Karl Otmar von Aretin: Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart: Klett-Cotta 2003, 361 S., ISBN 978-3-608-94286-6, EUR 27,50
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"Treu deutsch und aufrichtig katholisch", diese Haltung gilt für zahlreiche deutsche Katholiken und katholische Politiker des 19. Jahrhunderts. Wenn sie aus Bayern stammten, galt für sie überdies nahezu uneingeschränkte Loyalität gegenüber der bayerischen Monarchie einerseits und dem preußisch-deutschen Herrscherhaus andererseits. Dass dies manchmal ein Spagat bedeutete und vor allem in den Jahren des Kulturkampfes konfliktträchtig war, liegt auf der Hand. Forschungen der letzten Jahre thematisieren entsprechende Fragestellungen zunehmend. Der Autor formuliert zwar nicht explizit eine entsprechende Fragestellung, zitiert jedoch Franckenstein eingangs bezeichnenderweise mit den kommentierenden Worten: "Wenn er [...] am Ende seiner Rede betonte, dass wir Bayern in der Stunde der Gefahr gute Deutsche sind, die jederzeit für die Ehre Deutschlands mit Gut und Blut eintreten wollen', dann war er sich wohl nicht im klaren, wie nahe diese Situation bevorstand" (27).
Die Arbeit stützt sich maßgeblich auf den bisher unveröffentlichten Nachlass, wodurch ein neues Licht nicht zuletzt auf die Frühgeschichte des Zentrums sowie auf die bayerischen politischen Verhältnisse, auf die Partnerschaft mit Bismarck, auf Konflikte mit Windthorst und das Verhältnis zu Ludwig II. geworfen wird. Die herangezogenen Aufzeichnungen über das Ende Ludwigs II., der Briefwechsel mit der Ehefrau (rund 4000 Briefe) sowie zahlreiche Gedächtnisprotokolle und umfangreiches zusätzliches Archivmaterial sind in die Darstellung eingeflossen. Kritisch merkt der Autor einen persönlichen Bezug an - die Tatsache, dass Franckenstein und Karl Freiherr von Aretin, die eine Freundschaft verband, seine Urgroßväter sind.
Von Aretin schildert die Entscheidung Franckensteins für eine politische Karriere, seinen Aufstieg zum Reichstagsabgeordneten, zum Fraktionsvorsitzenden des Zentrums, zum Vizepräsidenten und Präsidenten des Deutschen Reichstages. Deutlich konturiert zeichnet er das Profil und den Aufstieg einer politischen Persönlichkeit ins Zentrum der Macht im Berlin der 1870er- und 1880er-Jahre. Neben einer beeindruckenden Fülle von Detailinformationen und -kenntnissen sowie Hintergrundinformationen entbehrt der Text nicht einer gewissen Dramaturgie.
Stichworte wie "schwierige Situation" (63, 69, 112), "ohnehin schwierige Lage" (125) und "schwierige" oder "heikle Aufgaben" (64), "Probleme mit schwierigen Wirkungen" (93) durchziehen den Text. Auf dieser Folie entfaltet der Autor die Qualitäten eines Politikers, dessen Erfolg und Durchsetzungsvermögen in Krisen und Konfliktsituationen von der Fähigkeit zum Ausgleich, zur geschickten Verhandlungsführung, zum sachlichen Umgang mit Eigenheiten von Partnern und Gegnern, auch mit Eitelkeiten und Empfindlichkeiten gekennzeichnet war.
Diese Fähigkeiten treten beispielsweise im Zusammenhang mit Franckensteins Arbeit in der Zolltarifskommission und in seinen Sozialgesetzgebungsinitiativen, insbesondere mit dem Krankenkassengesetz und dem Arbeiterunfallgesetz, hervor. Zwischen Zentralismus und Föderalismus versuchte er immer wieder einen Ausgleich zu erzielen. Franckensteins politisches Denken, sein eigenständiges Urteil und seine Kompromissfähigkeit werden etwa in folgendem Brief an seine Frau zu Beginn der 1880er-Jahre sichtbar: "Ich hoffe, dass wir die Krankenkassen fertig kriegen, dagegen den Unfall in der Kommission begraben werden. So wie Bismarck die Dinge führt, gehen sie nicht" (172). Sein Bemühen um einvernehmliche Lösungen sicherte wiederholt den Erfolg seiner Tätigkeit.
Ausführlich geht von Aretin auf Franckensteins Bemühungen ein, den Kulturkampf zu beenden. Er verdeutlicht seine klaren Positionen und den Erfolg in Ausgleichsverhandlungen in den Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat. Insgesamt wird deutlich, dass Franckenstein klar und weitsichtig versuchte, das Zentrum aus der Rolle der staatsfeindlichen Partei herauszubringen und den politischen Katholizismus zur konstruktiv gestaltenden Kraft zu machen. Nachvollziehbar sind Höhepunkte der Karriere, die sich etwa in der Anerkennung durch Bismarck manifestierten.
Der Autor schreibt indes nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sondern schildert auch Konflikte mit der Partei und vor allem mit dem Zentrumsvorsitzenden Ludwig Windhorst, Intrigen, Gerüchte und einen "unglaublichen Druck" (273), zwischen Loyalitäten und eigenem politischen Profil balancieren zu müssen. Seine kritischen Kommentare und Wertungen formuliert von Aretin vorsichtig abwägend. Er argumentiert vielfach mit Hinweisen auf die Quellenlage und auf Faktoren, die Franckenstein nicht berücksichtigte, vielleicht auch nicht berücksichtigen konnte.
Im Mittelpunkt des politischen Handelns Franckensteins tritt zum einen Berlin als Bühne seines politischen Wirkens hervor. Zum anderen erscheint Franckenstein auch als Vertrauter Ludwigs II. und als kritischer Beobachter der bayerischen Politik sowie politischer Strömungen innerhalb des bayerischen politischen Katholizismus. Es sei ihm der Vorwurf heftiger Kritik an der bayerischen Politik gemacht worden, schreibt der Autor. Er äußert sich kritisch zu Franckensteins Rolle in der "Königskrise" 1886, die hier erstmals - durch Kommentierungen unterbrochen (206-225) - veröffentlicht wird. Von Aretin geht hier auf Vermutungen ein, Ludwig habe ein "Kabinett Franckenstein" geplant, aufbauend auf ein interessantes Kapitel "Ludwig II. und Franckenstein". (47-61) Insgesamt sind beschreibende, analysierende und kritisch wertende Passagen des Buches eng miteinander verzahnt.
Es entsteht das Bild einer Persönlichkeit und ihres Lebens, das vielleicht auch exemplarisch ist, geprägt von Gesprächen, Beratungen, Besuchen, Verhandlungen, eingebunden in Netzwerke, konfliktreich und aufreibend, zwischen Berlin und Bayern. Die Familie tritt nur wenig hervor. Die Silberhochzeit und Hochzeit einer Tochter werden erwähnt. Lediglich anlässlich seines Todes kam Franckensteins Familie ein einziges Mal nach Berlin. Gleichwohl bildet die Korrespondenz mit seiner Frau eine der wichtigsten Quellen aus Franckensteins Nachlass. Sie macht deutlich, dass der Politiker seine Frau als Partnerin in seine Pläne einbezog, dass er seine Ehe, seine sozialen Wurzeln und seinen Glauben als Rückhalt betrachtete.
Der Autor beschreibt, kommentiert und wertet die politische Karriere Franckensteins detailliert, der Chronologie des Lebens Franckensteins folgend, eines tatsächlich zu Unrecht vergessenen oder nicht ausreichend gewürdigten Politikers. Sein Anliegen ist es nicht in erster Linie, Forschungsfragen und deren Akzentverschiebungen am Beispiel eines bedeutenden Parlamentariers und Zentrumspolitikers der Bismarckzeit zu diskutieren. Obwohl umfangreiche Literatur in die Endnoten integriert ist, enthält das Buch zwar ein Personen-, jedoch kein Literaturverzeichnis. Die Biografie ist aufgrund der Detailliertheit, des vorsichtig kritisch wertenden Urteils und der Materialfülle ein Fundus, exemplarisch für Politik als Kommunikationsraum der Geschichte, zweifellos wichtig für die Forschung über den politischen Katholizismus im Spannungsfeld zwischen Region, Nation und Konfession.
Barbara Stambolis