Rezension über:

Stefan Karner / Barbara Stelzl-Marx (Hgg.): Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Beiträge (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt; Sonderband 4), München: Oldenbourg 2005, 888 S., ISBN 978-3-486-57816-4, EUR 24,80
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Stefan Karner / Barbara Stelzl-Marx / Alexander Tschubarjan (Hgg.): Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Dokumente (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt; Sonderband 5), München: Oldenbourg 2005, 979 S., ISBN 978-3-486-57817-1, EUR 24,80
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Rezension von:
Andreas Hilger
Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Hilger: Die Rote Armee in Österreich (Rezension), in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/8586.html


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Die Rote Armee in Österreich

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Annus mirabilis - das wunderbare Jahr. Die nahezu klassische österreichische Bezeichnung für das Jahr 1955 ist nicht zufällig ambivalent. Es musste vielen Zeitgenossen wie ein Wunder vorkommen, dass die UdSSR zehn Jahre nach Kriegsende zur treibenden Kraft wurde, die den lange ersehnten Staatsvertrag Österreichs mit Frankreich, den USA, Großbritannien und der UdSSR doch noch Wirklichkeit werden ließ (15. Mai 1955). Die wiedergewonnene Souveränität empfand Österreich zugleich als so herrlich, dass lokale Behörden die bislang üblichen "Befreiungsfeiern als überholt" einstellten: denn Österreich, so die Begründung, war nun auch von "den Befreiern befreit und frei". [1] Mit der größten Erleichterung hat man sich dabei von der sowjetischen Armee verabschiedet. Die sowjetische Präsenz seit 1945 war von der Mehrheit der Bevölkerung und von der Politik als besonders belastend und durchaus bedrohlich empfunden worden.

Dem herausgehobenen Stellenwert der nicht voneinander zu trennenden Jahre 1945 und 1955 für die Zweite Republik entspricht die aktuelle Buchproduktion zum doppelten Gedenkjahr. Und während frühere Autoren die sowjetische Politik in Österreich letztlich nur aus zweiter Hand beschreiben und deuten konnten, hat die Forschung nun auch - selektiven - Zugriff auf russische Archivalien und damit die Chance, neue Antworten und Themen der sowjetischen Österreichpolitik zu entdecken. [2] Mit dieser Perspektive vor Augen wurden mehrere institutsübergreifende, bilaterale Projekte zur Erschließung Moskauer Aktenbestände begonnen. Das Grazer Ludwig Boltzmann-Institut und seine Co-Träger und -Autoren haben ihre Arbeiten punktgenau zum 50. Jahrestag abgeschlossen und präsentieren ihre Funde in zwei umfangreichen Bänden. [3]

Der Dokumentenband umfasst 189 Dokumente, die mehrheitlich sowjetischen Amtsstuben entstammen und - Ausnahmen sind vor allem Schriftstücke bis 1945 - erstmalig veröffentlicht werden. Dankenswerter Weise werden die Dokumente sowohl in Übersetzung als auch im Originalwortlaut abgedruckt, um allen Nutzern die größtmögliche Quellennähe zu ermöglichen. Die Übersetzungen sind insgesamt angemessen, mitunter etwas zu wörtlich ausgefallen. Ob man auf der anderen Seite im Deutschen "unübliche Termini wie 'Faschisten' oder 'Hitlerleute'" in der Regel zu "NS-" bzw. "Nationalsozialisten" einebnen sollte, erscheint allerdings mit Blick auf Authentizität und Aussagekraft der Dokumente fragwürdig (15).

Die Herausgeber unterteilen die Dokumentation in sieben Abschnitte. Den geringsten Platz beanspruchen Dokumente zu sowjetischen Österreich-Planungen während des Zweiten Weltkriegs, auch, weil es, ähnlich wie zu anderen Ländern, kaum detaillierte Pläne für die Nachkriegszeit gegeben hat. Breiten Raum nehmen dagegen die politischen und militärischen Entwicklungen 1945, die Dokumentation von Struktur und Organisation des Besatzungsapparates, die sowjetische Österreichpolitik nach 1945 sowie die Beschreibung des sowjetischen Besatzungshandelns ein: Letzteres schlug sich unweigerlich im Alltag der Österreicher nieder, der mit einigen Aspekten zusätzlich in einem eigenen Kapitel dokumentiert wird. Dem Abschluss des Staatsvertrags ist wiederum vergleichsweise wenig Material gewidmet. So liegt der Schwerpunkt des Bandes eindeutig auf der Entwicklung sowjetischer Besatzungspolitik und -praxis: Nur auf diese Weise kann man dem "Zick-zack-Kurs" (Stalin) der UdSSR auch in Österreich näher kommen. Abgerundet wird der Band durch einen informativen und ausführlichen biografischen Anhang sowie durch die erforderlichen Orts- und Personenregister in deutscher und russischer Sprache.

Da die Herausgeber den Quellenband vornehmlich als Edition "wichtiger Schlüsseldokumente des Beitragsbandes" verstehen, verzichten sie leider auf eine weiterführende Kommentierung sowie auf eine einleitende Einordnung der Dokumente (Band 2, 13). Gewünscht hätte man sich zudem eine genauere Darlegung der Auswahlkriterien der publizierten Archivalien. Natürlich bieten die Materialien aus dem Staatsarchiv, dem ehemaligen Parteiarchiv, dem Archiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, dem Archiv des Verteidigungsministeriums, dem Archiv des ehemaligen Staatssicherheitsministeriums (FSB) oder dem Archiv für Neuere Geschichte der Forschung neue Fundamente und Denkanstöße - der lange Atem und die vielfältigen Anstrengungen der Initiatoren, die eine derartige Publikation möglich gemacht haben, lassen sich nur erahnen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass faktisch in keinem der konsultierten Archive alle (potenziell) relevanten Bestände eingesehen oder gar genutzt werden konnten. So erfährt der Leser nur en passent, dass z. B. zahlreiche Berichte des sowjetischen Teils der Alliierten Kommission für Österreich, diverse Politbüro-Beschlüsse oder umfangreiche Bestände des AVP wie des FSB-Archivs unzugänglich bleiben (Band 1, 85, 153, 649-651, 710 ff.).

Archivrecherchen in Moskau können demnach die Grundlagen zur Erforschung der sowjetischen Österreichpolitik zwar wesentlich erweitern. Sie eröffnen aber kaum einen Königsweg zur alleingültigen Deutung der letzten Motive und Ziele Stalins - dieses Dilemma erinnert zwangsläufig an die Forschungen zur sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. [4] Von daher ist es nur folgerichtig, dass sich die Autoren des Sammelbands nicht gänzlich über das Wesen sowjetischer Planungen und Ziele einig sind. In zukünftigen Diskussionen werden allerdings Begriffe wie "Revolutionierung", "Stalinisierung" und "Sowjetisierung" auch eindeutiger zu definieren bzw. zu benutzen sein.

Der Aufbau des - schon aus arbeits- und druckökonomischen Gründen nur in deutscher Sprache vorliegenden - Beitragsbandes korrespondiert mit dem der Dokumentation. Die Gesamtzahl von 32 Beiträgen deutet auf die Vielschichtigkeit des Generalthemas hin. Regionalstudien verweisen auf unterschiedlich dichte Besatzungserfahrungen einzelner österreichischer Gebiete. Die Aufarbeitung russischer wie österreichischer Erinnerungen zeigt u. a. wechselseitige Vorbelastungen und Belastungen im Besatzungsalltag auf, und die Lokalisierung und Restitution von Kulturgütern aus nationalsozialistischen wie sowjetischen Beutezügen bildet auch heute noch ein vielfach ungelöstes Problem. Eine Untersuchung möglicher weiterer Langzeitwirkungen sowjetischer Besatzungspolitik etwa im - generell etwas unterbelichteten - Wirtschaftssektor oder in der politischen Kultur des Landes bleibt aus.

Der Schwerpunkt des Bandes und seiner österreichischen und russischen Autoren liegt wiederum auf der eigentlichen Besatzungs- und Österreichpolitik der UdSSR. Die Sowjetunion legte sich schon früh auf die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs fest, um Deutschland auf Dauer zu schwächen. Nachdem das Konzept einer "Nationalen Front" faktisch an der unerwarteten Eigenständigkeit Karl Renners und der vernichtenden Wahlniederlage der KPÖ im November 1945 gescheitert war, setzte Moskau auf Propaganda und auf eine intensive Unterstützung der KPÖ, ohne deren radikale Vorstellungen von Revolution oder Spaltung zu fördern. Zugleich konzentrierte man sich auf die größtmögliche wirtschaftliche Ausbeutung des Besatzungsgebiets. Deutlich wird, dass die Österreichpolitik in wichtigen Punkten vor allem von Entwicklungen außerhalb Österreichs abhängig war. So fürchtete die UdSSR Ende 1949 im Falle eines Rückzugs aus Österreich einseitige Vorteile für den Westen (und Jugoslawien). Die ideologisch-militärische Starrheit der UdSSR konnte erst nach Stalins Tod überwunden werden. Gegenüber den traditionellen Argumenten des Stalinisten Molotov kamen angesichts der schlechten Ertragslage sowjetischer Unternehmen in Österreich in der Entscheidung für einen Abzug nun neben politischen auch wirtschaftliche Überlegungen zum Tragen.

Die Frage nach einer potenziellen Sowjetisierung Österreichs bildet den - elastischen - Rahmen der Beiträge. Einer Sowjetisierung standen unter anderem die strategische Randlage Österreichs, die sowjetisch-westlichen Besatzungs- und Kräfteverhältnisse, die manifeste Schwäche der KPÖ und die Gewandtheit innen- und außenpolitischer Gegenkräfte entgegen: Ob dieses Gemenge von Faktoren allerdings einen freiwilligen Verzicht auf die oder einen erzwungenen Misserfolg der Sowjetisierung begründete, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen. Es wird weiteren Forschungen und Aktenfunden vorbehalten bleiben, das konkrete Verhältnis sicherheits- und gesellschaftspolitischer Ziele und Maßnahmen weiter auszuloten. Von wesentlicher Bedeutung wird dabei die in jüngster Zeit vorgeschlagene und in dem Band in Ansätzen versuchte komparative Gesamtschau auf osteuropäische, österreichische, finnische oder deutsche Entwicklungen sein. [5] Darüber hinaus wird deutlich, dass die Umsetzung jedweder Moskauer Richtlinien in Österreich immer auch von inkompetenten Vertretern, widersprüchlichen Vorgaben und unklaren Zielsetzungen behindert wurde. Die Organe vor Ort wiederum versuchten, sich mit schönfärberischen Berichten aus der Schusslinie der Moskauer Kritik zu bringen und trugen so das Ihre zu sowjetischen Fehlperzeptionen und -entscheidungen bei.

Die sowjetische Politik gegenüber Österreich erweist sich als exemplarisches Beispiel für komplexe Entscheidungs- und Handlungsstrukturen der neuen Großmacht unter Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg. Das macht sie zugleich zu einem typischen Beispiel für die Schwierigkeiten der Geschichtsschreibung, diese verschachtelte Politik zu rekonstruieren, zu erläutern und zu bewerten. Die vorliegenden Bände können dazu beitragen, diese Probleme genauer zu verorten und - in Verbindung mit weiteren Anstrengungen - die Diskussion über Antworten und Lösungsmöglichkeiten voranzutreiben.


Anmerkungen:

[1] Vgl. hier beispielhaft Manfried Rauchensteiner / Robert Kriechbaumer (Hgg.): Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität, Wien u.a. 2005.

[2] Als Forschungsüberblick vgl. weiterhin Wolfgang Müller: Die sowjetische Besatzungsmacht in Österreich 1945-1955. Forschungsstand, Quellenlage und Fragestellungen, in: Zeitgeschichte, 28 (2001), Nr. 2, 114-129.

[3] Zu erwähnen ist hier ferner ein Akteneditionsprojekt der Russischen und Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Gennadij Bordjugov, Wolfgang Mueller, Norman Naimark und Arnold Suppan).

[4] Verwiesen sei auf die Dokumentation von Jochen Laufer / G. P. Kynin: SSSR i germanskij vopros. 1941-1949: Dokumenty iz Archiva vnesnej politiki Rossijskoj Federacii, 3 Bände, Moskau 1996-2003 (deutsch: Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1948, 3 Bände, Berlin 2004).

[5] Zuletzt Stefan Creuzberger / Manfred Görtemaker (Hgg.): Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944-1949, Paderborn 2002.

Andreas Hilger