Rezension über:

Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 327 S., ISBN 978-3-525-36733-9, EUR 26,90
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Rezension von:
Matthias Stickler
Bayerische Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Stickler: Rezension von: Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/7169.html


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Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Das Kaiserreich transnational

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Die vorliegende Aufsatzsammlung veröffentlicht die Ergebnisse einer im März 2003 in Blankensee stattgefundenen Tagung der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, wobei für die Publikation noch weitere Beiträge hinzukamen. Entstanden ist auf diese Weise, um es gleich vorwegzunehmen, ein gelungener Diskussionsbeitrag zur Interpretation der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, der wertvolle und teilweise bisher wenig beachtete neue Aspekte im Rahmen eines weltgeschichtlich orientierten wissenschaftlichen Zugriffs präsentiert. Transnationalität als mögliches neues historiografisches Paradigma ist hierbei das Schlagwort, dem Herausgeber und Autoren nach vorausgegangenen Diskussionen in Fachzeitschriften nun auch in Gestalt eines programmatischen Sammelbandes Gehör verschaffen wollen. Es geht ihnen hierbei vor allem darum, die binnengeschichtlich fundierte Analyse der historischen Sozialwissenschaft ("Primat der Innenpolitik") um eine Außenperspektive zu erweitern. Der wissenschaftspolitisch lange Zeit dominierende sozialgeschichtliche Ansatz wird nach der kulturalistischen Herausforderung der 90er-Jahre, die eine Rückbesinnung auf mikrohistorische Perspektiven einforderte, nun also zusätzlich durch einen (nur scheinbar damit unvereinbaren) makrohistorischen, globalgeschichtlichen Ansatz in die Zange genommen, wobei davon ausgegangen wird, dass es sich bei beiden um zwei Seiten der gleichen historiografischen Medaille handelt (Blackbourn, 303). Vor allem zwei Axiome der historischen Sozialwissenschaften werden von den Vertretern der transnationalen Geschichte dekonstruiert: zum einen die Annahme des Nationalstaats als selbstverständlichem Analyserahmen, zum andern die damit eng verbundene Vorstellung von Modernisierung innerhalb einer von außen kaum beeinflussten und durchdrungenen nationalstaatlichen Gesamtgesellschaft, hinter der unausgesprochen die Vorstellung von einer Vorbildhaftigkeit des atlantisch-westeuropäischen Entwicklungsmusters steht ("Container-Denken", 12).

Transnationale Geschichte definieren die Herausgeber als Analyse von "Beziehungen und Konstellationen, welche die nationalen Grenzen transzendieren." Dies schließe auch "die Geschichte der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen, vor allem in ihren neueren Formen, mit ein" (14). Dieser letzte Satz überrascht ein wenig, grenzen sich die Herausgeber doch gegenüber der auf klassischen Ansätzen aufbauenden modernen Politik- und Diplomatiegeschichte schroff ab, indem, ohne dass dies genauer belegt würde, deren fortwirkende Wahlverwandtschaft mit überholten Forschungsintentionen (Großmacht als "einen monadenhaft operierenden Akteur auf der internationalen Bühne", "Vorstellung einer Eigenlogik zwischenstaatlicher Machtpolitik", 12) unterstellt wird. Konsequenterweise fehlen in dem Sammelband auch dezidiert außenpolitisch akzentuierte Beiträge völlig. Ganz offensichtlich trüben hier wissenschaftspolitisch motivierte Abwehrreflexe das ansonsten durchaus abgewogene Urteil. Diese Frontstellung ist vor allem deswegen unverständlich, weil die Herausgeber nicht müde werden zu betonen, einen pragmatischen Ansatz zu präsentieren, hinter dem weder eine ausgearbeitete Theorie noch eine besondere Untersuchungsmethode stehe (14). Als Synonym für transnationale Geschichte wird in dem Sammelband vielfach auch "Globale Geschichte" oder "Geschichte unter dem Paradigma der Globalisierung" verwendet (vergleiche 23ff. 29 beziehungsweise 302); diese Begrifflichkeiten rekurrieren auf die Annahme, dass Globalisierungstendenzen der unmittelbaren Gegenwart prinzipiell nichts Neues sind, sondern dass sie vor allem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Art Vorgeschichte haben.

Der Sammelband gliedert sich in fünf Abschnitte: In einem ersten Teil ("Zooming In": Das Kaiserreich in der Welt) untersucht Woodruff D. Smith (Boston) die Begriffe "Weltpolitik" und "Lebensraum" vergleichend innerhalb der Paradigmen der Modernisierung und Globalisierung. Niels P. Petersson (Konstanz) beschreibt das "Kaiserreich in Prozessen ökonomischer Globalisierung", Michael Geyer (Chicago) unternimmt einen Vergleich der Entwicklung in Deutschland und Japan jenseits des Modernisierungs-Paradigmas. In einem zweiten Teil ("Verwalten und Herrschen in Metropole und Kolonien") vergleichen Andreas Eckert (Hamburg) und Michael Pesek (Berlin) Herrschaft und Verwaltung in Preußen und Afrika, Sebastian Conrad (Berlin) "Eingeborenenpolitik" in Ostafrika und Ostwestfalen am Beispiel "Erziehung zur Arbeit". In einem dritten Teil ("Kolonialismus in Europa") beschäftigt sich Philipp Ther (Frankfurt / Oder) mit deutscher Geschichte als imperialer Geschichte am Beispiel der preußischen Politik gegenüber der polnischen Minderheit, Helmut Walser Smith (Nashville) analysiert Integrations- und Assimilationsprozesse der ethnischen Minderheiten Preußens am Beispiel der Kaschuben, Masuren und preußischen Litauer. In einem vierten Teil ("Repräsentationen und Normierungen") befassen sich Alexander Honold (Basel) mit Menschen- und Völkerschauen um 1900, Andrew Zimmerman (St. Louis) mit Ethnologie im Kaiserreich, Birthe Kundrus (Oldenburg) mit imperialistischen Frauenverbänden im Kaiserreich und Dieter Gosewinkel (Berlin) mit dem Problem der deutschen Staatsangehörigkeit zwischen Rassestaat und Rechtsstaat. In einem fünften Teil ("Koloniale (Un-)Ordnung") spürt Dirk van Laak (Jena) Kolonien als "Laboratorien der Moderne" nach und Sven Beckert (Cambridge / Massachusetts) der globalen Geschichte der Baumwolle, womit er das wichtige Terrain bisher vor allem frühneuzeitlich orientierter Arbeiten zur Warengeschichte für die späte Neuzeit fruchtbar macht. Den Band beschließt der lesenswerte Essay von David Blackbourn (Cambridge / Massachusetts) "Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze", der wichtige Aspekte des Gegenstandes prononciert zusammenfasst beziehungsweise mit spitzer Feder auf den Punkt bringt.

Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, die Beiträge auch nur ansatzweise in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Es seien deshalb lediglich zwei Aufsätze hervorgehoben, die Chancen und Grenzen der transnationalen Methode beispielhaft deutlich machen: So schlägt etwa Philipp Ther, Juniorprofessor an der Viadrina, als neues Paradigma für eine Betrachtung des Deutschen Reiches jenseits des Nationalstaats vor, dieses in Bezug auf die ethnisch gemischten beziehungsweise indifferenten Gebiete im Osten als kontinentales preußisch-deutsches Empire zu betrachten. Die Herrschaft über die polnische Bevölkerung sei von 1815 bis 1863 informell und indirekt, nach dem Januaraufstand in Russisch-Polen allerdings zunehmend formell und direkt mit dem Ziel von Unterdrückung und Assimilation geworden. Ther postuliert in diesem Zusammenhang einen Rückgriff der herrschenden preußisch-deutschen Eliten auf koloniale Denkmuster und Ideologien. Dieser sehr weit reichende Interpretationsansatz, den Ther in seiner konkreten Argumentation vielfältig ausdifferenziert (so viel, dass man sich gelegentlich fragt, wie viel von seiner Grundthese eigentlich noch übrig bleibt), lässt vor allem zwei Gesichtspunkte völlig außer Acht: Erstens assoziiert Ther den Begriff Empire oder Imperium allzu sehr mit Kolonialreich; ältere mittelalterliche oder frühneuzeitliche Bezüge werden demgegenüber weitgehend ausgeblendet. Diese Einseitigkeit wäre vermeidbar gewesen, hätte der Autor den 1999 von Franz Bosbach und Hermann Hiery herausgegebenen Sammelband "Imperium / Empire / Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich" herangezogen. Zweitens, und dies scheint mir ein generelles Problem der transnationalen Methode, wie sie der Sammelband präsentiert, zu sein, kommen bei Thers stark preußenzentrierter Sichtweise diplomatiegeschichtliche Aspekte kaum vor: Dass die Aufrechterhaltung der Teilung Polens ein wichtiges Element gesamteuropäischer Friedenswahrung seit dem Wiener Kongress war, mag man aus heutiger Sicht beklagen, doch ist ohne eine Würdigung dieses Faktums die Analyse der polnischen Frage aus transnationaler Perspektive schlichtweg unvollständig. Einen anderen Ansatz verfolgt dagegen Helmut Walser Smith, Martha Rivers Ingram Professor für Geschichte an der Vanderbilt University, der ein ungemein differenziertes und faszinierendes Bild der ethnischen Gemengelage in den preußischen Ostprovinzen des späten 19. Jahrhunderts entfaltet und insbesondere die konfessionellen Strukturen dieses Raums umfassend in seine Betrachtung einbezieht. Es gelingt ihm hierdurch überzeugend nachzuweisen, warum der seit der Reichsgründung verstärkt einsetzende und von der Obrigkeit forcierte Staats- und Nationsbildungsprozess bei den protestantischen Masuren, Slowinzen und preußischen Litauern im Sinne der kleindeutsch-preußischen Staatsnation erfolgreich verlief (was die Volksabstimmungen von 1920 eindrucksvoll bestätigen sollten), während die katholischen Kaschuben sich mehrheitlich dem Polentum zuwandten.

Es wäre dringend zu hoffen, dass das Konzept transnationaler Geschichtsbetrachtung sich nicht dahin entwickelt, dass es, wie bei so manchem tatsächlichen oder vermeintlichen Paradigmenwechsel, Kontrollfiguren konstituiert, die über Ausschließung von oder Teilnahme an diesem fruchtbaren Diskurs entscheiden. Der von den Herausgebern betonte pragmatische Ansatz sollte unbedingt weiterverfolgt und im Hinblick auf die Einbeziehung klassischer politik- und diplomatiegeschichtlicher Fragestellungen erweitert werden. Auf diese Weise könnten in der Tat konventionelle Denkschemata revidiert werden und ein neues, undogmatisches historiografisches Paradigma entstehen. Ob dies, wie die Herausgeber vorsichtig andeuten (14), zu einem erneuten Paradigmenwechsel führen wird, muss einstweilen offen bleiben.

Matthias Stickler