Rezension über:

Donal O'Sullivan: Stalins "Cordon sanitaire". Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939-1949, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 437 S., ISBN 978-3-506-70142-8, EUR 49,00
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Rezension von:
Alexander R. Schejngeit
Universität Konstanz
Empfohlene Zitierweise:
Alexander R. Schejngeit: Rezension von: Donal O'Sullivan: Stalins "Cordon sanitaire". Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939-1949, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/5294.html


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Donal O'Sullivan: Stalins "Cordon sanitaire"

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In der gekürzten und aktualisierten Fassung seiner Habilitationsschrift stellt Donal O'Sullivan unter Heranziehung zahlreicher neuer Quellen die sowjetische Osteuropapolitik zwischen 1939 und 1949 dar. Die Analyse der sowjetischen Motive, Zielsetzungen und Handlungen wird durch die Darstellung der entsprechenden Reaktionen der USA und Großbritanniens ergänzt. Der vom Autor gewählte Zeitraum ist eine der in der Forschung am kontroversesten diskutierten Phasen der sowjetischen Außenpolitik. Dabei waren die Historiker jahrzehntelang hauptsächlich auf westliche Quellen angewiesen. Im Vordergrund der Kontroversen standen Überlegungen zum Konzept der sowjetischen Außenpolitik. Sie spielen auch heute nach der partiellen Öffnung russischer Archive im Prozess der Selektion, Auswertung und Integration neuer Quellen in den aktuellen Forschungsstand eine ausschlaggebende Rolle. Da die Rezeption edierter Quellen sehr langsam voranschreitet und zusammenfassende Darstellungen kaum erscheinen, stellt die vorliegende Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Auswertung und Synthese des aktuellen Quellenbestandes dar. Allerdings geht es in der Regel nicht um ungedruckte, vom Autor erschlossene Akten, sondern um die in zahlreichen russischen Editionen publizierten Quellen. Ihre Aussagekraft hängt von der jeweiligen Fragestellung ab, sie bleibt aber in Bezug auf die Entscheidungsfindung im Kreml, das Denken und die Begründungsmuster Stalins doch eher begrenzt.

Methodisch bewegt sich die Analyse im Rahmen der traditionellen Diplomatiegeschichte. Das bedeutet, dass die Außenpolitik von der Innenpolitik weitgehend abgekoppelt wird. Auf die Untersuchung von Diskursen, die Aufschluss über das Handeln determinierende Spielräume und Sachzwänge geben können, hat der Autor verzichtet.

Konzeptionell greift O'Sullivan auf die Thesen der traditionellen Schule der Erforschung des Kalten Krieges zurück. Der Revolutionsexport und der tendenziell unbegrenzte, aber rational gesteuerte Expansionismus sind in dieser Perspektive die Triebkräfte der sowjetischen Außenpolitik. Allerdings wird diese eindimensionale Auffassung vom Autor verfeinert oder gar zum Teil revidiert, was die Darstellung nicht immer widerspruchsfrei erscheinen lässt. O'Sullivan spricht zum Beispiel vom "Endziel der Revolution" (121) und führt Äußerungen Stalins und Molotovs aus den hier als Quelle doch ziemlich problematischen Protokollen des amerikanischen Kongresses an, aus denen hervorgehe, dass die sowjetische Führung angeblich an den unmittelbar bevorstehenden "Siegeszug" des Kommunismus in der ganzen Welt glaubte (102). Allerdings habe Stalin, so der Autor einschränkend, keinen Plan zur Welteroberung gehabt und es habe auch keinen erkennbaren sowjetischen Zeitplan sowie keine ausgeprägte Risikobereitschaft gegeben. Stalins Außenpolitik sei pragmatisch, aus "revolutionären" und "imperialen" Elementen geschmiedet gewesen. Am Ende der Untersuchung wird Stalin aber doch zum "Erben imperialer russischer Tradition" erklärt (394). O'Sullivan verzichtet zwar explizit auf die Definitionsvorgabe der sowjetischen Außenpolitik als "revolutionär" oder "national-staatlich-traditionell" (58), kann aber leider kein klares und begrifflich überzeugendes Konzept vorlegen, das die Vielschichtigkeit und Ambivalenz des sowjetischen Handelns erklärt. In dieser Hinsicht stellt sich die Frage, warum der Verfasser das in der Forschung favorisierte Sicherheitskonzept, welches offensive und defensive Elemente der sowjetischen Außenpolitik einigermaßen plausibel bindet, ohne überzeugende Gegenargumente aufgibt.

Im August 1939 habe sich, so O'Sullivan, das Konzept Stalins durchgesetzt, dessen Kern angeblich die Ermunterung Hitlers zum Krieg gegen die Westmächte bildete (71). Dies scheint aber doch eine problematische Simplifizierung der sowjetischen Motivlage zu sein, die sowohl das von bolschewistischen Erfahrungen und Modernisierungszwängen bedingte Sicherheitsdilemma als auch die territorial definierte, an geopolitische Visionen des Russischen Reiches anknüpfende Großmachtpolitik ausblendet.

Dass Molotov, wie der Verfasser anderen Autoren folgend annimmt, in Berlin im November 1940 die Anerkennung sowjetischer Interessen an Ungarn, Jugoslawien, Griechenland und Westpolen verlangte, wird man weder in der Direktive Stalins an Molotov noch in den dem Autor nicht bekannten russischen Protokollaufzeichnungen finden können (89).

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion kam zunächst der Sicherung der territorialen Gewinne aus dem "Hitler-Stalin-Pakt" Priorität zu. Was die USA und Großbritannien betrifft, waren sie nach O'Sullivan zunächst geneigt, die UdSSR als traditionelle Großmacht mit legitimen Sicherheitsinteressen zu akzeptieren. Denn die Westmächte hatten keine Machtmittel, ihre Ideale in die Realität umzusetzen. Stalin auf ideelle Grundsätze eines liberalen Weltbildes zu verpflichten, war utopisch. Dies hatte, so eine der Hauptthesen der Untersuchung, gravierende Folgen für das Schicksal Osteuropas. Hinzu kam, dass Stalin den "passiven" und "uneinigen" Amerikanern und Briten strategisch überlegen war. Nicht belegt ist allerdings die Behauptung des Autors, dass es "sowjetische Agenten in britischen und amerikanischen Stäben und Entscheidungszentren" gegeben habe (229).

Die sowjetische Vorgehensweise in Osteuropa folgte, so O'Sullivan, einer "Strategie der vorsichtigen Expansion". Stalin sei durchaus bereit gewesen, auf die Westmächte Rücksicht zu nehmen, wie es der Verzicht auf eine gewaltsame Umgestaltung sozioökonomischer Strukturen in den osteuropäischen Staaten sowie die Duldung von freien Wahlen in Ungarn und der Tschechoslowakei bewiesen habe. Das Verhältnis zwischen der UdSSR und den osteuropäischen Staaten war allerdings nach dem Unterordnungsprinzip geregelt. Das Unabhängigkeitsstreben der jugoslawischen Kommunisten musste daher unvermeidlich zum Streit zwischen Stalin und Tito führen.

Die Wende zum Kalten Krieg war mit dem Wandel der westlichen Wahrnehmungsmuster verbunden. Nach Kriegsende entdeckten die Westmächte "die ideologische Komponente der sowjetischen Politik". Neue Bedrohungsvorstellungen, so O'Sullivan, hatten mit nüchterner Analyse allerdings nichts zu tun, da nicht der Revolutionsexport, sondern der Aufbau des im Krieg stark zerstörten sowjetischen Landes die oberste Priorität hatte. Die kompromisslose Haltung der USA empfand Stalin als Angriff auf die sowjetischen Einfluss-Sphären, weshalb er die Sowjetisierung der von der Roten Armee befreiten Länder intensivierte. Der Kalte Krieg, so das Fazit des Autors, entstand als Resultat einer Dynamik von Interessengegensätzen, Missverständnissen, Täuschungsmanövern und Illusionen. In dieser Hinsicht entfernt sich O'Sullivan weit von der traditionellen Auffassung über die Ursachen des Kalten Krieges, die dem sowjetischen Expansionsstreben die Hauptschuld an der Entstehung des Kalten Krieges zugeschrieben hat.

Der Mut zu Neubewertungen sowie die kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Forschungsstand gehören zu den Stärken der vorliegenden Untersuchung. Dank der neuen Quellenlage entsteht ein anschauliches, um viele neue Facetten bereichertes Ereignisbild, das wichtige Anstöße zum Nach- und Überdenken gibt.

Alexander R. Schejngeit