Rezension über:

Sven Lorenz: Erotik und Panegyrik. Martials epigrammatische Kaiser (= Classica Monacensia; Bd. 23), Tübingen: Gunter Narr 2002, X + 302 S., ISBN 978-3-8233-4882-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Christine Schmitz
Institut für Klassische Philologie, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Christine Schmitz: Rezension von: Sven Lorenz: Erotik und Panegyrik. Martials epigrammatische Kaiser, Tübingen: Gunter Narr 2002, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/04/6921.html


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Sven Lorenz: Erotik und Panegyrik

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"Erotik und Panegyrik" wählt Sven Lorenz als Titel für seine Analyse der Epigramme, in denen Martial die zu seiner Zeit regierenden Kaiser Domitian, Nerva und Trajan preist. Allerdings macht sich eine Ungenauigkeit in der Terminologie bemerkbar, scheint er doch die Begriffe "Erotik" und "Obszönität" unterschiedslos zu verwenden; so begegnet die Verbindung "Erotik und Panegyrik" in der nachfolgenden Untersuchung als "Obszönität und Panegyrik", etwa als Überschrift in 3.2., ebenso auf dem rückseitigen Einband. Der Untertitel "Martials epigrammatische Kaiser" bringt prägnant die von Sven Lorenz mit Recht betonte Erkenntnis zum Ausdruck, dass das Bild, das der Dichter in seinen Epigrammen von den Kaisern entwirft, ein konstruiertes ist. Der Autor wird denn auch nicht müde, immer wieder einzuhämmern, dass die Epigramme als Literatur gelesen werden müssen. Mit seiner wiederholt vorgebrachten Mahnung, die Epigramme nicht als unverfälschte Abbildungen realer Personen oder zeitgenössischer Gegebenheiten auszuwerten (z.B. 53, 250), rennt er freilich offene Türen ein.

Die Arbeit, eine von Niklas Holzberg betreute Dissertation, ist in fünf Kapitel unterteilt. Am Anfang steht ein Methodenkapitel "Noch ein Neuansatz zu einer Martialinterpretation" (1-54). Mit dem Titel knüpft Sven Lorenz an einen Aufsatz Niklas Holzbergs an. [1] Darüber hinaus ist er der überarbeiteten Martial-Einführung seines Lehrers Holzberg verpflichtet [2], der seine Monographie wiederum Sven Lorenz widmet; es ist hier nicht der Raum, die engen, gewissermaßen intertextuellen Beziehungen zwischen den zeitgleich entstandenen Werken zu verfolgen.

Zunächst begründet der Verfasser sein Konzept einer Unterscheidung zwischen Martials Dichter-persona und dem historischen Dichter Martial (1-42). Im zweiten Abschnitt dieses einleitenden Kapitels diskutiert er Ansätze zur Interpretation der Kaisergedichte (42-54). Unter dem als rhetorische Frage formulierten Titel "Epigrammatische Vorübungen?" behandelt Sven Lorenz im zweiten Kapitel den Liber spectaculorum (55-82) sowie die Xenia und Apophoreta (82-110), wobei sein Interesse dem Kaiserbild dieser Sammlungen gilt. Ausführlich geht er auf die Probleme ein, die sich bei der Interpretation des Liber spectaculorum ergeben, nämlich die Werkchronologie und die Frage nach der Identität des angesprochenen Caesar, 56-59. Trotz aller Skepsis stellt das Jahr 80 (anlässlich der Spiele zur Einweihung des Colosseums) meines Erachtens aber nach wie vor die wahrscheinlichste Datierung dar. Das zentrale und längste dritte Kapitel ist dem Domitianbild in den Büchern 1-9 gewidmet: "Epigrammatische persona und pudicus princeps: Domitian in den Büchern 1 bis 9" (111-208). Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit "Nerva und Trajan in den Büchern 11, ²10 [mit der hochgestellten Zahl verweist Sven Lorenz darauf, dass das 10. Buch in einer zweiten, erst nach Buch 11 veröffentlichten Auflage vorliegt, vgl. 219-223] und 12" (209-246). Mit der nochmals betonten Antithese "Historische Kaiser und literarische Panegyrik" bietet das letzte Kapitel auf vier Seiten eine Zusammenfassung. In seinem umfangreichen Literaturverzeichnis (251-277) führt Sven Lorenz alphabetisch alle Titel an, ohne weiter zu differenzieren; so folgt auf Werner Kühns zweisprachige Ausgabe des Panegyrikus Plinius' des Jüngeren die Grammatik der lateinischen Sprache von Kühner-Stegmann. Indices (der Namen und Sachen, 279-285) und der Stellen (285-302) schließen den Band aus der Reihe Classica Monacensia ab. [3]

Sven Lorenz gibt - offenbar mit Rücksicht auf ein größeres Publikum - für jedes lateinische Zitat eine textnahe Prosa-Übersetzung, die für das unmittelbare Verständnis sehr hilfreich ist. Der ständige Blick auf die handschriftliche Überlieferung der Epigramme ist ein weiterer Vorteil dieser Arbeit, ferner die intensive Auseinandersetzung mit der Martialforschung. [4]

Verurteilten frühere Interpreten noch die in den Epigrammen vorgetragene Kaiserpanegyrik - stellvertretend sei das bei Schanz-Hosius 2. Teil, 555 zu lesende Urteil zitiert: "Schwerer (als die Obszönitäten) wiegt der Vorwurf der Servilität. [...] Daß Martial dem Hofe gegenüber eine kriechende Haltung annahm, wird durch die traurige Zeitlage genugsam entschuldigt" - gelangte man Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu der Auffassung, dass Martials Domitianlob ebenso wie das des Statius in Wirklichkeit versteckte Kritik sei - wegweisend war die 1978 erschienene Dissertation von John Garthwaite (Domitian and the Court Poets Martial and Statius); getarnte Kritik an Domitian spürte dann insbesondere Holzberg in seiner Martial-Einführung von 1988 auf (74-85). Franz Römer zeigt in seinem methodisch wichtigen Aufsatz "Mode und Methode in der Deutung panegyrischer Dichtung der nachaugusteischen Zeit" (Hermes 122, 1994, 95-113), dass "versteckte Kaiserkritik in Form einzelner Anspielungen oder Seitenhiebe bei Martial" nicht einwandfrei nachzuweisen sei (111), da seine innerste Überzeugung kaum zu ermitteln sei (107): "Daß subversive Prinzipatskritik ausgerechnet in Form scheinbaren Lobs die gesamte panegyrische Dichtung der nachaugusteischen Zeit durchzieht, ist weder wahrscheinlich noch erweisbar" (103). Dieser methodische Vorbehalt gilt aber auch für den von Sven Lorenz eingeschlagenen (Aus-)Weg, das Verhältnis Martials - nicht nur des historischen Dichters, sondern auch der literarischen persona Martials - zum Kaiser eindeutig zu bestimmen. Bei seiner Untersuchung der panegyrischen Epigramme stellt Sven Lorenz den Aspekt der persona in den Mittelpunkt. Durch die persona des als Verfasser der Epigramme auftretenden Dichters gelinge es Martial, epigrammatische Frechheit und erhabene Kaiserpanegyrik miteinander zu verbinden, indem der historische Dichter einen Dichter konzipiere, der "aus einer naiven Haltung heraus huldigt und die Gattungsregeln des erotischen Epigramms konsequent beachtet. Daraus resultiert ein Unterhaltungswert, der die Kaisergedichte mit ihrer bisweilen frechen Epigrammatisierung Domitians zu einer ansprechenden Panegyrik werden lässt" (208).

Sven Lorenz wendet sich gegen die These, dass Martial versteckte Kaiserkritik üben wolle oder auch nur könne, charakterisiere doch der historische Dichter seine persona als eine komische Figur, die ihre Panegyrik überdies bevorzugt mit erotischen Untertönen garniere. Mit dieser Argumentation begründet Sven Lorenz die berechtigten Zweifel an der Aufrichtigkeit der moralisierenden Pose in den panegyrischen Epigrammen auf Domitian. Den Dichter zu einer komischen Figur zu erklären, über die auch die Kaiser gelacht hätten, ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, ironische Überinterpretationen panegyrischer Dichtung abzulehnen. Auch gegen die communis opinio, dass dem historischen Dichter die Preisungen Domitians nach dessen Tod peinlich waren und er sie am liebsten ungeschehen gemacht hätte, wendet sich Sven Lorenz. Was er als Gegenargument anführt, vermag allerdings nicht zu überzeugen: "Es ist jedoch zu beachten, dass in den Nerva- und Trajangedichten der Bücher 11, ²10 und 12 auffallend häufig auf Huldigungsparadigmen und sogar auf sprachliche Wendungen aus den Büchern 1 bis 9 zurückgegriffen wird" (210). Nicht die Kontinuität ist das Entscheidende, sondern dass nunmehr die Namen ausgetauscht werden. Wenn es darum geht, seine Thesen zu verteidigen, lässt der Verfasser es bisweilen an philologischer Sorgfalt fehlen. So versteigt sich Sven Lorenz in seinem Eifer, die These unterschwelliger Kaiserkritik abzuwehren, zu der verallgemeinernden Aussage: "Die Idee, dass öffentliche Kämpfe und Hinrichtungen unmenschlich sind, ist ein modernes Konzept, das selbst heute keine weltweite Geltung besitzt" (61). Dagegen lässt sich aber bereits Cicero, Tusculanae 2,41 anführen: crudele gladiatorum spectaculum et inhumanum non nullis videri solet ("grausam und unmenschlich pflegt das Gladiatorenschauspiel einigen zu erscheinen"). Der von Sven Lorenz (60, Anm. 18) zu Sen. epist. 7 ins Feld geführte Pierre Cagniart ("Seneca does not condemn the nature of all the spectacles presented in the amphitheater. He only deplores the cruelty and wickedness of some of them") lässt sich eher gegen seine Meinung anführen. [5] Zur kritischen Haltung christlicher Autoren vergleiche Werner Weismann, Art. Gladiator, in: RAC 11 (1981), bes. 39-44. [6]

Im Verlauf seiner Untersuchungen entwickelt Sven Lorenz konsequent seine These der verschiedenen personae, denen der historische Dichter je nach Bedarf neue Masken aufsetze. So geht er von einer eigens für das zehnte Buch konzipierten persona aus, die sich aus den Strapazen des öffentlichen Lebens in Rom zurückziehe (vergleiche 231). Buch 12 werde dann von Martial als Produkt des Rückzugs in die spanische Heimat vorgestellt (209). Nunmehr wird also aus den Epigrammen nicht mehr das Leben des historischen Dichters erschlossen, sondern "dessen Konstruktion der persona sowie ihrer Erlebnisse und Haltungen" (209). Mit großem Aufwand bemüht sich Sven Lorenz um eine Unterscheidung zwischen dem realen Dichter und der Maske seines Sprechers, um dann anschließend alle Aspekte der Dichter-persona(e) zu einem Gesamtbild einer, wie er 41/42 betont, widersprüchlichen Dichter-persona zusammenzufassen - ein Deutungsansatz, der geradezu zur Wiedereinführung des von ihm abgelehnten biographischen Interpretierens der Gedichte führt; freilich wird nunmehr nicht mehr der Charakter des historischen Dichters, sondern der seiner Dichter-persona rekonstruiert! Nach Sven Lorenz kann der Umgang mit der Gesetzgebung Domitians nicht sicher als Ausdruck einer kaiserkritischen Intention des historischen Dichters verstanden werden (vgl. 156); seine persona aber sei kein Kaiserkritiker, sondern stehe auf der Seite ihres "erotischen Prinzeps" (198). Sven Lorenz zeichnet folgendes Charakterbild der literarischen persona Martials: neben ihrer kaiserfreundlichen Haltung stellen Lächerlichkeit und sexuelle Fixiertheit die Hauptmerkmale dar. Ich bezweifle jedoch, dass die Zeitgenossen wirklich so genau zwischen dem historischen Dichter und seiner Dichter-persona differenzierten. Eine - in deutlicher Nachfolge Catulls (16,5 f.) und Ovids (trist. 2,353 f.) stehende - Apologie wie lasciva est nobis pagina, vita proba ("Lasziv ist die Seite bei mir, mein Leben jedoch rechtschaffen", 1,4,8) zeigt doch, dass der Dichter es für nötig hielt, seine Rezipienten an die Verschiedenheit von sittlich-persönlicher und poetischer Existenz zu erinnern.

Einen gewissen Widerspruch stellt die Ankündigung auf dem Rückumschlag des Bandes dar, dass der, wie Sven Lorenz das ausdrückt, fiktionalisierte Ich-Sprecher die Kaiser, insbesondere Domitian, "auf eine bisweilen naiv anmutende Weise" porträtiere, "die in ihrer Komik dem niedrigen Genre angemessen" sei und die Kaisergedichte durch das Nebeneinander von Obszönität und Panegyrik zu einer "amüsanten Lektüre für die breite Leserschaft" mache. In seiner Untersuchung bringt er hingegen mit Recht zum Ausdruck, dass man von der gebildeten römischen und provinziellen Oberschicht als den Rezipienten der Epigramme ausgehen muss. Martial - also die vom historischen Dichter eingesetzte Dichter-persona - schreibe seine panegyrischen Gedichte aus dem Blickwinkel der breiten Masse. Daraus zieht Sven Lorenz den Schluss, dass die literarisch gebildeten Leser / Hörer, aber auch die Kaiser - also gerade nicht die "breite Leserschaft" - über die Lächerlichkeit des in den Epigrammen auftretenden Martial mit seiner volkstümlichen Sichtweise gelacht haben dürften (249).

Fazit: Sven Lorenz' Ansatz, die Epigramme in erster Linie als literarische Produkte zu lesen, ist sicher gerechtfertigt. Seine These jedoch, dass der historische Dichter eine epigrammatische persona konzipiere, deren Haltung zum Prinzeps "von einer gewissen Naivität, egoistischem Gewinnstreben und ihrer persönlichen Fixierung auf Sexualität" (246) geprägt sei, ist methodisch nicht zwingend. Glücklicherweise ist von dieser Grundthese eines naiven, lächerlichen, auf Sexualität fixierten Dichters der Epigramme nicht abhängig, was Sven Lorenz im einzelnen über Martials epigrammatische Kaiser sagt. Auf diesem Feld ist die vorliegende, durchaus anregende Arbeit ertragreich.


Anmerkungen:

[1] Niklas Holzberg: Neuansatz zu einer Martial-Interpretation, in: WüJbb N.F. 12, 1986, 197-215.

[2] Niklas Holzberg: Martial und das antike Epigramm, Darmstadt 2002.

[3] Corrigenda: Falscher Artikel (65) "Aber der Liber spectaculorum oder der Xenia und Apophoreta stehen [...]"; doppelt (87): zur Zeit; Doppeldeutigkeit aufgrund der neuen Rechtschreibung (106) "das Ergebnis einer wohl durchdachten Komposition"; Trennung (119): krieg-stüchtigen; störendes Komma nach Martial ist zu tilgen (183, Anm. 279).

[4] Kritikwürdig ist allerdings sein Umgang mit Uwe Walters Beitrag "Soziale Normen in den Epigrammen Martials" (22, Anm. 79): "Noch weiter geht Walter [1998], 241, der über den sexuellen Bereich hinaus ein moralistisches Konzept Martials erkennen möchte, das mit Domitians rigoroser Politik, die Walter offenbar befürwortet, in Einklang gestanden habe". Sven Lorenz, der bei Martial so subtil differenziert, müsste auch hier zwischen dem Verfasser eines Beitrags zu Martial und dem Menschen Uwe Walter unterscheiden.

[5] Pierre Cagniart: The Philosopher and the Gladiator, in: CW 93, 2000, 612/613.

[6] Exemplarisch sei an einem weiteren Beispiel gezeigt, wie Sven Lorenz durch allzu willkürliche Interpretation zu problematischen Ergebnissen gelangt. Aus 4,8,7-12 schließt der Autor, Martial hebe die menschlichen Züge des Kaisers hervor: "Dass die Epigramme dem Kaiser nicht am Morgen gegenübertreten sollen, charakterisiert Domitian implizit als Morgenmuffel, der [...] erst am Abend in fröhliche Feierstimmung gerät" (125). Mit der gleichen Logik würde aber auch der jüngere Plinius als Morgenmuffel charakterisiert, begegnet doch auch in dem an Plinius gerichteten Epigramm 10,20,12-21 der Topos, dass der mit Pflichten angefüllte Vormittag kein günstiger Zeitpunkt für die Lektüre der Epigramme sei. Martial will hier aber weniger Domitian oder Plinius als vielmehr seine Epigramme charakterisieren, indem er den Kairos für die Lektüre benennt.

Christine Schmitz