Michele C. Ferrari (Hg.): Vil guote Buecher zuo Sant Oswalden. Die Pfarrbibliothek in Zug im 15. und 16. Jahrhundert, Zürich: Chronos Verlag 2003, 133 S., ISBN 978-3-0340-0665-1, EUR 32,00
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Das Interesse an der Pfarrei und an dem in der Pfarrseelsorge tätigen niederen Klerus hat in der Mittelalterforschung in den letzten Jahren unverkennbar zugenommen. Während die Pfarrei als die wichtigste kirchliche Institution zur religiösen Versorgung der Bevölkerung lange Zeit vornehmlich aus der Perspektive der Kirchenverfassung erforscht worden ist, wovon zahlreiche Untersuchungen über die Entwicklung der Kirchenorganisation in Bistümern, Landschaften und Städten zeugen, wenden sich neuere Forschungen unter vielfältigen Perspektiven nun auch dem Innenleben der Pfarrei zu. Wenig bekannt ist bislang über Pfarrbüchereien, die es in beträchtlicher Zahl schon im späten Mittelalter gegeben hat. Dabei ist es für den Forscher nicht leicht, einen Überblick zu gewinnen, weil über viele dieser Bibliotheken in Beiträgen zu lokal- und landesgeschichtlichen Zeitschriften publiziert worden ist. Eine Zusammenschau wäre wünschenswert. Anlässlich der Präsentation des vorliegenden Bandes im Oktober 2003 hat in Zug eine Tagung über "Pfarrbibliotheken im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit" stattgefunden. Es wäre zu wünschen, dass die Tagungsbeiträge bald veröffentlicht werden.
Die Hauptpfarrkirche von Zug war und ist bis heute die St. Michaelskirche, der die Kirche St. Oswald als Filialkapelle untergeordnet war. Wie viele Kirchenbibliotheken ist auch die Bibliothek an St. Oswald über Jahrhunderte gewachsen und reicht mit ihrem Grundbestand noch in die vorreformatorische Zeit zurück. Maßgeblich zu ihren Beständen beigetragen hat der Pfarrer Johannes Eberhart (1435-1497), der an der Universität Erfurt studiert hat, bevor er die Pfarrei St. Michael in seiner Heimatstadt Zug übernommen hat. Er stiftete den Neubau der St. Oswaldkapelle. Beispielhaft verdeutlicht dieser Geistliche den Wandel, der sich offenkundig im niederen Klerus des ausgehenden Mittelalters vollzogen hat. Die Pfarrseelsorger des 15. Jahrhunderts waren nicht selten studierte Männer mit geistigen Interessen, welche sich nicht zuletzt in einem entsprechenden Bücherbesitz niedergeschlagen haben. Ein besonderer Glücksfall der Überlieferung ist es aber, wenn diese Geistlichen ihre Bücher nicht nur der Kirche vermacht haben, an der sie tätig waren, sondern wenn diese Bücher auch noch - wie in Zug - bis heute erhalten geblieben sind. Es ist das Verdienst von Michele C. Ferrari, der aus der Schweiz stammt und an der Universität Erlangen die Professur für Lateinische Philologie des Mittelalters bekleidet, diesen Bücherschatz der Vergessenheit entrissen zu haben. Die vorliegende Publikation gibt erstmals einen umfassenderen und durch die ansprechende Bebilderung auch anschaulichen Einblick in die Buchbestände der Pfarrbibliothek Zug, stellt ausgewählte Zimelien vor und ordnet sie in größere Zusammenhänge ein. Die Beiträge des Bandes sind aus einem Forschungsseminar an der Universität Zürich hervorgegangen und durch einige Aufsätze externer Autoren ergänzt worden.
Im ersten Teil des Bandes ("Die Pfarrer und ihre Bücher") führt zunächst Sabine Arend in das kirchliche Leben in Zug während des späten Mittelalters ein, betrachtet den an den dortigen Kirchen tätigen niederen Klerus und geht auch auf den Bücherbesitz der Geistlichen ein. Einen breit angelegten Überblick über die Pfarrbibliothek in Zug um 1500 gibt Michele C. Ferrari, der neben Johannes Eberhart auch die anderen spätmittelalterlichen Geistlichen behandelt, die zum Wachstum des dortigen Bücherbestandes beigetragen haben. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Analyse der Bestandsstruktur, die zeigt, "dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Zuger Pfarrbibliothek durchaus auf der Höhe der Zeit war, ja eine ausgesprochen moderne Handbibliothek für die Pfarrer war, denen sie zur Verfügung stand" (37). Damit wird ein zentraler Aspekt angesprochen, der bei der Beschäftigung mit spätmittelalterlichen (und gewiss auch frühneuzeitlichen) Pfarrbibliotheken zu beachten ist: ihre Funktion für die Seelsorge, ihr Nutzen für die alltägliche Praxis des Pfarramtes. Dabei wird deutlich, dass die vielfältigen kirchlichen Reformbemühungen des 15. Jahrhunderts in den Pfarreien nicht ohne Widerhall geblieben sind. Romy Günthart geht in seinem Beitrag der Bestandsgeschichte der Bücherei von St. Oswald nach, indem er die datierten Bücher aus der Pfarrzeit von Johannes Schönbrunner und Andreas Winkler behandelt.
Im Mittelpunkt des Bandes (Teil 2) stehen einzelne Handschriften und handschriftliche Fragmente in der Pfarrbibliothek Zug: Lebenshilfen für Dies- und Jenseits (Franziska Martinelli-Huber), der Nutzen der Fürbitten der Heiligen (Carmen Baggio Rösler), Kirchenrecht in Versform, nämlich das Lehrgedicht "Pastorale novellum" des Rudolf von Liebegg und der Kommentar dazu von Johannes Müntzinger (David Vitali), Gedichte über die Heilkraft von Pflanzen am Beispiel der von Johannes Eberhart angefertigten Auszüge aus dem "Macer floridus" (Eva-Martina Keller), die einzig bekannte vollständig illustrierte Handschrift der "Visionen des Ritters Georg" (Silvio Frigg und Frank Schleich), eine Anleitung zum mehrstimmigen Komponieren aus dem 15. Jahrhundert (Martin Staehelin), das Fragment einer jüdischen Handschrift aus dem 14. Jahrhundert (Mauro Perani). Martin Strebel erhellt schließlich am Beispiel des Cod. 1 die restauratorischen Probleme, die die in Zug erhaltenen Handschriften aufwerfen.
Den Band beschließen Verzeichnisse der Zuger Bestände. Der Herausgeber verzeichnet die 23 Handschriften und 48 Inkunabeln der Bibliothek von St. Oswald und schlüsselt dieses durch Register der Schreiber, Drucker, Druckorte, Verfasser und Titel auf. Ein Verzeichnis der neuzeitlichen Handschriften der Pfarrbibliothek beschließt die Übersicht.
Die Publikation weckt das Interesse an den "guoten buechern zuo Sant Oswalden", vermag aber natürlich nicht alle aufkommenden Fragen zu beantworten. Als Historiker hätte man gerne mehr über die Aufzeichnungen des Pfarrers Johannes Eberhart erfahren, denen auch der Titel der Publikation entnommen ist. Auf Seite 49 wird ein aufgeschlagener Schmalfolioband, den Johannes Eberhart geschrieben hat, abgebildet, worin er notiert hat, "was in dem stok funden sy". Die Bücher zu Sankt Oswald beleuchten Dimensionen des geistigen und geistlichen Lebens in einer spätmittelalterlichen Stadtpfarrei, die Aufzeichnungen des Pfarrers offenbar auch die alltäglichen und materiellen Dimensionen. Beides gehört zusammen und lohnt weiterer Erforschung!
Enno Bünz