigkeiten oder Konserven, spielten sogar Fußball miteinander und vereinbarten Rituale und Verhaltensweisen, die sicherstellen sollten, dass man sich gegenseitig möglichst wenig Schaden zufügte, sollte aus der Etappe militärische Aktivität befohlen werden. Neu ist diese Geschichte nicht. Seit neunzig Jahren gehört sie zumindest in Großbritannien zur sprichwörtlichen Erinnerungsfolklore des Ersten Weltkriegs, und so verwundert es nicht, dass seit zwei Jahrzehnten dort mit der Studie "Christmas Truce" von Malcolm Brown und Shirley Seaton eine Standarddarstellung vorliegt, die von internationalen Fachhistorikern seitdem als definitiv angesehen wurde. [1] Was hat demgegenüber Michael Jürgs zu bieten, der das Thema unter Berufung auf diese Pionierstudie noch einmal für deutsche Leser aufbereitet? Einiges und doch eigentlich nichts.
Das Buch von Jürgs will sich nicht akademischen Standards stellen. Schon ein flüchtiger Blick macht klar, dass der ehemalige "Stern"- und "Tempo"-Chefredakteur einen Großessay produziert hat, der den Lesern die intellektuelle Herausforderung der Historisierung erspart und dem Verlagshaus Auflage sichert. Der Text gleitet immer wieder ins sensationsheischende Präsens ab, und keine einzige der beeindruckend dicht recherchierten und in dieser Form zumindest für deutsche Leser neuen Quellen ist durch eine Anmerkung nachgewiesen oder nachvollziehbar. Wenn Jürgs und Bertelsmann ihren Lesern die Lektüre von Fußnoten schon nicht zumuten zu können glauben (welche Meinung hat man dort vom eigenen Publikum?) - was spricht gegen einen Endnotenapparat, den Interessierte konsultieren könnten? Das Fehlen dieser Angaben ist umso bedauerlicher, als Jürgs aus den Archiven des Imperial War Museum in London, des "In Flanders Fields Museum" und den Regimentstagebüchern offenbar Material zu Tage gefördert hat, das es verdiente, in die einschlägige Forschung Eingang zu finden, zumindest soweit dies innerhalb der international hervorragend vernetzten Weltkriegsforschung nicht schon längst geschehen ist. Es gehört zum Beispiel zu seinen Rechercheleistungen, die Fußballspiele im Niemandsland zwischen den verfeindeten Armeen (und sogar den 3:2-Sieg der Sachsen) plausibel belegt zu haben - sie galten bislang als ungesicherte Kriegslegenden.
Die Darstellungsweise, derer sich Jürgs bedient, ist indes ein wenig anstrengend zu nennen. Die prinzipiell chronologisch angelegte Struktur, die minuziös jene Tage an der Westfront nachzeichnen soll, wird immer wieder von Abschweifungen und Exkursen durchbrochen, die mal ins 19. Jahrhundert, ein andermal in die Ausstellungsräume des "In Flanders Field Museum" führen, und dabei stellen sich dann zahlreiche Redundanzen ein. Gleichzeitig ist es dem Journalisten Jürgs leider nicht gelungen, seine etwas selbstverliebte Pointenlaune abzulegen, die an keiner Stelle dem Thema gerecht wird. Das mag bei einem Buch verzeihlich sein, das sich in epigonal Haffner'scher Manier an der historischen Essayistik versucht, aber Jürgs sollte besser die Finger davon lassen, wenn seine hier vorliegenden Formulierungskünste das Beste sind, was er zu bieten hat. Als Kostprobe mag nur die Situation dienen, als - in seinen Worten - die militärische Führung Todesurteile erwog, um Soldaten davon abzuschrecken, "sich den richtigen Reim auf den Krieg und darauf einen Frieden zu machen" (122). Doch derartige stilistische Peinlichkeiten sind nur die Oberfläche eines grundsätzlicheren Problems, das dieses Buch durchzieht: Jürgs benutzt das Thema des Weihnachtsfriedens für eine Inszenierung seiner eigenen Weltsicht, die sich wiederholt als manichäisch, moralisierend und etwas naiv entpuppt. Die Verantwortlichen des "In Flanders Field Museum" lobt Jürgs zunächst und zu Recht für ihr dokumentarisches Engagement jenseits aller nationalen Schuldabrechnungen. Wenn er sich doch nur selbst auch ein wenig mehr im Differenzieren geübt hätte! Stattdessen entfaltet sich in seiner Darstellung ein Panorama aus Guten und Bösen, Schwarz und Weiß. In zahlreichen Zeugnissen macht er die Leser mit den "kleinen Leuten" in den Schützengräben auf beiden Seiten persönlich bekannt, die für einige Tage Waffenstillstand hielten - das sind seine Helden. Ihnen gegenüber befinden sich die militärischen Befehlshaber, Politiker und Kriegsgewinnler - hier spart Jürgs nicht mit verspäteter Polemik und nachträglichem Sarkasmus. Das ist alles moralisch nachvollziehbar und ehrenwert, aber das Buch bewegt sich damit auf dem intellektuellen Niveau der Alltagsgeschichte der 80er-Jahre, als alle "kleinen Leute" gut und alle "großen Tiere" böse schienen. Der populäre Nationalismus war vor 1914 keineswegs auf kriegslüsterne Eliten beschränkt, und erklärungsbedürftig ist weniger der Überlebenswille der Frontsoldaten als vielmehr ihre Bereitschaft, nach dem Weihnachtsfest 1914 jahrelang fürchterlichste Befehle auszuführen.
Die Zeugnisse der Weihnachtstage von 1914 bieten nicht nur Anknüpfungspunkte für bekenntnisstarke und moralisierend aufgeblähte Anklage-Rhetorik gegen die Machteliten, sondern offenbaren auch gegenteilige Deutungen der Beteiligten, die berücksichtigt werden sollten. Einige Materialien, die Jürgs nicht heranzieht, seien hier erwähnt: Ein englischer Hauptmann, Sohn einer deutschen Mutter, berichtete vom Weihnachtsfrieden an der Front: "Dann trugen sie die Toten herüber, ich werde besser nicht beschreiben, was ich zu sehen bekam und niemals vergessen werde. Wir begruben die Toten so wie sie waren. Dann zurück in die Gräben mit einem wachsenden Gefühl des Hasses nach dem, was wir gesehen hatten. Das war merkwürdig, nachdem wir gerade Hände geschüttelt und mit ihnen geplaudert hatten. Nun, es war ein sehr eigenartiger Weihnachtstag." [2] Und ein 17-jähriger Kriegsfreiwilliger, den auch Jürgs mit anders lautenden Äußerungen zitiert, schöpfte in einem seiner Briefe aus der Begegnung mit den deutschen Soldaten auch kriegerische Bestätigung, nachdem die Burenkriegskrise von 1902 in England tiefsitzende Degenerationsängste zur Folge gehabt hatte: "Sie sahen weit weniger kräftig aus als die englischen Kerle, und einige waren sogar kleiner als ich. Ich bin jetzt viel zuversichtlicher, was einen Bajonett-Angriff angeht, obwohl ich glaube, dass sie davonlaufen, bevor unsere Leute auf 50 Meter heran sind." [3] Welche Rolle bei diesen Äußerungen die Zensur oder die Erwartungshaltungen der Empfänger in der Heimat gespielt haben mögen - das lässt sich nur dann eindeutig beantworten, wenn das moralische Urteil von vornherein feststeht. Wer diese Texte ernst nimmt, wird zunächst zu einem gemischten und differenzierten Urteil kommen müssen, doch das ist Jürgs Sache nicht.
Seine Sache ist stattdessen die umstandslose Aktualisierung überzeitlicher moralischer Lehren, die sich aus historischen Ereignissen ableiten lassen sollen. Sein Buch macht über weite Strecken eher den Eindruck eines Besinnungsaufsatzes, zumal eingestreute Formulierungen verraten, dass es dem Autor eigentlich nicht um den Ersten Weltkrieg, sondern um die aktuellen weltpolitischen Kontroversen geht. Die damalige Kriegsberichterstattung erscheint ihm als "embedded journalism" (180), die Vereinbarungen zwischen den Gräben bezeichnet er als "Koalition der Unwilligen" (127), und die Dolchstoßlegende habe die Bierhausstrategen in der Heimat davon überzeugt, "dass Deutschland durch den Aufstand der Anständigen zu Hause den Krieg verloren hatte, im Felde unbesiegt geblieben war" (212). Diese Perspektive gipfelt schließlich auf Seite 268 unter ironischem Bezug auf Donald Rumsfeld in der These (die im Kern schon Modris Eksteins vor 15 Jahren vertreten hat), dass mit der Ablehnung des amerikanischen Irak-Krieges das ehrenwerte und anständige "alte Europa" von vor 1914 wieder auferstanden sei, das damals zwischen den Gräben gemeinsam Weihnachten gefeiert habe. Wenn man sich schon auf diese Argumentationsebene einlassen muss, so stellt sich doch die Frage, ob es nicht gerade das "alte Europa" war, das die Welt zweimal in die Katastrophe führte und ob es nicht der Relativierung überkommener und äußerst populärer nationalstaatlicher Machtstrukturen des alten Kontinents in zwei Weltkriegen und während des Kalten Krieges bedurfte, um die heutige Situation möglich zu machen. Festzuhalten, dass die Verbrüderungen im Niemandsland zunächst von deutscher Seite ausgingen (schlicht und einfach deshalb, weil die Deutschen anders als Briten und Franzosen bereits den Vorabend des Weihnachtsfestes feierten), ist selbstverständliche Chronistenpflicht, doch warum muss im selben Atemzug gleich zu Beginn der angeblich immer noch lebendige kollektive Deutschenhass der Briten mit den Stichworten Fußball, Pub und Boulevardpresse heraufbeschworen werden? (16). Was trägt das zum Thema bei? Die unmotivierten modischen Aktualisierungen, die dieses Buch durchziehen, dienen nur der polemischen Polarisierung tagespolitischer Meinungskonflikte. Dazu gesellen sich dann auch noch inhaltliche Fehler, etwa wenn die Frage auftaucht: "Warum haben die alle den Krieg satt, in den sie doch vor wenigen Monaten noch geradezu begeistert gestürmt sind, Lieder auf den Lippen, Blumen am Helm, Fahne voran?" (201). Hier sitzt Jürgs immer noch dem Mythos der August-Begeisterung auf, der in der neueren Forschung seit Jahren gründlich analysiert und relativiert worden ist. [4] Auch manche seiner Ansichten über das Verhältnis von Politik und Militär befremden zutiefst: "Wenn zu lange Frieden herrschte - und in Europa dauerte der immerhin schon seit 1871 - wurden die Ausgaben für Rüstung gekürzt, ließ der Einfluss der Militärs auf die Politiker nach" (190). Angesichts des Rüstungswettlaufes vor 1914 ist das einfach blanker Unsinn.
Bei aller Sympathie für manche Überzeugungen des Autors - Jürgs hätte besser daran getan, seine Ansichten in einem bekenntnishaften Essay zur aktuellen Weltpolitik zu verarbeiten, anstatt sich hinter der Geschichte des Weihnachtsfriedens von 1914 zu verstecken. Geschichtsschreibung darf und soll auch die Sache von Nicht-Historikern sein. Und es ist ein Jammer, dass dieses hochinteressante Thema bislang keinen dafür qualifizierten deutschen Historiker vom Fach zu einer Darstellung zu reizen vermochte. Ein noch größerer Jammer ist es allerdings, dass es in der hier vorliegenden, zumal gründlich recherchierten Form für aktuelle Pointen instrumentalisiert wird.
Anmerkungen:
[1] Malcolm Brown / Shirley Seaton: Christmas Truce. The Western Front December 1914, London 1984.
[2] Brief von Captain Will Spencer am 28.12.1914, Imperial War Museum, Dep. of Documents, Ref. 87/56/1; Übersetzung A. R.
[3] Brief von Private Leslie Walkington am 26.12.1914, Imperial War Museum, Dep. of Documents, no ref.; Übersetzung A. R.
[4] Um nur die allerwichtigsten Beiträge der letzten Jahre zu erwähnen: Jeffrey Verhey: Der 'Geist von 1914' und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Christian Geinitz: Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998.
Aribert Reimann