Rezension über:

Jacques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. Aus dem Französischen von Grete Osterwald (= Europa bauen), München: C.H.Beck 2004, 344 S., 2 Karten, ISBN 978-3-406-51762-4, EUR 24,90
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Rezension von:
Klaus Oschema
Historisches Institut, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Oschema: Rezension von: Jacques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. Aus dem Französischen von Grete Osterwald, München: C.H.Beck 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/6044.html


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Jacques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter

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"Damit waren die Nordmänner des Abendlandes Teil der Christenheit, des späteren Europa, geworden" (66). Virtuos führt ein solcher Satz mehrere Großkonzepte der historischen Interpretation zusammen. Abendland, Christenheit, Europa - die Eroberung Englands durch den normannischen Herzog Wilhelm (1066) ist hier in einen Rahmen eingespannt, der sinnstiftender nicht sein könnte. Zwar führt der Weg nach Europa im konkreten Fall vom Festland auf die Insel - doch nicht hierin besteht das Problem, das beim genaueren Lesen aufstößt, sondern vielmehr in der rasch sichtbar werdenden Unklarheit der verwendeten Begriffe.

Doch zum Anfang: Die Reihe "Europa bauen" feiert mit dem vorliegenden Werk eines Großmeisters der französischen Mediävistik ein Jubiläum. Der 20. Band ist hier anzuzeigen, mit dem sich der Reihen-Herausgeber Le Goff als überzeugter Europäer selbst ein Geschenk gemacht haben dürfte. Europa liegt ihm am Herzen, das bezeugt das von ihm verfasste Vorwort, das zu Beginn aller Bände der Reihe zu finden ist, ebenso wie ein 1996 erstmals erschienenes Werk: L'Europe racontée aux jeunes ist unter Historikern kaum bekannt, führt aber in äußerst jugendgerechter Weise in ausgewählte Probleme der europäischen Geschichte und Identität ein. Mit seiner jüngsten Publikation geht Le Goff der Frage nach, ob Europa im Mittelalter geboren wurde (L'Europe est-elle née au Moyen Âge?), die bei der Übersetzung zur affirmativen Aussage wurde. Der Wandel scheint unproblematisch, angesichts der zahlreichen Europas die dem Leser während seiner Lektüre begegnen, vom "Europa der Städte" (144) über jene "der Prostitution" (149) und "der Kaufleute" (150) bis zu jenem "der Zensur" (195). Ist die Einheit da noch zu bezweifeln?

Solche Entschiedenheit erstaunt, wurde doch bereits gefragt, ob Europa vor 1700 überhaupt existierte [1] und eingeräumt, dass es (zumindest als Konzept) nicht mittelalterlich sei, sondern das Mittelalter geradezu ablöse. [2] Solche Einschätzungen machen es dem Mediävisten schwer, an der gegenwärtigen Popularität Europas zu partizipieren um seine Forschung an den Mann oder die Frau zu bringen. Letztere sind im Fall Le Goffs denn auch keine Fachwissenschaftler, da er ausdrücklich "nicht für die Gelehrten" geschrieben hat und "auch keine fortlaufende Geschichte des europäischen Mittelalters liefert; er bietet keinen Überblick über ihre wichtigsten Aspekte und geht erst recht nicht ins Detail" (13). Was bei einer solchen Zielsetzung systematisch übrig bleibt, sei dahingestellt. Klar ist, dass Forschung zum mittelalterlichen Europa weiterhin dringend notwendig ist und neue Beiträge nur willkommen sein können. Als Beispiel für die vielfältigen Zugangsmöglichkeiten sei hier nur auf den zeitlich breit angelegten Überblick von Wolfgang Schmale verwiesen. [3]

Der vorliegende Essay bietet aber eher Affirmatives als Analytisches. Empfangen wurde Europa ihm zu Folge in der Spätantike, aus der Begegnung griechisch-römischer Kultur und dem lateinischen Christentum. Byzanz ist hier das "abstoßende Andere" (44) gegen das sich das lateinische Abendland als Europa gebildet habe. Die karolingische Welt sei dann eigentlich einer "Fehlgeburt" gleichgekommen. Zwar vereinte Karl der Große weite Territorien, aber seine hegemoniale Auffassung habe dem "wahren Europagedanken" widersprochen (48). Um das Jahr 1000 wurde Europa dann "erträumt und möglich" und sei schließlich in ein "feudales Europa" gemündet, das im 11. und 12. Jahrhundert durch seine Sozialstruktur, das Christentum und die Organisation in Feudalmonarchien eine weit greifende Einheit besaß (74-137). Das 13. Jahrhundert bedeutet für Le Goff dann ein "schönes" Europa der Städte und der Universitäten (138-209). Er zeichnet dies anhand mehrerer kultur- und sozialgeschichtlicher Entwicklungen nach, indem er eine Zusammenstellung weitestgehend bekannter Tatsachen gibt. Diese betreffen die Entwicklung des Städtewesens und der Universitäten, aber auch des Handels und der Bettelorden (deren revolutionär raumerfassende Organisation erstaunlicherweise unerwähnt bleibt). Den Endpunkt bildet dann die Frage nach dem Spätmittelalter und dessen Einordnung als Epochenende oder Beginn neuer Entwicklungen (210-261). Trotz seines bekannten Vorschlags, mit einem langen Mittelalter im Sinne des vormodernen Europa zu operieren, erkennt Le Goff im Resümee (262-270) dem 15. Jahrhundert eine gewisse Scharnierstellung zu: Der europäische Raum sei nunmehr formiert und weitgehend christianisiert gewesen. Gleichzeitig griff nun eine Mentalität, die stärker als in anderen Kulturen dem Fortschritt und der Expansion aufgeschlossen war. Abgeschlossen wird der Band mit einem ausführlichen Anhang, der Karten, eine Zeittafel, eine thematisch gegliederte Bibliografie und ein Personenregister bietet (273-344).

Dieses Programm klingt ansprechend, zumal es in Le Goff'scher Manier auch eingängig zu lesen ist. Leider erhält die Lektüre rasch einen schalen Beigeschmack, der nach ihrer Beendigung leichtem Unmut weicht. Dies beginnt bereits mit der Titelwahl: Unzweifelhaft spielen sich die dargebotenen Entwicklungen in jenem Raum ab, der heute Europa genannt wird. Wie sie aber zu "europäischen Phänomenen" werden, müsste stärker argumentativ untermauert werden. Vielleicht hätte hier ein konziser Überblick über die begriffliche und konzeptuelle Entwicklung helfen können, die nur an wenigen Stellen in den Blick gerät, so im Kontext der Karolinger (60f.) oder auch des Bündnisprojekts Georgs von Podiebrad (253f.), zu dem Le Goff richtig hervorhebt, dass es eben nicht den Namen "europäisch" trug. Der bereits genannte Titel von Schmale oder auch die grundlegende Arbeit von Jürgen Fischer [4], die hier wichtige Ergänzungen bieten könnten, erscheinen in der Bibliografie nicht. Der Schwerpunkt liegt somit auf einer entwicklungsorientierten Darstellung solcher Phänomene, die einen kulturellen Raum Europa konstituiert haben mögen. [5]

Nun wäre ein materiell orientierter Überblick über die "europäische Geschichte" für ein breites Laienpublikum durchaus eine wertvolle Zielsetzung, aber auch hier sind Vorbehalte anzumelden. Der Bamberger Dom ist kaum der Prototyp der Königsgrablege in Deutschland (77), die Bürger von Laon haben ihren Bischof nicht 1116, sondern 1112 ermordet (145), die Beteiligung Jakob Sprengers am "Hexenhammer" wird heute einhellig abgewiesen (225), und 1237 ist keineswegs ein gesichertes Datum für die Erbauung der ersten Brücke am St. Gotthard (156). [6] Diese Kritik mag kleinkariert erscheinen, geht es doch eigentlich um die großen Bewegungen der europäischen Geschichte. Aber auch diese müssen auf der Grundlage kleiner Details ausgebaut werden, die im vorliegenden Werk nur allzu häufig in die Irre führen.

Hinzu kommen Schwächen, die trotz der insgesamt guten Arbeit der Übersetzerin anzulasten sind. Zuweilen verunklart ihre Interpretation des französischen Originals: So macht es einen Unterschied, ob man den Begriff der collegatio (zum Handwerker-Zusammenschluss in Figeac, 1255) als "Gewerkschaft" übersetzen "kann" (226) oder "muss" (französisch 221). Inhaltlich problematischer wird es dann, wenn Suger von St. Denis die "Rekonstruktion" seiner Abteikirche zugeschrieben wird, die doch in Realität ein "Neubau" ist (198). Dagegen ist es harmlos, wenn andere Passagen nur leicht unklar bleiben, etwa wenn es vom Begriff der courtoisie heißt, dass bereits die Etymologie Hof und Stadt als seine beiden sozialen Ursprünge erweise (199). Klarheit schafft hier das französische Original, das vom Zivilisationsprozess und der courtoisie spricht (französisch 194). Andere Fehler sind lediglich Kuriosa, etwa wenn Claude Gauvard durchgängig das männliche Geschlecht aufgezwängt wird (222).

Daneben stellen sich stilistische Fragen, vor allem angesichts der Textgattung, die Le Goff für sein Werk reklamiert. So ist "in der langen Dauer" (101) keine elegante Übersetzung für die Formel von der longue durée, sodass die Belassung des Originalbegriffs vorzuziehen wäre. Immerhin lässt die Übersetzerin ja auch die französische Bezeichnung der Montagne Sainte-Geneviève durchgehen (150f.), ebenso wie die nur schwer einzudeutschenden chansons de geste (183) oder die Armagnacs und Bourguignons (227f.), für die gängige Begriffe zur Verfügung gestanden hätten. Vielleicht fehlte für eine konsequente Überarbeitung und Korrekturphase, die manches hätte verbessern können, einfach die Zeit? So fallen an manchen Stellen gehäufte Fehler auf, die ein sorgfältiges Lektorat hätte vermeiden können (vergleiche etwa 176f.). Dabei wurde bei der Übersetzung durchaus einiges korrigiert, etwa aus der Lex Baiavariorum (französisch 44) die Lex Baiuvariorum gemacht (47) - was aber nicht verhindern konnte, dass auf derselben Seite ein burgundischer König Gundobada erscheint.

So bleibt er denn am Ende, der schale Geschmack, wenngleich dieses Urteil natürlich überzogen ist: Das Buch ist gut lesbar und für den Laien vielleicht trotz der vielen Schwächen, die hier nur angedeutet werden konnten, sogar lesenswert. Nur erwartet man von Le Goff natürlich Meisterwerke - und um ein solches handelt es sich hier nicht. Der Band ist keine magistrale Synthese eines Altmeisters, sondern eine rasch dahingeworfene Skizze, bei der zahlreiche Details einer Prüfung nicht standhalten. Der Text kann jene überzeugen (und ihnen Orientierungshilfe bieten), die sich als Europäer bestätigt sehen wollen. Für die Kritik des Skeptikers, der Existenz und Berechtigung Europas vor den Entwicklungen der Neuzeit hinterfragt, scheint er wenig gewappnet. Le Goff will "Europa bauen". Wichtig wäre es, zu wissen, ob man bereits im Mittelalter "Europa finden" kann - und diese Frage scheint weiterhin offen.


Anmerkungen:

[1] Peter Burke: Did Europe exist before 1700?, in: History of European Ideas 1 (1980), 21-29.

[2] Rudolf Hiestand: "Europa im Mittelalter" - vom geographischen Begriff zur politischen Idee, in: Hans Hecker (Hg.): Europa - Begriff und Idee. Historische Streiflichter, Bonn 1991, 33-48.

[3] Wolfgang Schmale: Geschichte Europas, Wien et al. 2000. Von der inhaltlichen Ausrichtung ist der vorliegende Band vor allem zu vergleichen mit Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003.

[4] J. Fischer: Oriens - Occidens - Europa. Begriff und Gedanke "Europa" in der späten Antike und im frühen Mittelalter, Wiesbaden 1957.

[5] Die Eckpunkte einer solchen kulturellen Einheit entsprechen im Umriss den thesenhaft vorgestellten Gedanken von H. Heimpel: Europa und seine mittelalterliche Grundlegung, in: Die Sammlung 4 (1949), 13-26.

[6] Vergleiche kurz T. Meier: Die Archäologie des mittelalterlichen Königsgrabes im christlichen Europa, Stuttgart 2002; A. Dufour: "Laon", in: LexMA 5, 1709-1712; W. Behringer: Heinrich Kramers »Hexenhammer«: Text und Kontext, in: Frühe Hexenverfolgungen in Ravensburg und am Bodensee, hg. v. A. Schmauder, Konstanz 2001, 83-124; H. Stalder: Mythos Gotthard. Was der Pass bedeutet, Zürich 2003, 24-29 und 74-76.

Klaus Oschema