Rezension über:

Ulf Hashagen: Walther von Dyck (1856-1934). Mathematik, Technik und Wissenschaftsorganisation an der TH München (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften; Bd. 47), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, XIV + 802 S., ISBN 978-3-515-08359-1, EUR 108,00
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Rezension von:
Rudolf Seising
Medizinische Statistik und Informatik, Medizinische Universität, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Seising: Rezension von: Ulf Hashagen: Walther von Dyck (1856-1934). Mathematik, Technik und Wissenschaftsorganisation an der TH München, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/11/5684.html


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Ulf Hashagen: Walther von Dyck (1856-1934)

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" [...] wenn die Geschichte dieses Zeitalters geschrieben wird. Ob sein Werk dann wohl richtig gewürdigt wird?", bangte der Mathematikhistoriker Joseph Ehrenfried Hofmann um die Bedeutung der Persönlichkeit seines Lehrers Walther von Dyck, die "für die Gesamtentwicklung der deutschen Naturwissenschaft vielleicht erst nach Jahrzehnten richtig überblickt", doch auch dann "nicht in Worte gefaßt und zu Papier gebracht werden" könne, schrieb Hofmann 1935 in seinem Nachruf (3).

Nach fast sieben Jahrzehnten legte nun der Mathematiker und Wissenschaftshistoriker Ulf Hashagen eine monumentale Dissertation über das Leben Walther von Dycks vor. Die 663 Seiten starke Untersuchung - ergänzt durch einen Anhang mit Listen zur Geschichte der Technischen Hochschule (TH) München, Abkürzungs-, Quellen-, Literaturverzeichnis und Index - beginnt mit der "Vorbemerkung: Probleme mit einer Biographie", und der Untertitel des Buches "Mathematik, Technik und Wissenschaftsorganisation an der TH München" klingt merkwürdig distanziert zu der im Haupttitel genannten Persönlichkeit. Hashagen stellt auch schon in der Einleitung, an die oben zitierten Zweifel von Hofmann sowie an zeitgenössische Äußerungen über Dyck anschließend, klar, dass Dyck meist als eine Randfigur wahrgenommen wurde und "die Zeichnung seiner Person [...] eher blaß" (6) blieb.

Als Mathematiker wird Walther von Dyck nicht zu den Größten seiner Zeit gezählt, hegte er selbst Zweifel an seiner Qualifikation, und stand er im Schatten des damals führenden deutschen Mathematikers Felix Klein. Bei ihm hatte Dyck an der Münchner Universität promoviert, ihm war er als Assistent nach Leipzig gefolgt, wo er sich dank dessen Durchsetzungsvermögen gegen große Widerstände 1882 habilitieren konnte, bevor er im Jahre 1884 ordentlicher Professor für höhere Mathematik und analytische Mechanik an der Technischen Hochschule München wurde und dies blieb, bis er 1933 emeritiert wurde. So erschien Dyck im Lichte der Felix-Klein-Forschung bislang als das von Klein geförderte "Arbeitspferd". [1] Für die Zeit bis zum Ende der 1880er-Jahre bestätigt Hashagens Biografie diese Interpretation. In den die folgenden Jahrzehnte beschreibenden beiden Dritteln des Buchs zeigt Hashagen dann allerdings einen sich von Klein emanzipierenden und schließlich auch unabhängig agierenden Dyck - freilich nicht auf dem Felde der Mathematik, sondern als immer einflussreicher werdenden bayerischen Wissenschaftspolitiker und Wissenschaftsorganisator im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Dyck wurde 1900 Direktor der TH München, war bis 1906 deren erster frei gewählter Rektor und bekleidete dieses Amt erneut in den Jahren 1919 bis 1925. Er war in den Jahren 1889 und 1890 maßgeblich an der Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) beteiligt, wurde für vier Jahre ihr Schriftführer und organisierte in dieser Zeit zwei große Ausstellungen mathematischer Modelle. Dyck war Mitherausgeber der "Mathematischen Annalen" und ab 1895 der "Encyclopädie der mathematischen Wissenschaften", er saß gemeinsam mit Oskar von Miller dem Gründungsausschuss des Deutschen Museums in München vor, und nach der Gründung im Jahre 1903 bildeten beide zusammen mit dem Kältetechniker und Münchner TH-Professor für theoretische Maschinenlehre Carl von Linde den Museumsvorstand.

Hashagens Buch ist in sieben Teile gegliedert: Teil I, "Eine Jugend in München", schließt auch die Studenten- und Soldatenzeit mit ein und beleuchtet ausführlich die von Dyck ab dem Wintersemester 1875/76 besuchte Polytechnische Schule und deren Professoren sowie den "Mathematischen Verein" an der Universität München. Der zweite Teil, "Eine neue Welt und eine fremde Heimat", beginnt mit Felix Kleins Berufung nach Leipzig im Jahre 1880, wohin ihm Dyck folgte, und von wo er 1881 nach Berlin reiste, um die drei berühmten Mathematiker Leopold Kronecker, Ernst Eduard Kummer und Karl Weierstraß kennen zu lernen. Vor allem der Einfluss Kroneckers und des Straßburger Mathematikers Eugen Netto, dessen Bekanntschaft Dyck damals in Berlin machte, sowie Henri Poincarés und anderer Mathematiker, die Dyck auf einer Reise 1883 nach Paris kennen lernte, haben Dycks spätere mathematische Arbeiten über algebraische, gruppentheoretische und topologische Fragen beeinflusst. Hashagens historische Analyse zeigt, dass Dycks Ideen und Arbeiten aus den frühen 1880er-Jahren für die Entstehung des abstrakten Gruppenbegriffs und der kombinatorischen Gruppentheorie enorm wichtig waren - damit bietet er eine neue Interpretation gegenüber Wußings klassischer Studie zur Entstehung des Gruppenbegriffs. [2] Dycks Beschäftigung mit dieser Thematik schätzte Klein allerdings nicht. Dies und Dycks Interessenverschiebung von der mathematischen Forschung zur Wissenschaftsorganisation mögen sein Motiv gewesen sein, Dyck nicht länger zu fördern und für zu besetzende Professuren - etwa die von Dyck an der Universität München angestrebte - andere junge Mathematiker zu empfehlen.

So blieb Dyck "Professor der Mathematik an der TH München", und der so überschriebene dritte und zentrale Teil des Buchs bietet ein gutes Stück Institutionsgeschichte, in dem es um Rolle und Besetzung der Mathematikprofessuren in den 1880er- und 1890er-Jahren geht, um das von Dyck maßgeblich mit entwickelte Reformkonzept gegen die "Antimathematische Bewegung", in der von den Ingenieuren gefordert wurde, den Mathematikunterricht von ihresgleichen abhalten zu lassen. Wie Hashagen zeigt, lassen sich die speziell auf preußische Technische Hochschulen ausgerichteten Darstellungen [3] dieser Entwicklungen nicht auf die Geschehnisse an der TH München übertragen. Das von Dyck und seinem Kollegen Sebastian Finsterwalder entwickelte Unterrichtsparadigma wurde schließlich vorbildlich für andere Technische Hochschulen, und aus der Konkurrenzsituation zwischen TH und Universität München hinsichtlich der Mathematik wurde ein Nebeneinander, wobei sich die TH als Hochschule für angewandte Mathematik profilierte. Die Geschichte der TH München wurde bislang nur in Teilaspekten beleuchtet [4], und eine große Studie seit der Gründung im Jahre 1868 bleibt ein Desiderat. Umso verdienstvoller sind Hashagens Untersuchungen für die Zeiträume, in denen Dyck diese Hochschule leitete.

In der zweiten Buchhälfte verzichtet Hashagen auf eine zuvor streng eingehaltene Chronologie, um in den folgenden Kapiteln das wissenschaftsorganisatorische und -politische Werk Dycks hinsichtlich verschiedener Aspekte zu beleuchten. Teil IV, "Hochschul- und Bildungspolitik im Bayern der Prinzregentenzeit", zeigt Dyck mit Fragen um Rektoratsverfassung und Promotionsrecht von Amts wegen beschäftigt, aber auch mit großem Einfluss auf die bayerische Schulpolitik, ab 1896 auch als Mitglied des Obersten Schulrats.

Dycks schleppender Emanzipationsprozess wird in Teil V deutlich: "Wissenschaftspolitik im deutschen Kaiserreich: In Felix Kleins Schatten". In den meisten Projekten kam es zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit, wobei das Schüler-Lehrer-Verhältnis jedoch erkennbar blieb, so bei den "Mathematischen Annalen", der Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften und der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Übrigens bietet Hashagen für die Gründungsgeschichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung auf der Grundlage neuer Quellenfunde eine gründliche Entmythologisierung der Rollen Georg Cantors und Kleins an, wenn er zeigt, wie erbittert die Auseinandersetzungen zwischen den gegnerischen Gruppierungen der Berliner Mathematiker (Weierstraß, Kronecker, Schwarz, Frobenius) einerseits und jener um Klein andererseits geführt wurden. Hier ist Dyck noch Gefolgsmann Kleins, doch spätestens nachdem er 1890 außerordentliches und 1892 ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurde, kann sein Verhältnis zum früheren Lehrer als Partnerschaft charakterisiert werden, in der ab 1894 das gemeinsame Projekt der "International Catalogue of Scientifique Papers" sowie die Planungen zur Internationalen Assoziation der Akademien ab 1899 verfolgt wurden.

Teil VI, "Ein Professor im Krieg", zeigt den Patrioten Dyck, der sich während des Ersten Weltkriegs vergebens um eine Verwendung in der belgischen Zivilverwaltung bemühte, dann für das bayerische Staatsministerium des Äußeren eine Denkschrift über das belgische Schulwesen ausarbeitete, diesen Auftrag zu Beginn des Dezembers 1915 beendete und unmittelbar danach mit vorbereitenden Studien über die Flamisierung der Universität Gent betraut wurde. 1916 wurde er Generalreferent für alle die Universität Gent betreffenden Angelegenheiten der Universitätsabteilung des Ministeriums. Dieses Projekt endete als Desaster, nach dem Krieg wurde die Universität Gent wieder als französischsprachige Hochschule geöffnet. In der Literatur zur deutschen Kriegszielpolitik findet dies zwar Erwähnung, es fehlte bisher aber eine detaillierte Studie. Hashagen kann hier - zugeschnitten auf die zentrale und entscheidende Rolle Dycks - aufgrund umfangreicher Archivforschungen die Verwicklungen deutscher Wissenschaft und Wissenschaftler in die Kriegszielpolitik in Belgien darstellen.

Im letzten Teil ist Dyck "Der Unermüdliche: Wissenschaftspolitiker in der Weimarer Republik". 1919 zum Rektor der TH München gewählt, fielen Reformdiskussionen und Hochschulkrise in seine Amtszeit, die Studentenzahlen stiegen wieder stark an und der Mathematikunterricht war reformbedürftig; auch die Rivalität zur Münchner Universität lebte erneut auf. Dyck schränkte zwar seine Mitarbeit bei den "Mathematischen Annalen" ein, doch - gemeinsam mit Klein - versuchte er die "Encyklopädie" abzuschließen. Seine Rolle bei der Gründung des Deutschen Museums, dessen Vorstandsmitglied er bis 1930 blieb, erscheint hier wichtiger, als die bisherige Geschichtsschreibung zu diesem Haus erkennen lässt, sie wird von der Heroisierung der Figur Oskar von Millers als dominantem Museumsgründer überdeckt, auf dessen wissenschaftliche Biografie noch zu warten ist. [5] 1920 übernahm er zudem den stellvertretenden Vorsitz im Verband der Deutschen Hochschulen, wurde er zweiter Stellvertreter des Vorsitzenden in der Naturforschergesellschaft und Vizepräsident der neu gegründeten "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft e.V.".

Das Jahr 1933 wurde für Dyck ein Jahr des Rückzugs. Er verzichtete auf sein Lehramt und beendete seine Mitarbeit in der Notgemeinschaft, wobei er dies ausschließlich mit seinem Alter und seinem schlechten Gesundheitszustand begründete. Seine letzten beiden Jahre waren von seiner Arbeit als Wissenschaftshistoriker - die Planung einer Kepler-Gesamtausgabe verfolgte er seit vielen Jahren - und letzten Arbeiten an der "Encyklopädie" geprägt, doch kam sein Tod dem Gründungstermin der Kepler-Kommission bei der Bayerischen Akademie im Jahre 1935 und auch dem Abschluss der "Encyklopädie" im gleichen Jahr zuvor.

Die Lektüre dieser Biografie führt zu einem umfassenden Bild des Lebens Walther von Dycks als Mathematiker, Wissenschaftsorganisator und -politiker. Seine Persönlichkeit bleibt dennoch seltsam farblos, denn der von seinen Kollegen als Gentleman-Professor (14) charakterisierte Dyck gestattete nur selten Einblicke hinter die "Fassade". Aufgrund des nur unvollständig erhaltenen beziehungsweise zugänglichen Nachlasses (14) kann Hashagen das Privatleben Dycks nur selten in die Biografie integrieren: Für die Frage ob Dyck in Leipzig oder München habilitieren solle, hatte das Verhältnis zur Mutter großes Gewicht, und ein weiterer Abschnitt lässt ein Leben Dycks neben Wissenschaft und Politik aufblitzen: "Eine neue Rolle: Ehemann und Vater". Bei den Schilderungen über Dycks Nordamerikareise werden auch einmal Sympathien und Antipathien gegenüber einer anderen Person erkennbar.

Auch hinsichtlich der schon in Margit Szöllösi-Janzes Biografie über Fritz Haber [6] als Charakteristikum für das Verhältnis zwischen Fritz Haber und Dyck erwähnten, im Ersten Weltkrieg zunehmenden antisemitischen Vorbehalte war Dyck offenbar so "diplomatisch", dass sich nur in wenigen seiner Briefe an Klein Mosaiksteinchen finden, aus denen Hashagen das Bild eines Wissenschaftlers rekonstruiert, der während seiner Studienzeit zusammen mit jüdischen Mathematikern studierte, teilweise mit ihnen befreundet war, aber parallel zum sich allgemein verbreitenden Antisemitismus immer stärkere antisemitische Ressentiments entwickelte und vermehrt zwischen "guten" und "schlechten" Juden unterschied (635 ff.). Dyck erscheint somit als ein typischer Vertreter der von Fritz Ringer beschriebenen "German Mandarins" [7], der sich - ähnlich wie sein Schulfreund und Freund, Max Planck - als staatstreuer, aufrechter und "unpolitischer" Wissenschaftler sah. Nur setzten die "dilemmas of an upright man" [8] im Falle Dycks nicht erst mit dem Nationalsozialismus ein, sondern schon bei seiner aktiven Rolle zur Flamisierung der Universität Gent. Ob er bedauerte, dass belgische Professoren, die er bewogen hatte, dort zu lehren, nach dem Krieg dafür sehr hart bestraft wurden? Ob ihn das Schicksal des Historikers Henri Pirenne interessierte, der als Führer des Widerstandes gegen die Flamisierung der Universität Gent in ein deutsches Gefangenenlager deportiert wurde? Auch wenn diese Fragen angesichts der Quellenlage unbeantwortet bleiben müssen, hat Hashagen mit seiner enorm informativen Studie Leben und Werk Walther von Dycks "in Worte gefasst und zu Papier gebracht" und die "Probleme mit einer Biographie" nicht versteckt, sondern hervorragend gemeistert.


Anmerkungen:

[1] David E. Rowe: "Jewish Mathematics" at Göttingen in the Era of Felix Klein, in: ISIS 77 (1986), 288, 422-449, hier 431.

[2] Hans Wußing: Die Genesis des abstrakten Gruppenbegriffs. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der abstrakten Gruppentheorie, Berlin 1969.

[3] Susann Hensel: Die Auseinandersetzungen um die mathematische Ausbildung der Ingenieure an den Technischen Hochschulen in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts, in: Susann Hensel / K.-H. Ihmig / M. Otte (Hrsg.): Mathematik und Technik im 19. Jahrhundert in Deutschland. Soziale Auseinandersetzungen und philosophische Problematik, Göttingen, 1-111.

[4] Ulrich Wengenroth (Hrsg.): Die Technische Universität München. Annäherungen an ihre Geschichte, München 1993.

[5] Wilhelm Füßl: Zwischen Mythologisierung und Dekonstruktion: Die Funktion des Biographen, in: Wilhelm Füßl / Stefan Ittner (Hrsg.): Biographie und Technikgeschichte. Opladen 1998, 59 - 69.

[6] Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber: 1868-1934; eine Biographie. München 1998, 536.

[7] Fritz K. Ringer: The Decline of the German Mandarins: the German Academic Community, 1890-1933, Cambridge, Mass. 1969

[8] John L. Heilbron: The Dilemmas of an Upright man: Max Planck and the Fortunes of German Science; with a New Afterword. Cambridge, Mass. 2000.

Rudolf Seising