Rezension über:

Arnd Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2005, x + 381 S., ISBN 978-3-465-03369-1, EUR 59,00
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Rezension von:
Uwe Walter
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Walter: Rezension von: Arnd Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/8402.html


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Arnd Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie

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Der Zufall, verstanden als ein 'Dazwischenkommen', also als unvorhersehbare ereignishafte Kreuzung zweier Handlungslinien, die Kontingenz, gegründet auf der Modalaussage, dass alles Wirkliche zugleich auch möglich ist und daher neben sich noch ein potenzielles Anderssein oder ein Nichtsein zu dulden hat, sowie die Emergenz, also das nicht kausallogisch erklärbare "Auftauchen" eines komplexen Phänomens - alle drei flößen Historikern Furcht ein und überfordern sie nicht selten, wie Alfred Heuß, der als einer von wenigen Zunftvertretern dem Problem gründliche Reflexionen gewidmet hat, treffend feststellte: "Die Vorstellung, daß ein geschichtlicher Zustand 'kontingent' ist, gilt unter Historikern als anstößig. [...] Er glaubt, seiner Aufgabe am ehesten zu entsprechen, wenn er sie [die Kontingenz; U. W.] möglichst zum Verschwinden bringt, aber ohne es eigentlich zu bemerken, zerfließt ihm dieses Anliegen, denn die Kontingenz löst sich ihm nicht auf, sondern wird lediglich verdrängt [...] [und] so weit abgedrängt, daß sie unsichtbar wird und sich nicht mehr spürbar in den Weg stellt. Sie gerät in einen solchen Aggregatzustand, daß sie in die Fragen, die der Historiker zu stellen pflegt, nicht mehr eingeht". [1] Man folgt dann im Allgemeinen gern Humboldt, der "das allgemeinste Streben der menschlichen Vernunft auf die Vernichtung des Zufalls gerichtet" sah und sich dabei auf Spinoza berufen konnte, der die Existenz von Kontingenz ganz leugnete. [2]

Das Feld behauptete also lange die Philosophie, die sich seit Aristoteles immer wieder mit Zufall und Kontingenz befasst. In jüngerer Zeit hat die Systemtheorie wesentliche Impulse gegeben, die Entwicklung politischer, sozialer oder kultureller Komplexe nicht von einem bestimmten Ziel her - etwa der Modernisierung - zu erklären oder den bestimmenden Einfluss in stabilen Strukturen zu suchen, sondern eher von offenen Prozessen in Regelsystemen auszugehen, in denen die Handlungen der Akteure oder zufällige Ereignisse andauernd Varianten produzieren, die dann einem von den bestehenden Strukturen und Konstellationen bestimmten Selektionsprozess unterliegen, in dessen Verlauf sie entweder ausgeschieden werden oder sich durchsetzen; Letzteres bewirkt dann eine Neujustierung und (kurzzeitige) Restabilisierung der Strukturen. [3] Arnd Hoffmann sieht in diesem Sinne ein transdisziplinäres Feuerwerk am Ende der Finsternis eherner Kausalitäten aufsteigen; Unbestimmtheit erscheint ihm als "Chance von Theorie zum Verständnis von Gesellschaft, Geschichte und Natur (!)" (46).

Eine angemessene Implementierung älterer philosophischer oder jüngerer neo-evolutionistischer Ansätze in die Praxis historischer Forschung zu vormodernen Formationen oder auch nur eine Debatte darüber, ob eine solche Anwendung Nutzen verspricht, hat bisher, soweit ich sehe, noch nicht stattgefunden. [4] Lediglich eine methodisch auf den ersten Blick überschaubar erscheinende und zudem literarisch attraktive Operation hat sich etablieren können, auch weil sie auf eine lange Tradition verweisen kann: die kontrafaktische Frage nach dem "Was wäre gewesen, wenn (nicht) ...?" [5]

Eine wertvolle Grundlage für weitere Diskussionen hat Hoffmann nun in seiner Bochumer Dissertation gelegt. Die Studie hat eine klare These: "Zufall und Kontingenz sind nicht äußerliche, unbedeutende und methodisch auflösbare Scheinkategorien, sondern vielmehr produktive und mitbegründende Faktoren / Begriffe bei der Konstitution von Geschichten und historischer Erfahrung" (14).

Die umfangreiche und enorm belesene Darlegung von Begrifflichkeit, Forschungsgeschichte und Forschungsstand (5-140) bleibt nicht im Doxografischen stecken, sondern geht von Kontexten und Funktionen aus: Zufall und Kontingenz markieren für die historischen Akteure Möglichkeiten des Agierens in der Wirklichkeit (Handlungstheorie), sie verlangen eine angemessene Repräsentation in der Geschichtsschreibung (Narrativität), und sie fordern eine darüber hinausgehende Begründungslogik in die Schranken (Kausalität). Hoffmann skizziert den Zusammenhang zwischen individuellen Handlungszusammenhängen und strukturellen Bedingungen bei historischen Großereignissen, die ihrerseits wieder zum Umbruch von Strukturen und zum Horizontwechsel der Handelnden in Strukturen führen, am Beispiel des 11.9.2001. In seiner Argumentation stehen Freiheit und strukturelle Determination weder miteinander noch mit Zufall und Kontingenz in Widerspruch, sondern werden erst "durch die relationierende Kontextualisierung mit der Unbestimmtheit des vergangenen Handlungsraums in einer Erzählung historisch" (97). Immer wieder wird das Bemühen deutlich, die mit Zufall und Kontingenz verbundenen Möglichkeitsüberschüsse und Variationsspielräume (beides Prägungen des von Hoffmann geschätzten Niklas Luhmann) nicht als defizitäre Notausgänge für die Erklärung kausal-determinierter Prozesse gering zu achten, sondern sie für ein komplexeres Verständnis der Vergangenheit zu nutzen. Hoffmann weist schon auf seine kritische Distanz zu den Paradigmen der makrotheoretischen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte voraus, wenn er mit Luhmann Wirkliches nur im Lichte der eigentümlichen Möglichkeiten erkennen möchte, "die es selbst oder ähnliche Fälle im Vergleich mit ihm nahelegen, und nicht, indem man es einem Allgemeinbegriff subsumiert" (150). Eindringliche Überlegungen gelten ferner der temporalen Qualität von Zufall und Kontingenz (159-184).

Im zweiten Hauptteil (185-357) analysiert Hoffmann theoretische Programmatik und historiografische Praxis zweier prominenter Vertreter der modernen Sozialgeschichte: Fernand Braudel und Hans-Ulrich Wehler werden auf ihren 'Umgang' mit den beiden Störenfrieden jeder großflächigen, prozess- und ergebnisorientierten Modellbildung hin abgeklopft. Dabei ergibt sich als - wenig überraschendes - Ergebnis, dass Braudel, der sich in seinem Mittelmeerbuch eben auch als Virtuose der Kleinmalerei eines chaotischen Mikrogeschehens und als Magier der Metaphern erweist, gar nicht erst versucht, die Unbestimmtheit von politischen Strukturen, Prozessen und Ereignissen ex post unter irgendein funktionales Primat - etwa der Ökonomie - zu zwingen. Vielmehr bezieht der Historiker der langen Dauer und strukturellen Determinanten immer auch die Perspektive der Zeitgenossen, ihre Erfahrungen und Erwartungen ein, daneben auch kontingenzsteigernde Strukturbedingungen wie etwa die Langsamkeit und Unzuverlässigkeit der Nachrichtenübermittlung im 16. Jahrhundert. Gegen seine eigenen theoretischen Einlassungen ignoriert Braudel Zufall und Kontingenz in der historiografischen Praxis gerade nicht - zum Nutzen von Werk und Lesern; er ist "gegen seinen eigenen Willen Historist" (269). Auch der Gegenstand des Werkes, das eine Vielfalt von Kulturen und ihr großräumiges, reiche Varianten produzierendes Zusammentreffen vorstellt, mag hier wirksam gewesen sein.

Unschärfen und widerstrebige Wirklichkeitsreste sind in der domestizierten, unerzählten Welt von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte dagegen ganz ungebetene Gäste, denen rasch die Tür gewiesen wird. Hoffmann nennt die theorieimmanenten Gründe, warum Zufall und Kontingenz nicht ins Blickfeld dieser Sozialhistorie geraten können: "Verengung des Handlungsbegriffs, Funktionalisierung des Ereignisses, Geschichte ohne vergangene Gegenwart, Abwertung der Erzählung, Strukturen als dominant handlungsrestringierende Sachverhalte" (297). Wehler tritt in diesem Sinne in der Tat das Erbe der Aufklärung an, indem er Geschichtsschreibung als Kontingenzreduktionsunternehmen betreibt. Organisierte oder institutionalisierte Großsubjekte und Funktionsträger werden auf einer sauber vermessenen Bühne "ex post hin und her geschoben, und zwar immer so, dass ihre Intentionen und die Wirkungen ihrer Handlungen kausal beschreibbar und erfassbar sind" (327).

Die schwierige Materie bot Hoffmann wenig Spielraum, ein gut lesbares Buch zu schreiben. Leider wird der ungefederte philosophische Fachjargon manchen der Geschichtstheorie fernerstehenden Historiker von der unbedingt wünschenswerten Auseinandersetzung abhalten. [6] Das wäre sehr bedauerlich, denn Hoffmanns fundierte Warnung vor der Vermessenheit, den Gang der Geschichte im Nachhinein rest- und alternativlos erklären zu können, markiert nicht nur einen Gezeitenwechsel in der Theoriedebatte, sondern regt auch dazu an, etablierte Szenarien historischer Prozessualität und Determiniertheit noch einmal zu überprüfen und in der historischen Rekonstruktion humane Größen wie Erfahrung, Chance, Hoffnung und Scheitern neu zur Geltung zu bringen.


Anmerkungen:

[1] A. Heuss: Kontingenz in der Geschichte, in: Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985), 14-43 = Gesammelte Schriften in 3 Bänden, Stuttgart 1995, Bd. 3, 2128-2157.

[2] Wilhelm von Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert, in: Werke in fünf Bänden, hg von A. Flitner / K. Giel, Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1980, 376-505, hier: 380. - Spinoza: siehe Historisches Wörterbuch der Philosophie 4 (1976), 1027-1034, s. v. Kontingenz, hier 1032.

[3] Vgl. T. R. Burns / Th. Dietz: Kulturelle Evolution. Institutionen, Selektion und menschliches Handeln, in: H.-P. Müller / M. Schmid (Hg.): Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt a. M. 1995, 340-383.

[4] Das Problem ist nicht neu. Schon vor gut 100 Jahren bemerkte Max Weber: "Gerade die bedeutsamsten Leistungen der fachmäßigen Erkenntnistheorie arbeiten mit 'idealtypisch' geformten Bildern von den Erkenntniszielen und -wegen der Einzelwissenschaften und fliegen daher über die Köpfe der letzteren so hoch hinweg, daß es diesen zuweilen schwer fällt, mit unbewaffnetem Auge sich selbst in jenen Erörterungen wiederzuerkennen. Zur Selbstbesinnung können ihnen daher methodologische Erörterungen in ihrer eigenen Mitte trotz und in gewissem Sinn gerade wegen ihrer vom Standpunkt der Erkenntnistheorie aus unvollkommenen Formulierung zuweilen leichter dienlich sein" (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 6. Aufl. 1985, 215 f.).

[5] Statt viele Titel aufzulisten, sei auf Hoffmanns einschlägiges Kapitel verwiesen: 141-158 (mit weiteren Hinweisen).

[6] Störend sind die zu zahlreichen elementaren Sprachverstöße und Versehen (das / dass; Interpunktion). Leider fehlt ein Register.

Uwe Walter