Hans Günter Hockerts: Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts (= Schriften des Historischen Kollegs; Bd. 55), München: Oldenbourg 2004, XV + 339 S., ISBN 978-3-486-56768-7, EUR 59,80
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Das Anliegen dieses Sammelbandes, "die Suche nach integrierenden Perspektiven oder Synthesekernen" (IX) einer doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte, ist mehr als überfällig. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Kollaps des Kommunismus und der Vereinigung fehlt noch immer eine gemeinsame Geschichte der Zeit der Teilung, die nicht die Zweistaatlichkeit historiographisch fortschreibt. Gleichzeitig harren die methodischen Verschiebungen in Richtung Kulturgeschichte und die Ausweitungen der Blickweisen auf europäische und globale Horizonte noch einer Rückbindung auf die deutsch-deutsche Thematik. Auch können die Darstellungen der westdeutschen Erfolgsgeschichte des "langen Weg nach Westens" (Heinrich-August Winkler) sowie ihres Pendants, die ostdeutsche Misserfolgsgeschichte des "SED-Staats" (Klaus Schroeder), intellektuell nicht recht befriedigen, weil sie in ihrer Einseitigkeit die vielfältigen Widersprüche der Lebenswirklichkeit zu sehr vereinfachen.
Allerdings bleibt, wie gerade der imponierende Versuch von Peter Graf Kielmansegg zeigt, die Umsetzung dieses Desiderats weiterhin enorm schwierig, nicht zuletzt weil es kaum Vorbilder für eine übergreifende Darstellung von gleichzeitiger Demokratisierung im Westen und Diktaturentwicklung im Osten innerhalb eines Volkes gibt.
Um die Diskussion voranzubringen organisierte Hans Günter Hockerts im Juli 2000 am Historischen Kolleg in München eine hochkarätige Konferenz, die sich mit der Erarbeitung von "Koordinaten deutscher Nachkriegsgeschichte" beschäftigte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Wahrnehmung, dass "das geteilte Deutschland über Jahrzehnte hinweg durch zahlreiche Fäden miteinander verknüpft" (XIV) blieb, denn sonst wäre im demokratischen Aufbruch des Herbsts 1989 die Entwicklung nicht auf eine Wiederherstellung nationalstaatlicher Einheit hinausgelaufen. Damit ist auch die kardinale Frage gestellt, die es neben aller berechtigten Betonung der Kontraste zwischen beiden deutschen Staaten zu klären gilt. Und: Wie tragfähig erweisen sich die von den verschiedenen Teilnehmern formulierten Ansätze zu einer gemeinsamen Nachkriegsgeschichte in ihrer verschriftlichten Form?
In Erweiterung der von Etienne François am Schluss des Bandes vorgeschlagenen Taxonomie sollen einige der in den vorausgegangenen Beiträgen vorgestellten Konzepte kurz Revue passieren. Der erste Einstieg, der von der französischen Sozialhistorikerin Sandrine Kott vorgenommen und von dem deutschen Staatsrechtler Hans Zacher fortgeführt wurde, besteht in der Betonung der gemeinsamen historischen Wurzeln von DDR und Bundesrepublik. Durch einen Rückblick auf die Entwicklung des Sozialstaats seit der Bismarckzeit wird deutlich, dass die beiden konkurrierenden Staatsgründungen in Ost und West sich auf eine gemeinsame Vergangenheit berufen konnten, die dann nach den jeweiligen Ideologien unterschiedlich ausgelegt und weiterentwickelt werden konnte. Die Erinnerung an die Gemeinsamkeit der historischen Wurzeln als Ausgangsbasis für die Nachkriegsentwicklung ist mehr als eine Selbstverständlichkeit, weil diese auch unterhalb der feindlichen Ideologien in den folgenden Jahrzehnten noch subkutan weiterwirkten.
Ein zweiter Ansatz ist der teils implizite, teils explizite Vergleich zwischen Ost und West, der durch Gegenüberstellung sowohl Gemeinsamkeiten wie Unterschiede herausarbeitet. In einem nur auf die DDR bezogenen Essay betont Martin Sabrow zu Recht neben der gemeinsamen Vorgeschichte auch den Kontrast der konkurrierenden Systeme und sowie die Einbettung des SED-Regimes in einen breiteren ostmitteleuropäischen Blockkontext. Ähnlich arbeitet Detlef Pollack in seinen Überlegungen zur Modernität der DDR anhand einer auf westlichen Kriterien aufbauenden Modernisierungstheorie die Widersprüchlichkeit Ostdeutschlands als einer "semimodernen Gesellschaft" (205) heraus. Einen expliziten Vergleich wagt Margit Szöllösi-Janze anhand des Begriffs der "Wissensgesellschaft" (278), der eine erhebliche Liste von Ähnlichkeiten (286) der Wissenschaftsgläubigkeit zu Tage fördert, obwohl sich das westliche System letztlich doch als innovativer erwies. Diese Essays bieten anregende, über Schwarz-Weißmalerei hinausgehende Einsichten, die sich aus einer systematischen Verwendung des Vergleichs ergeben, da diese Methode über ideologische Vorannahmen hinauszuführen vermag.
Eine dritte Perspektive der Thematisierung der Teilungsgeschichte ergibt sich aus der Frage nach den trotz aller Eigenstaatlichkeit weiter bestehenden Verflechtungen zwischen Ost und West, auf die Christoph Kleßmann immer wieder hingewiesen hat. In einem politikgeschichtlich angelegten Überblick über die Entwicklung des internationalen Systems im Zeitalter des Kalten Krieges behandelt Hans-Peter Schwarz die DDR als "sowjetisches Quasi-Protektorat" (16), geht aber souverän über die kulturellen Dimensionen internationaler Politik hinweg. Aufschlussreicher ist dagegen Horst Möllers Untersuchung des "'national' Verbindende[n] in der Epoche der Teilung" (307 ff.), da er eine breite Palette von Faktoren wie gemeinsame Abstammung, enge Kommunikation, Tradition der Kulturnation, konkurrierndes Geschichtsverständnis, kontrastierende Nationalbezüge und kontroverse Staatsbürgerschaftsregelungen diskutiert. Die Schlussbemerkungen von Etienne François über wichtige Erinnerungsdimensionen zeigen, dass dieser Verflechtungsansatz manche Dimensionen der doppelten Nachkriegsgeschichte zu erhellen vermag.
Die spannendsten Ergebnisse des Sammelbandes vermitteln jedoch die Beiträge, die sich auf gemeinsame grenzübergreifende Problemlagen in beiden deutschen Staaten konzentrieren. So ist Anselm Doering-Manteuffels Kontrast der Begriffspaare "Frieden" und "Freiheit" nicht nur für die jeweilige Propaganda der DDR und der Bundesrepublik, sondern auch für ihr unterschiedliches Selbstverständnis von zentraler Bedeutung. Ähnlich produktiv ist Charles S. Maiers Reflexion über die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Staaten auf den Wertewandel der Sechzigerjahre und die Ölschocks der Siebzigerjahre, die nach einigen Schwierigkeiten im Westen gemeistert wurden, im Osten aber die schleichende Systemkrise verschärften. Auch Hannes Siegrists Überlegungen zur systematischen Entbürgerlichung in der DDR und zur Wiederherstellung von Bürgerlichkeit als professionelle Struktur und kulturelle Ordnung in der Bundesrepublik sind bedenkenswert, weil sie kontrastierende sozialpolitische Prioritäten verdeutlichen. In eine ähnliche Richtung weisen Karl Gabriels vergleichende Betrachtungen zur Säkularisierung und Entkirchlichung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.
Diese Beispiele zeigen, dass eine auf ein gemeinsames Problem fokussierte Untersuchung von Teilbereichen am ehesten brauchbare Resultate produziert.
Lassen sich jedoch aus diesen anregenden Aufsätzen wirklich tragfähige "Koordinaten" zur Bestimmung der doppelten Nachkriegsgeschichte ableiten? Bei aller inhaltlichen Kompetenz der Einzelbeiträge kann die Antwort auf diese Generalfrage kaum positiv ausfallen. Es ist die große Stärke dieses Sammelbandes, dass er das verfügbare Ensemble der methodischen Ansätze durch überzeugende Beispiele exemplifiziert. Aber es bleibt die grundlegende Schwäche eines weder auf ein dominantes Frageraster noch auf eine gemeinsame Methode eingeschworenen Konferenzunternehmens, dass es ihm kaum gelingen kann, auch nur die Umrisse einer überzeugenden Gesamtdarstellung zu erarbeiten. Das liegt nicht am fehlenden guten Willen, sondern an der Schwierigkeit der Aufgabe, fünf Jahrzehnte einer nicht mehr in einem Nationalstaat verfassten Entwicklung darzustellen, ohne quasi eine "latente Nationalgeschichte" zu schreiben, die durch die NS-Verbrechen diskreditiert ist. Da diese Herausforderung, wenn überhaupt, vielleicht nur von einem einzelnen Autor zu meistern ist, warten die Zeithistoriker gespannt auf die angekündigte Darstellung aus Hans Günter Hockerts eigener Feder.
Konrad H. Jarausch