Silke Lindemann: Jüdisches Leben in Celle. Vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis zur Emanzipationsgesetzgebung 1848 (= Celler Beiträge zur Landes- und Kulturforschung; Bd. 30), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2004, 686 S., ISBN 978-3-89534-510-4, EUR 49,00
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Die Göttinger Dissertation beabsichtigt, wie im Vorwort formuliert wird, "die Erfahrungen und das Leben der jüdischen Minderheit in Celle inmitten des christlich geprägten Umfelds [...] zum ersten Mal in ganzer Breite unter rechts-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekten" zu untersuchen (11). Behandelt wird der Zeitraum von der Entstehung der Celler jüdischen Gemeinde im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des Vormärz 1848. Als Schwerpunkte werden benannt "die entscheidende Wendeepoche um 1800, ein bisher in der Forschung häufig vernachlässigter Zeitraum", sowie "das religiöse Leben der Celler Gemeinde". Dabei sollen "vereinzelte jüdische Quellen mit den zerstreuten Äußerungen der christlichen Obrigkeit" verbunden und "trotz der überlieferungsbedingten Lücken [...] Zustände im 18. und 19. Jahrhundert" konkret beschrieben werden. Lindemann stützt sich auf das im Hauptstaatsarchiv Hannover und im Stadtarchiv Celle gründlich recherchierte, umfangreiche Archivmaterial und präsentiert eine lange Literaturliste, die allerdings zahlreiche redundante Titel enthält und einschlägige Forschungen der jüngsten Zeit aus Niedersachsen kaum berücksichtigt. Es gibt ein Orts- und ein (oft ungenaues) Personenregister, aber kein Sachregister.
Der erste Teil der Untersuchung behandelt den Zeitraum von der ersten jüdischen Niederlassung in Celle unter Herzog Georg Wilhelm im letzten Drittel des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die Anfänge der jüdischen "Ansetzung" in der damaligen Residenzstadt und im Fürstentum Lüneburg sowie die allmähliche Formierung der Gemeinde bis etwa 1740 werden allerdings zu schematisch behandelt und lassen das Spezifische der Celler Situation zu wenig erkennen. So wird zwar zutreffend erkannt, dass in den beiden ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wie auch anderswo eine Differenzierung bei den Schutzgeldzahlungen stattfand, jedoch übersehen, dass die ersten Celler und Lüneburger Schutzjuden unter Herzog Georg Wilhelm am Ende des 17. Jahrhunderts ein sehr hohes Schutzgeld von 20 Reichstalern (Harburg, Nienburg, Lüneburg), dann jährlich 25 Reichstalern (Celle, Dannenberg, Nienburg) zahlten.
Die Schutzgeldhöhe wurde offensichtlich erst nach Erlöschen des Fürstentums 1705 allmählich den im Calenbergischen schon überwiegend üblichen niedrigeren Sätzen angeglichen, die im ganzen 18.Jahrhundert die Norm blieben. Auch die Zahlung des Leibzolls wurde den Schutzjuden des Fürstentums Lüneburg anfänglich noch abverlangt und ist erst in den folgenden Schutzbriefen erlassen worden. Man hätte eine genauere Darstellung erwartet, wann sich jeweils die Anzahl der Schutzjudenfamilien vermehrte, welche Prinzipien bei der Schutzbrieferteilung erkennbar werden und wie lange und auf welche Weise der anfänglich sehr enge Kontakt zur hannoverschen jüdischen Gemeinde fortdauerte. Zu widersprechen ist Lindemanns Vorstellung (65), dass es etwa in den umliegenden Dörfern Juden gegeben habe, die zu den Gottesdiensten nach Celle kamen, und ihrer These, dass über die bekannten Zahlen hinaus weitere Juden in der Vorstadt zur Miete gewohnt haben könnten, die in den Quellen nicht erfasst wurden; allenfalls ging es um vorübergehende Aufenthalte.
Bei den Ausführungen über "die Beerdigungsriten der Juden in der zeitgenössisch christlichen Kritik" (90-95) kommt es zu einer Fehleinschätzung der im Stadtarchiv Celle vorhandenen, schon von Zvi Asaria behandelten wichtigen Akte zur von der Halacha geforderten frühen Beerdigung der Juden, die seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts von den christlichen Obrigkeiten nicht mehr geduldet wurde. Lindemanns Urteil, dass es sich hier "weder um eine die Juden allein betreffende Angelegenheit noch um eine für Celle spezifische Auseinandersetzung" handele, greift zu kurz. Sie erkennt nicht, dass sie hier, wie Krochmalnik es formuliert hat, auf ein fundamentales Problem der jüdischen Aufklärungsbewegung, der Haskala, gestoßen ist, die wie die aufgeklärten Regierungen auf ein akkulturiertes Judentum setzte und in der Beerdigungsfrage erstmals ihre theoretischen Ziele in die Praxis umzusetzen suchte. Wie, durch wen und in welchen Zusammenhängen diese Diskussion im Hannoverschen zwischen den Geheimen Räten in Hannover, Vertretern der Haskala und der auf der Halacha beharrenden jüdischen Gemeinde in Celle mit ihrem Rabbiner Asch (identisch mit dem auf 278 angeführten Rabbiner Abraham Joseph) stattfand, hätte eine Analyse auch im Hinblick auf die in der Folgezeit erreichten Lösungen verdient.
Bei der Übersicht über die Erwerbszweige und den Vermögensstand der Celler Juden hätten deren Leipziger Messebesuche berücksichtigt werden müssen und die erhaltenen Listen über jüdische Marktbesucher in Celle nicht nur im Zusammenhang mit ihrem Heiratsverhalten erwähnt, sondern auch die überregionalen und regionalen Verbindungen der Celler Juden konkret beschrieben werden können (303). Der spätere Hofagent Isaak Jacob Gans wird nicht in seiner Rolle als Kriegslieferant im Siebenjährigen Krieg vorgestellt und auch der für die finanzielle Ausstattung der jüdischen Gemeinde in Celle so zentrale Gans'sche Fideikommiss von 1797 kaum behandelt.
Der zweite Teil der Untersuchung befasst sich mit dem Königreich Westfalen, dem Celle als Kantonstadt und Distriktshauptstadt des Allerdepartements seit März 1810 knapp vier Jahre lang angehörte. Niemand wird hier die im Wesentlichen ja bekannte "neue Gesetzeslage für die Juden unter der französischen Regierung detailliert dargestellt" haben wollen (204), jedoch eine klare Zusammenfassung der zentralen Merkmale erwarten. Das jüdische Konsistorium in Kassel, der erstmals für Juden eingeführte Militärdienst, Handel und Gewerbe, die freie Wahl des Wohnorts, die Abgaben, das jüdische Armen- und Krankenwesen und die jetzt von der Obrigkeit verlangten Zivilstandsregister der Gemeinden werden, gelegentlich auch mit Celler Beispielen, behandelt. Widerstände gegen die den Gemeinden auferlegten Zahlungen für das Konsistorium stellt Lindemann an Beispielen aus Hannover und Celle dar, das erhaltene Tagebuch des jüdischen Celler Advokaten Gans aus dieser Zeit wird herangezogen. Für Celle und das gesamte Allerdepartement kommt sie zu dem Ergebnis, dass es hinsichtlich der Handelsbefugnisse der Juden keine großen Veränderungen gegeben habe; allein Salomon Philipp Gans habe von der bürgerlichen Gleichstellung profitieren und die Advokatenlaufbahn einschlagen können (309 f.).
Der dritte Teil, über die Hälfte des Buchumfangs, behandelt "die Politik gegenüber den Juden im Königreich Hannover zur Zeit der Restauration und des Vormärz". Die Celler Synagogengemeinde wird damit bloßes Exemplum für hannoversche Judenpolitik, was angesichts der unterschiedlichen historischen Gegebenheiten in den Landesteilen des Königreichs problematisch ist. Für die Gemeinde lagen für diesen Zeitraum kaum Vorarbeiten vor. So bestand die Aufgabe darin, aus der relativ dichten Quellenüberlieferung ihr Profil zu erarbeiten und sie im Zusammenhang mit der nach 1814 neu formulierten hannoverschen Judenpolitik vorzustellen. Das ist Lindemann nur ansatzweise gelungen. Die Arbeit wird hier in weiten Teilen endgültig zur reinen Dokumenten- und Zitatensammlung, Aktenreferate füllen die Seiten, es fehlt eine plausible Strukturierung. Doch wird man, wie auch schon im westfälischen Abschnitt, in dem ausgebreiteten Material bei geduldiger Suche viele Informationen finden und für eigene Untersuchungen verwerten können, z. B. zur Organisation des jüdischen Schulwesens in Celle, zum Schächten (keineswegs eine "Nebentätigkeit", sondern in der Regel das dritte Amt des Lehrers und Vorsängers) und zu den Modalitäten bei der Verleihung des Bürgerrechts an Juden nach dem Gesetz von 1842.
Bei der Beschreibung der Bildung von Synagogengemeinden wegen des im Königreich Hannover nach 1842 verordneten Parochialzwangs für Juden werden zwar ausführlich einzelne Zuordnungsprobleme dargelegt, doch trifft das (566) formulierte Fazit nicht den Sachverhalt, wenn es heißt, dass die "den Juden übergestülpten Obrigkeitsentscheidungen" sich als praxisfern erwiesen. "Die christliche Obrigkeit" wird damit wieder einmal, wie so oft in dieser Arbeit, als "Schuldige" benannt. Es trifft nicht zu, dem widersprechen schon die angeführten Beispiele, dass Juden keine Möglichkeit hatten, einer bestimmten jüdischen Gemeinde anzugehören, und sich "der von oben vorgeschriebenen Zuordnung fügen" mussten (568). Das Fazit schließlich (569), dass die "Zuordnung zu den Synagogengemeinden, als auch die Synagogenordnung und insbesondere die Anordnung über das jüdische Schulwesen sowie die Umstrukturierung der jüdischen Armenverbände" nicht von Juden entwickelte Veränderungen waren, sondern "obrigkeitliche Anordnungen von Christen, die der jüdischen Randgruppe meist fernstanden", übersieht, wie eng diese Maßnahmen in Zusammenarbeit mit dem Landrabbiner entwickelt worden waren und auf jüdischen Forderungen basierten.
Es überrascht, dass weder die Betreuer der Arbeit noch der Verlag auf Kürzungen und präzisen Resümees bestanden haben, die dem Leser den Zugang hätten erleichtern können. Die Untersuchung bleibt in dieser Fassung bestenfalls im Dokumentarischen stecken, in ihren schwächeren Teilen verliert sie sich im Faktengestrüpp und in Wiederholungen. Schwerer wiegt, dass auch der Überblick über Forschungsstand und Quellenlage dürftig ausfällt. Erkenntnisleitende Fragestellungen werden kaum entwickelt. Bei der Überfülle von oft seitenlangen Aktenzitaten auch aus gedruckt vorliegenden Quellen, irrelevanten, assoziativ dargebotenen Details und weit ausholenden Literaturwiedergaben werden wichtige Zusammenhänge allzu selten prägnant formuliert. Hinzu kommen zu viele Irrtümer und Verwechslungen sowie Missverständnisse der Quellen. Urteile und Analysen treffen oft nicht den entscheidenden Punkt und lassen daran zweifeln, dass Sachverhalte in ihrer Bedeutung erkannt worden sind. Für eine jüdische Gemeinde, die im 18. Jahrhundert neben derjenigen der Stadt Hannover zu den wichtigsten des Kurfürstentums gehörte und auch im Königreich Hannover von Bedeutung für die kleineren jüdischen Gemeinden der Region war, hätte man sich eine gelungenere Lokalstudie gewünscht.
Sibylle Obenaus