Rezension über:

Hilmar Frank: Aussichten ins Unermessliche. Perspektivität und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich (= LiteraturForschung), Berlin: Akademie Verlag 2004, VII + 248 S., 116 Abb., ISBN 978-3-05-003689-2, EUR 59,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Johannes Grave
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Grave: Rezension von: Hilmar Frank: Aussichten ins Unermessliche. Perspektivität und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich, Berlin: Akademie Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/7673.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Hilmar Frank: Aussichten ins Unermessliche

Textgröße: A A A

"Es ist herrlich, in unendlicher Einsamkeit am Meeresufer unter trübem Himmel auf eine unbegrenzte Wasserwüste hinzuschauen [...].". [1] Mit diesem Lob der Fernsicht über die Meeresfläche hebt Clemens Brentanos Besprechung von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer an - ein Text, aus dem Heinrich von Kleist seine berühmte Kritik des Gemäldes entwickelte, die schließlich am 13. Oktober 1810 in den Berliner Abendblättern erschien. Brentano beschreibt damit einen Sonderfall des Blicks in die Ferne: die "Aussicht ins Unermessliche". Ihr widmet sich Hilmar Frank in seinem Friedrich-Buch.

Nach einem kurzen ersten Blick auf Friedrichs künstlerisches Werk setzt Franks Gedankengang mit einer zentralen Äußerung aus einem Brief des Künstlers vom Februar 1809 ein. In Erwiderung einer kritischen Besprechung seines Tetschener Altars durch Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr beharrte Friedrich darauf, "daß die Wege, so zur Kunst führen, unendlich verschieden sind; daß die Kunst eigentlich der Mittelpunkt der Welt, der Mittelpunkt des höchsten geistigen Strebens ist, und die Künstler im Kreise um diesen Punkt stehen.". [2] Friedrichs Bekenntnis zur Standortgebundenheit des Künstlers, die er durch ein im Brief skizziertes Kreisschema veranschaulichte, situiert Frank in einer umfassenden Geschichte des Perspektivitätsdenkens, das er, von Leibniz ausgehend, bis in die Kunstkritik um 1800 verfolgt.

Die breite begriffsgeschichtliche und metaphorologische Kontextualisierung von Friedrichs anschaulicher Bemerkung ist programmatisch für Franks Vorgehen. Auch seinen - neben dem Künstler - wichtigsten Gewährsmann, Christian August Semler, stellt er in weite geistesgeschichtliche Zusammenhänge. Dessen Besprechungen von frühen Gemälden Friedrichs verknüpfen die Reflexion über eine prinzipielle Standortgebundenheit des Sehens mit der Metapher der Aussichten ins Unermessliche und weisen durch das Nebeneinanderstellen mehrerer Deutungen zugleich die Sinnoffenheit der Gemälde auf. Auf Grund dieser Zusammenführung von Perspektivitätsdenken und Aussichtsmetapher kommt Semlers Kritiken, aber auch seinen Ausführungen zur Landschafts- und Gartentheorie eine Schlüsselstellung für Franks Argumentation zu. In dessen weit ausgreifenden Rekonstruktionen ästhetischer Diskurse und Denkfiguren erscheinen Semlers Texte und Friedrichs Gemälde als Brennspiegel, in denen sich neuzeitliche Traditionen des perspektivischen Denkens, der Aussichtsmetapher und der Lust am Deutungsspielraum auf einzigartige Weise bündeln. Das ästhetische Konzept Semlers, das Frank auch für Caspar David Friedrich in Anspruch nimmt, erweist sich als Korrelat zur "ästhetischen Idee" Kants und zur rêverie, die im 18. Jahrhundert, u. a. im Gefolge Rousseaus, eine bemerkenswerte Konjunktur erlebte. Gemeinsam ist der Aussichtsmetapher, der "ästhetischen Idee" und der rêverie, dass sie auf eine sinnliche Anschauung rekurrieren, die das Denken anregt, sich aber begrifflich nicht erschöpfend fassen lässt.

Den facettenreichen und anregenden Kapiteln zu den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der hier stichpunktartig benannten Denkfiguren stehen vergleichsweise knappe Ausführungen zu einzelnen Werken Friedrichs gegenüber. Neben den Fernblicken und den Rückenfiguren, mit denen die Aussichtsmetapher eine visuelle Entsprechung findet, analysiert Frank Bildpaare, die ihm als Ausdruck von Friedrichs Perspektivitätsdenken erscheinen. Aus der Betrachtung einzelner Gemälde, mehr aber noch aus der Lektüre zeitgenössischer Kommentare zu Friedrichs Werken - neben Semler finden vor allem Otto August Rühle von Lilienstern und Karl Schildener Berücksichtigung - folgert Frank, dass der Künstler die Denkfiguren der Perspektivität und der Aussicht ins Unermessliche aufgegriffen habe, um sie in Bildschöpfungen umzuformen, die mit ihren unbestimmten Fernsichten nur eine Blickrichtung, nicht aber einen fixierten Gegenstand der Betrachtung vorgeben. Allein eine Annäherung an Friedrichs Gemälde, die sie als deutungsoffene Werke begreife, werde ihnen daher gerecht.

Franks Ausführungen zu den genannten Topoi sind äußerst erhellend, und sein Blick auf Friedrichs Kunst, der die Werke nicht auf eine eindeutige ikonografische Lesbarkeit hin festlegen will, dafür aber den Künstler intellektuell ernst nimmt, erscheint sympathisch. Dennoch beschleichen den Leser partienweise Zweifel. Bei der Vielzahl der angeführten Autoren und immer neuen Varianten einzelner Begriffe und Metaphern stellt sich bisweilen die Frage, ob alle angeführten Stimmen in den Zusammenhang gehören, den Frank so eindrucksvoll rekonstruiert. Tatsächlich scheint es an einigen Stellen an Trennschärfe gefehlt zu haben, wie Franks Verknüpfung von Kants Begriff des Erhabenen mit dessen Begriff der "ästhetischen Idee" zeigen kann (99 f.). Die enge Verbindung beider Begriffe erscheint schon deswegen fragwürdig, weil Kant selbst ausdrücklich die Schönheit, und nicht die Erhabenheit, als "Ausdruck ästhetischer Ideen" [3] bezeichnet. Und während Kant "ästhetische Ideen" als Vorstellungen der schöpferischen Einbildungskraft begreift, ist es gerade die Frustration der Einbildungskraft, die dem Erlebnis des (mathematisch) Erhabenen zu Grunde liegt: Angesichts eines schlechthin Großen weckt die Einsicht in die "Unangemessenheit unserer Einbildungskraft" das Bewusstsein der "Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit". [4] Erhabenheit und rêverie dürften - zumindest für Kant - kaum zusammenzudenken sein. [5]

Mit dem Verzicht auf ausführliche Einzelanalysen von Werken Friedrichs bleiben überdies zentrale Aspekte ausgeklammert. Dass die Entwicklung von Friedrichs Kunst unberücksichtigt bleibt, erscheint konsequent, um in der Deutung der Gemälde "biografistische" Verengungen zu vermeiden. Diese Entscheidung nimmt Frank freilich auch die Möglichkeit, nach "Rückkoppelungen" zwischen der Kunstkritik und Friedrichs Werken zu fragen. Könnte der Künstler nicht unter dem Eindruck bestimmter Reaktionen über seine künstlerischen Ziele und Mittel reflektiert haben? Weitaus gravierendere Folgen jedoch hat der Verzicht auf eine genauere Betrachtung von Studienpraxis und Werkprozess. Es dürfte kein Zufall sein, dass Frank die neueren Anregungen Werner Buschs nicht aufgegriffen hat [6], denn die Eigenart Friedrichs, einzelne Bäume, Pflanzen und Felsen nicht nur exakt in Zeichnungen festzuhalten, sondern mit ungewöhnlicher Treue in seine Bildkompositionen zu übertragen, lässt sich durch den Verweis auf Perspektivität und Aussichtsmetapher nicht erklären.

Eine konsequentere Analyse von Friedrichs Bildstrukturen und seinen Strategien der Lenkung des Betrachters hätte zu der Frage Anlass geben können, ob die für einen Teil von Friedrichs Œuvre adäquat erscheinende Aussichtsmetapher tatsächlich das eigentliche Zentrum von dessen Kunst ausmacht. Sowohl mit einer betont flächenorientierten Strukturierung des Bildes als auch mit Verunklärungen der den Betrachter lenkenden Perspektive irritierte Friedrich seine Zeitgenossen. Eine Fülle von Reaktionen zeigt, dass die ersten Betrachter in zahlreichen Werken ihre Erwartungen nicht erfüllt sahen. So erging es, um das eingangs zitierte Lob des Meerblicks aufzugreifen, auch Clemens Brentano. Gerade die von ihm beschriebene herrliche Fernsicht wurde ihm in Friedrichs Mönch am Meer verweigert. Brentano musste resigniert feststellen: "[...] was ich in dem Bilde selbst finden wollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nämlich einen Anspruch, den mir das Bild tat, indem es denselben nicht erfüllte; und so wurde ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blickte, die See fehlte ganz.". [7] Es sind die radikalen bildstrukturellen Mittel, die die Erwartung des sehnsüchtigen Blicks in die offene Ferne durchkreuzen. Indem Friedrich zu einer Gestaltung des Bildes findet, die dessen Flächenhaftigkeit und damit den materiellen Bildträger betont, arbeitet er einer Raumillusion entgegen; und indem er den Betrachter über seinen Standort im Unklaren lässt, versagt er ihm die Sicherheit, ohne die es keinen Genuss der Aussicht ins Unermessliche geben kann.

Mit Hilmar Franks Hinweis auf bisher übersehene ästhetische Denkfiguren im Umkreis des Künstlers wird daher kaum das letzte Wort in der scheinbar endlosen Debatte um eine angemessene Form der Deutung von Friedrichs Kunst gesprochen sein. Ganz im Sinne des Konzeptes der rêverie aber dürften Franks Ausführungen mannigfaltigen Stoff zur Vertiefung des Gesprächs über Caspar David Friedrich bieten.


Anmerkungen:

[1] Friedhelm Kemp (Hg.): Clemens Brentano. Werke, Bd. 2, München 1963, 1034.

[2] Caspar David Friedrich an Johannes Karl Hartwig Schulze, 8. Februar 1809; zit. nach Herrmann Zschoche (Hg.): Caspar David Friedrich. Die Briefe, Hamburg 2005, 51.

[3] Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe, Bd. 10), hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, 257 (§ 51).

[4] Kant (wie Anm. 3), 180 (§ 27).

[5] Entgegen einer älteren Forschungstradition wurde Friedrichs Kunst zuletzt klar von den Theorien des Erhabenen im Gefolge Kants abgegrenzt; vgl. Johannes Grave: Caspar David Friedrich und die Theorie des Erhabenen. Friedrichs Eismeer als Antwort auf einen zentralen Begriff der zeitgenössischen Ästhetik, Weimar 2001, und Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, 118

[6] Vgl. etwa Werner Busch: Trennendes und Verbindendes in der Zeichnungsauffassung von Caspar David Friedrich und Julius Schnorr von Carolsfeld, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 29 2001, 99-109, und Busch (wie Anm. 5), bes. 82-101.

[7] Brentano (wie Anm. 1), 1034.

Johannes Grave