Rezension über:

Jaromír Balcar: Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945 bis 1972 (= Bayern im Bund, Band 5. Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 56), München: Oldenbourg 2004, XII + 584 S., ISBN 978-3-486-56598-0, EUR 39,80
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Jaromír Balcar: Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945 bis 1972, München: Oldenbourg 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/7195.html


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Jaromír Balcar: Politik auf dem Land

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Der Titel des vorliegenden Buches "Politik auf dem Land" ist recht allgemein formuliert. Der Untertitel: "Studien zur bayerischen Provinz. 1945-1972" ist es noch mehr. Unter den Buchdeckeln von "Studien" kann sich alles Mögliche, häufig sehr Disparates verbergen. Man erwartet keine methodisch gut fundierte, sehr differenziert argumentierende und auf Repräsentativität bedachte Studie zur Politik in der bayerischen Provinz in den Zeiten des rasanten Strukturwandels von 1945-1972. Aber um eine solche Studie handelt es sich bei der von Hans Günter Hockerts und von Horst Möller (als Korreferent) betreuten Dissertation von Jaromír Balcar. Der etwas inhaltlose Titel ist einer der wenigen Mängel.

Die Arbeit untersucht, wie sich rückständige, ländliche Regionen unter dem Einfluss von drei Faktoren entwickeln, die allesamt in Bereichen des Politischen angesiedelt sind. Sozial-ökonomische, aber auch andere Faktoren bleiben dagegen weitgehend ausgeblendet: "Erstens geht es um die Akteure der Politik auf dem Land, um Bürgermeister und Landräte, Gemeinde- und Kreisräte; zweitens um die Rolle der Parteien und deren Versuche, ihre Organisationen auf dem Land auszudehnen; und drittens um die Politik für das Land, ihre Umsetzung vor Ort sowie ihre Auswirkungen"(17). Unter den letzten Punkt fallen die Anstrengungen der Staatsregierung und Verwaltung, durch Strukturpolitik, durch staatliche Planung und Förderung regionalen Entwicklungsdefiziten abzuhelfen.

Der Zeitraum, der untersucht wurde, ist auf die Jahre von 1945/50-1972 eingeschränkt. Die Besatzungspolitik der Amerikaner, vor allem die Entnazifizierung wird vorwiegend unter dem Aspekt thematisiert, wie das nationalsozialistische Führungspersonal auch auf dem Dorf radikal ausgetauscht wurde. Aber so richtig beginnt die Untersuchung erst mit dem Jahr 1950, nachdem die unmittelbaren Kriegsfolgeereignisse überwunden waren. Die Arbeit endet mit dem ersten Ölschock 1972, der eine wirtschaftliche Zäsur und das endgültige Ende des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit darstellt. Dieser Zeitraum ist derjenige, in dem das immer noch in weiten Teilen ländlich strukturierte Bayern einen rasanten Entwicklungsschub durchgemacht hat. Die Verortung der Fragestellung in den Forschungsstand ist relativ einfach: "Bis auf wenige Ausnahmen zeichnet sich die bislang verfügbare Literatur durch zwei Charakteristika aus: Erstens setzen die meisten Studien auf der Mikroebene an, d. h. ihr Untersuchungsgegenstand ist sehr begrenzt. Zweitens blenden sie den Bereich des Politischen weitgehend aus"(16/17). Dem kann man nur zustimmen. Der Verfasser will nichts anderes als diese Forschungslücke "wenigstens teilweise" schließen.

Der Anspruch ist beachtlich. Doch wird er auch erfüllt? Die Antwort ist: "Ja".

Wie aber löst der Verfasser das Hauptproblem, von nur Einzelergebnissen wegzukommen. Bayern ist groß. Man kann nicht einfach - und ein Einzelner schon gar nicht - das ganze Land unter die Lupe nehmen. Genau dieses ist das Problem einer jeden auf Repräsentativität und Allgemeingütigkeit der Ergebnisse bedachten Arbeit über einen großen Raum. Der Verfasser löst das Problem, und zwar durch eine systematische, wohl begründete Auswahl der Regionen. Balcar untersucht nicht ein einzelnes bayerisches Dorf sehr intensiv - etwa in Anlehnung an die wegweisende Arbeit von Emmanuel Le Roy Ladurie über das Dorf Montaillou - und trifft damit keine wie auch immer begründete Auswahl eines lokalen Paradigmas, sondern er legt auf alle bayerischen Gemeinden und Landkreise ein genau ausgewähltes Raster an. In diesem bleiben zuletzt nur 11 besonders strukturschwache Landkreise hängen, die dann sehr genau qualitativ innerregional analysiert (unter anderem durch viele erzählend vorgetragene Einzelbeispiele), und auch interregional und strukturell verglichen werden. Durch die Verschränkung von sehr ins Detail gehenden Einzelanalysen mit einer auf Repräsentativität bedachten Strukturanalyse von 11 ausgewählten Landkreisen kommt den Ergebnissen von Balcar ein hohes Ausmaß an wissenschaftlich abgesicherter Plausibilität zu.

Entscheidend sind die fünf Kriterien, die an die untersuchten Landkreise angelegt werden, um sie als besonders rückständig und daher für die Untersuchung als besonders lohnend auszuzeichnen: 50% und mehr der Einwohner eines Landkreises sollten 1950 noch in der Landwirtschaft tätig sein (bayerischer Durchschnitt 1950: 30,6 %), damit korrespondierend sollte der Anteil der Bevölkerung, der in Gewerbe und Industrie tätig war, nur um die 30% liegen (bayerischer Durchschnitt 1950: 41%). Hinzu kommen eine relativ geringe Bevölkerungsdichte sowie ein unterdurchschnittliches Real- und Gewerbesteueraufkommen. 28 Landkreise erfüllten die im Großen und Ganzen einleuchtenden Kriterien. Zwar sind das immer noch sehr viele Landkreise - aber zum Glück für den Verfasser war nur bei 11 von den 28 herausgefilterten Landkreisen die Quellenlage zufriedenstellend. Damit konnte die hoch gesteckte Aufgabe von einem Einzelnen bewältigt werden. Diese 11 Landkreise sind übrigens durch die überdimensionierten roten Punkte auf der schemenhaften Landkarte Bayerns auf dem Bucheinband hervorgehoben. Sie liegen verstreut über ganz Bayern. So wird die Arbeit zum Teil auch den Erfordernissen geografischer Repräsentativität gerecht.

Diese zwar geschickt eingrenzende Auswahl bedeutete für den Verfasser aber immer noch aufwändige, flächendeckende Recherchen in Archiven und eine nicht minder aufwändige Sichtung des gedruckten Quellenmaterials und der sehr disparaten Literatur. Man kann sich fragen, wie dies dem Verfasser zeitlich möglich war?

Die Ergebnisse werden in einer 16-seitigen Zusammenfassung am Schluss übersichtlich dargestellt: Die Politik vor Ort wurde, wie zu damaliger Zeit üblich, von den örtlichen Honoratioren gemacht, allerdings nur von jenen, die nicht nationalsozialistisch belastet waren. Sie amtierten häufig erstaunlich lange. Erst die kommunale Gebietsreform, die zeitgleich mit der Zäsur von 1972 zusammenfiel, brachte Änderungen mit sich. Flüchtlingsvertreter blieben Episode.

Die Parteien konnten sich gegenüber den freien Wählergemeinschaften auf dem Dorf nur langsam durchsetzen. Dabei gelang es der CSU, sich als die Partei des Landes zu stilisieren. Sie baute effiziente, professionelle Organisationsstrukturen auch auf dem Lande auf, besaß die wichtige Unterstützung der Kirche und konnte die örtlichen Honoratioren zunehmend an sich binden. Der SPD gelang dies alles nicht. Sie blieb im Wesentlichen auf die Städte beschränkt und verlor entscheidend an Attraktivität durch den jahrelangen Streit der Münchener SPD mit ihren Jusos.

Im Zusammenwirken von örtlicher Politik und regierungsamtlicher Strukturpolitik wurde eine weitgehende Modernisierung der ländlichen Infrastruktur bewerkstelligt. Allerdings konnten traditionell strukturschwache Gemeinden den Abstand zu schon vormals begünstigteren Regionen nicht aufholen. Die Abschlussvermutung des Verfassers lautet deshalb, dass die ausgewählten Landkreise im Vergleich zu den anderen Landkreisen immer noch - jetzt allerdings auf einem wesentlich höheren Niveau - zu den relativ strukturschwachen gehören.

Insgesamt handelt es sich bei der Studie von Balcar um eine gewaltige Arbeit. Das Prädikat "gewaltig" bezieht sich dabei auf den methodischen Zuschnitt, auf die minuziöse Aufarbeitung der einzelnen Landkreise und auf den Arbeitsumfang. Obendrein ist die Arbeit gefällig geschrieben. Dazu tragen nicht zuletzt die Darstellung vieler einzelner lokaler Vorgänge bei. So wird zum Beispiel gleich am Anfang in einer Art Prolog - jetzt allerdings breit erzählend in der Art von Le Roy Ladurie - das 1000-Einwohnerdorf Erpfting (Landkreis Landsberg am Lech) herausgepickt und ebenso anschaulich wie paradigmatisch die Ergebnisse der Arbeit an diesem Einzelbeispiel voran- und vorgestellt. Eine mustergültige Einleitung klärt über Gegenstand, Fragestellung, Quellenlage und Schwierigkeiten der Arbeit auf. Die Arbeit selbst ist sorgfältig und kleinschrittig gegliedert, sodass man sich in der Fülle der angestellten Untersuchungen nicht verliert, beziehungsweise sich sehr schnell zurecht findet, wenn man etwas über einen bestimmten Ort oder zu einem bestimmten Ereignis sucht. Die knappe Zusammenfassung vermittelt auch dem eiligen Leser die wesentlichen Ergebnisse der fast 600-seitigen Arbeit.

Der Kritiker entdeckt natürlich auch bei einer sehr guten Arbeit immer noch Punkte, die angemerkt werden könnten: Manche Einzelvorgänge sind bisweilen recht breit geraten - trotz des Verdienstes der Anschaulichkeit, zum Beispiel die Entwicklung der CSU (auf dem Land) und der SPD (in der Stadt, insbesondere Münchens) und die Querelen der CSU mit der Bayernpartei auf der einen Seite und die Querelen der SPD mit ihren Jusos auf der anderen. Davon war vieles bereits bekannt.

Und dann die Frage: Warum wurde eine Untersuchung des Strukturwandels nur auf politische Faktoren beschränkt? Freilich: ohne diese Beschränkung wäre die Arbeit wirklich nicht zu vollenden gewesen. Aber hätte man die Notwendigkeit der Beschränkung nicht etwas eingehender in der Einleitung thematisieren können, auch um einen möglichen Standardvorwurf von vornherein zu entkräften: die Arbeit sei zu politik-lastig und berücksichtige zu wenig sozialökonomische Strukturen? Einen Vorwurf, den man leicht erheben könnte, den der Rezensent jedoch unter Würdigung der Verdienste der Arbeit nicht macht. Andere Faktoren (auch geografische, mentale, religiöse) beim Strukturwandel zu berücksichtigen - und zwar mit vergleichbarer methodischer Stringenz, vergleichbarer Problem geleiteter Aufarbeitung eines umfangreichen Archivmateriales und vergleichbarer Lesbarkeit -, wäre ein anderes, ein weiteres und sicherlich ebenso verdienstvolles Buch, wie das von Jaromír Balcar.

Manfred Hanisch