Rezension über:

Tido Janßen: Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395-408), Marburg: Tectum 2004, V + 308 S., ISBN 978-3-8288-8631-5, EUR 29,90
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Rezension von:
Timo Stickler
Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Timo Stickler: Rezension von: Tido Janßen: Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395-408), Marburg: Tectum 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/6857.html


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Tido Janßen: Stilicho

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Der Heermeister Stilicho hat in der besonders wichtigen Phase der spätrömischen Geschichte von 395 bis 408 nach Christus die Geschicke des Reiches bestimmt und deshalb immer wieder das Interesse der Forschung geweckt. Denn es waren zentrale Fragen, die zu Beginn seines Wirkens, beim Tode Theodosius' des Großen, der Beantwortung harrten: Wie sollte, da das Reich nunmehr faktisch in zwei Herrschaftsbereiche aufgeteilt war, die Einheit des Imperiums in Zukunft in der Praxis gewahrt werden? Wie war überhaupt künftig eine wirkungsvolle Gestaltung der Reichspolitik von der kaiserlichen Zentrale aus denkbar, da diese nun durch zwei 'principes pueri' repräsentiert wurde? Wie sollte das barbarische Söldnerpotenzial, das nicht zuletzt Theodosius der Große selbst in den zurückliegenden Bürgerkriegen um eigener Zwecke willen aktiviert hatte, in Zukunft - je nachdem - verwendet, integriert oder neutralisiert werden?

Gerade in jüngster Zeit erfreut sich die politische Geschichte des Weströmischen Reiches einer regen Bearbeitung. Nachdem auch die anderen bedeutenden Heermeister der Epoche bis zum Erlöschen des westlichen Kaisertums im Jahre 476 nach Christus in den letzten Jahren ihre Bearbeiter gefunden haben [1], ist es deshalb erfreulich, dass mit Tido Janßens Münsteraner Dissertation von 1999 nunmehr auch eine aktuelle Darstellung zur Politik Stilichos vorliegt, denn seit der Erstellung der Standardwerke zum Thema von S. Mazzarino [2] und E. Demougeot [3] sind schon etliche Jahrzehnte ins Land gegangen.

Janßen richtet bei seiner Darstellung sein Augenmerk insbesondere auf die Gesetzgebung der honorianischen Zeit, weil er in ihr das Wirken Stilichos unmittelbar zu greifen glaubt, während die bisherige Forschung diesen Quellenbestand eher vernachlässigt habe (1). Von den Ergebnissen der Beschäftigung mit ihr ausgehend, teilt er die Wirkungszeit Stilichos in drei Phasen ein, denen die drei Hauptteile des Buches entsprechen.

Die erste Phase von 395-398 wird von Janßen als "Die Jahre der Konsolidierung" betitelt. In diesem Abschnitt (4-103) vertritt er die Ansicht, die Gesetzgebung jener Jahre habe dazu gedient, den gerade überstandenen Bürgerkrieg von 394 und den Herrscherwechsel von Theodosius zu Honorius 395 zu bewältigen. Insofern hätten die Maßnahmen Stilichos in dieser Zeit auf viele verschiedene, oft aktuelle Erfordernisse geantwortet, nicht zuletzt auf das zentrale Problem der Legitimierung seiner Stellung bei Hofe. Die zweite Phase von 398-401 bezeichnet Janßen als "Die Jahre der Reformen" (104-124). In diese Zeit fällt seiner Meinung nach die Verwirklichung wichtiger Reformprojekte Stilichos. Ziel der in der Gesetzgebung sich dokumentierenden vielfältigen Maßnahmen des Heermeisters sei die "Verdrängung des Militärs als eines eigenständigen Machtfaktors" gewesen, um den in Gefahr geratenen "Konsens von Staat und staatstragenden Gesellschaftsschichten" neu zu befestigen (2). Leider sei durch die militärischen Herausforderungen des Westreichs - insbesondere die Italieninvasion Alarichs seit 401 - der Reformimpuls Stilichos vorzeitig gebrochen worden. Es folgen deshalb im dritten Teil des Buches "Die Jahre der Krise: Desintegration von Staat und Gesellschaft" (125-259). In dieser Phase sei die Arbeit Stilichos an einer Kräftigung und teilweise Neuordnung der staatlichen Strukturen durch die dem Reich auferlegten inneren und äußeren Kriege und Zerwürfnisse konterkariert worden. Die schrittweise Entfremdung von Kaiser und Heermeister habe zuletzt den Sturz Stilichos im Jahre 408 zur Folge gehabt. Janßen lässt sein Buch mit einer Zusammenfassung seiner Ergebnisse abschließen (260-263); es folgt eine Zeittafel (264-268), ein Stichwortverzeichnis (269-290) sowie eine Auflistung der von ihm benutzten Quellen (291-294) und Sekundärliteratur (295-308).

Stilicho ist so etwas wie der Held von Janßens Buch. Das ist im Grunde nicht so sehr verwunderlich, denn in jeder Darstellung einer Epoche, die sich an einer zentralen Figur entlang entfaltet, neigt der Autor unwillkürlich dazu, zu fragen, wie diese nun zu diesem und jenem anstehenden Problem der Zeit gestanden habe; die Dominanz des Helden in seiner Epoche droht somit immer ausgeprägter zu erscheinen, je mehr er mit allem und jedem in Verbindung gebracht wird. Janßen ist dieser Tendenz der progressiven Vergrößerung seines Helden mehr als einmal erlegen. Schon auf Seite 2 stellt er die These auf, dass die legislative Tätigkeit der Jahre 395 bis 408 "vom Aufenthalt Stilichos bei Hofe abhängig" sei. Und wenn dem so ist, dass die uns vorliegende Gesetzesüberlieferung aus diesem Zeitraum ausschließlich das Wirken Stilichos dokumentiert, dann ergibt sich daraus natürlich ein regelrechtes, systematisch verfolgtes "Reformprogramm" des Heermeisters (105). Dessen mutmaßliches Ziel umreißt Janßen folgendermaßen: "Die Regierung bemühte sich um eine festere Verwurzelung des Staates in der Gesellschaft. Das heißt, daß der Zugriff des Staates auf einige gesellschaftliche Gruppierungen intensiviert wurde. [...]. Die Verbreiterung und Vertiefung des gesellschaftlichen Fundamentes, auf dem der Staat ruhte, sollte aber die gleichzeitig weiter vorangetriebene Verdrängung des Militärs aus der Führung des Staates kompensieren. Das entpolitisierte Militär wurde auf seine Funktion als Waffenträger des Staates reduziert" (105).

Sind Ansätze zur Umsetzung einer solchen gesellschaftspolitischen Vision Stilichos in dem kurzen Zeitfenster bis 401 denkbar? Was bedeutet überhaupt "Staat" und "Gesellschaft" um 400 nach Christus und inwiefern waren sie für den politisch Denkenden und Handelnden der damaligen Zeit veränderbare Größen? War Stilicho selbst nicht der Musterrepräsentant für ein Militär, das sich unter einer "Entpolitisierung" seiner selbst vermutlich gar nichts vorstellen konnte? Mit etwas gutem Willen kann man einige der mit Stilichos Namen verbundenen Reformen - wie zum Beispiel seine so genannte Kanzleireform, die immer mehr Kompetenzen im militärischen Bereich auf seine Person konzentrierte [4] - sogar als Ausdruck einer Politik interpretieren, die gerade nicht das Militär zum "Waffenträger" des durch den Kaiser repräsentierten Staates degradierte, sondern diesen - freilich in der Person des immer mächtiger werdenden Stilichos - nahezu ersetzte.

Es sind freilich nicht nur die von Janßen aus dem Quellenmaterial abgeleiteten Thesen und Schlussfolgerungen, die nach der Lektüre des Buches ein Gefühl der Skepsis hinterlassen; es ist vielmehr auch seine Behandlung der Quellen selbst. Janßen stützt sich ja zu einem beträchtlichen Teil auf Gesetzesquellen, vor allem den Codex Theodosianus. In den letzten Jahren ist hierzu eine beachtliche Zahl von Publikationen erschienen, die von ihm nicht (mehr) berücksichtigt worden sind. [5] Auch wenn einige dieser Beiträge vielleicht nicht mehr nachträglich eingearbeitet werden konnten, so hätte Janßen doch auch anderswo erfahren können, dass der uns heute vorliegende Codex Theodosianus eine Kompilation darstellt, die keinesfalls die gesamte honorianische Gesetzgebung repräsentiert. Viele Gesetze wurden nachträglich von den Redaktoren verkürzt oder gar verändert; viele sind in den Codex überhaupt nicht aufgenommen worden. [6] Bei dem Zustandekommen eines Gesetzes hatten dominante Persönlichkeiten wie Stilicho zwar besondere Einflussmöglichkeiten auf den Gang der Dinge, dennoch kann man keinesfalls davon ausgehen, dass alle einschlägigen Initiativen (suggestiones) zwischen 395 und 408 von ihm allein ausgingen. [7]

Ich komme zum Resümee meiner Beobachtungen: Tido Janßen hat seine Mühe nicht auf einen unwürdigen Gegenstand verwandt; eine aktuelle Gesamtdarstellung der Wirkungszeit des Heermeisters Stilicho ist vonnöten und fügt sich in den Kontext der derzeitigen Forschung gut ein. Zwei Gesichtspunkte sind es, die die Ergebnisse von Janßens Arbeit an entscheidenden Stellen beeinträchtigen: zum einen sein Umgang mit den Quellen, zum anderen seine davon abgeleiteten Schlussfolgerungen in Bezug auf Stilichos Reformpolitik. Ihr Scheitern, so der Autor, hätte dem Weströmischen Reich erst eigentlich den Weg in den Untergang gebahnt. Daran kann man mit einiger Berechtigung zweifeln. Stilicho agierte zu einer Zeit, als das Militär und seine Repräsentanten schon längst Teil des Problems geworden waren, nicht Motor seiner Lösung. Auch wenn er eine noch so kluge Reformpolitik hätte initiieren wollen, so wäre es nicht möglich gewesen, dieses Dilemma dauerhaft zu beheben.


Anmerkungen:

[1] Siehe im einzelnen W. Lütkenhaus: Constantius III. Studien zu seiner Tätigkeit und Stellung im Westreich 411-421, Bonn 1998; T. Stickler: Aëtius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich, München 2002; D. Henning: Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5-493 n. Chr., Stuttgart 1999; und P. MacGeorge: Late Roman Warlords, Oxford 2002.

[2] S. Mazzarino: Stilicone. La crisi imperiale dopo Teodosio, Rom 1942 (Nachdruck Mailand 1990).

[3] E. Demougeot: De l'unité à la division de l'Empire romain, 395-410. Essai sur le gouvernement impérial, Paris 1951.

[4] Siehe hierzu u.a. R. Scharf: Die Kanzleireform des Stilicho und das römische Britannien, in: Historia 39 (1990), 461-474.

[5] Siehe etwa T. Honoré: Law in the Crisis of Empire 379-455 A.D. The Theodosian Dynasty and its Quaestors. With a "Palingenesia" of Laws of the Dynasty, Oxford 1998; J. Harries: Law and Empire in Late Antiquity, Cambridge 1999; und J. F. Matthews: Laying down the Law. A Study of the Theodosian Code, New Haven u.a. 2000.

[6] Mit welchen Problemen man konfrontiert wird, wenn es darum geht, zu bestimmen, auf welche Weise der Codex Theodosianus erstellt worden ist, kann man u.a. folgenden gegensätzlichen Beiträgen entnehmen: J. Matthews: The Making of the Text, in: J. Harries / I. Wood (ed.): The Theodosian Code. Studies in the Imperial Law of Late Antiquity, London 1993, 19-44, und B. Sirks: The Sources of the Code, ebd., 45-67.

[7] Zum Prozess der Gesetzgebung in der Spätantike siehe u.a. J. Harries: The Background to the Code, in: Harries / Wood (wie Anm. 6), 8ff.

Timo Stickler