Rezension über:

Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen". Männer begehrende Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 10), Konstanz: UVK 2005, 486 S., ISBN 978-3-89669-707-3, EUR 49,00
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Rezension von:
Martin Lücke
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Martin Lücke: Rezension von: Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen". Männer begehrende Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit, Konstanz: UVK 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/12/8513.html


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Stefan Micheler: Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"

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Das Diktum Leopold von Rankes, Historiker beziehungsweise Historikerinnen hätten aufzuzeigen, "wie es eigentlich gewesen", hat mittlerweile auch die Erforschung der Geschichte von Sexualitäten und sexuellen Identitäten erreicht: Nicht mehr nur die Diskurse über Sexualität stehen im Mittelpunkt des Interesses, auch die Rekonstruktion der Erfahrungen, die Menschen mit Sexualität oder sexuellen Identitäten machten, werden mehr und mehr Thema der einschlägigen Historiografie. [1]

Aufzuzeigen, wie es eigentlich gewesen ist mit der Reichweite des Identitätskonzepts der Homosexualität, ist das Ziel der nun als Buch vorliegenden Dissertation von Stefan Micheler. Dem Autor geht es darum, Fremdbilder und Selbstbilder von "Männer begehrenden Männern" in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus zu rekonstruieren. Dabei will er ausloten, welche individuelle Reichweite das Konzept der "homosexuellen Persönlichkeit", das seit Ende des 19. Jahrhunderts die Diskurse um mann-männliche Sexualität dominierte, tatsächlich erlangte. Dieses Erkenntnisinteresse stellt das Innovative an Michelers Arbeit dar: Während es nicht an Studien über sexualwissenschaftliche, juristische oder politische Debatten um Homosexualität mangelt, in denen die Geschichte der Genese eben jener Fremdbilder erzählt wird, weiß man noch sehr wenig darüber, wie gleichgeschlechtlich begehrende Männer gelebt, geliebt und sich selbst wahrgenommen haben. Christoph Schlatter [2] hat dieses Thema 2002 für das schweizerische Schaffhausen in den Blick genommen. Stefan Micheler weitet das Blickfeld aus und betrachtet die deutschen Verhältnisse im Zeitraum von 1918 bis 1945.

Für die Weimarer Zeit bedient sich Micheler des reichhaltigen Quellenfundus der zeitgenössischen Homosexuellen-Zeitschriften und macht so eine Textsorte für die Geschichtswissenschaft zugänglich, die bisher, zumindest für den Bereich der männlichen Homosexualität, nahezu unentdeckt geblieben ist. Den besonderen Quellenwert der Magazine erkennt der Autor darin, dass sie " als LeserInnen-AutorInnen-Foren [...] viele Menschen an der Konstruktion und Etablierung der Gruppen-Identität beteiligt" (443) haben. [3] Für die Zeit des Nationalsozialismus stehen Quellen dieser Art freilich nicht mehr zur Verfügung. Hier verwendet Micheler vor allem Polizei-, Straf- und Gerichtsakten aus Hamburg und Altona. Neben Verhörprotokollen und Geständnissen enthält dieser Quellenfundus auch Briefe, Bilder und andere private Dokumente der Angeklagten, Quellen also, die einen unmittelbaren Einblick in das Selbstverständnis der verfolgten Männer gestatten.

Was geben die Quellen preis? Zumindest in der Weimarer Zeit nahmen sich "Männer begehrende Männer" zwar als "anders als die Anderen" wahr und konnten Merkmale einer eigenen Gruppen-Identität ausbilden. Als "Homosexuelle" im Sinne einer pathologisierenden Schreibweise der Sexualwissenschaft sahen sie sich hingegen nicht. Dies wird deutlich beim Blick auf ihr Geschlechterverständnis und ihre Partnerschaftsmodelle.

Männer begehrende Männer sahen sich zu allererst als Männer an - und zwar als ganz normale Männer. Weder die Idee, Homosexuelle stünden als ein "Drittes Geschlecht" zwischen den Geschlechtern, noch Vorstellungen von Hypermaskulinität konnten nennenswert ihre Selbstbilder prägen. Solche Vorstellungen beherrschten zwar die Diskurse über Homosexualität, die Fremdbilder also, hatten aber ganz offenbar nur wenig Einfluss auf die Prozesse der Selbstdefinition. Ein solches ganz "normales" männliches Selbstbild zeigt sich unter anderem darin, dass effeminiertes Verhalten abgelehnt und offen verachtet wurde. Weiblichkeit als Kontrastbegriff diente also auch hier dem Zweck der Konstruktion einer männlichen Geschlechtsidentität. Geschlechterhierarchien wurden auf diese Weise insgesamt verstärkt.

Im Hinblick auf Partnerschaftsmodelle wurde häufig das Ideal einer egalitären Partnerschaft propagiert und gelebt. Eine Nachahmung der Polarität von Geschlechtscharakteren innerhalb der gleichgeschlechtlichen Beziehungen ist in den Männerpartnerschaften nur selten zu beobachten. Dies scheint ein bedeutender Unterschied zu Partnerschaftsmodellen von homosexuellen Frauen der Weimarer Zeit gewesen zu sein. [4] Für den Bereich der Sexualität stellt Micheler fest, dass sowohl monogame als auch promiskuitive Sexualitätsentwürfe diskutiert wurden. Die in mann-männlichen Partnerschaften ausgehandelten Beziehungsmodelle waren, so Micheler, dem Status quo der gemischtgeschlechtlichen Partnerschaften um Längen voraus.

Micheler stellt abschließend heraus, dass die Weimarer Jahre offenbar nicht nachhaltig genug gewirkt hatten, um bei den Betroffenen eine positive Gruppenidentität so fest zu verankern, dass auch während der nationalsozialistischen Zeit Solidarität untereinander sichtbar geworden wäre: Im Vergleich zu anderen Opfern des Nationalsozialismus entstand bei ihnen keine solidarische Gruppenidentität. Als sich die Verfolgungen ab 1936 verschärften, benutzten Richter, Polizei und Staatsanwälte genau jene Geschlechtsstereotype zur Charakterisierung gleichgeschlechtlich begehrender Männer, die von diesen selbst in der Weimarer Zeit bekämpft und abgelehnt worden waren: Indem die nationalsozialistischen Verfolger nun Attribute wie "weibisch" und "unmännlich" zur Beschreibung ihrer Opfer verwendeten, wurde das Feindbild des effeminierten und verweiblichten Homosexuellen zum Zerrbild einer antihomosexuellen Fremdwahrnehmung.

Der Studie von Micheler gebührt das Verdienst, durch die Rekonstruktion der Selbstwahrnehmungen von "Männer begehrenden Männern" das Erkenntnisinteresse der Historiografie der Homosexualitäten um einen wichtigen Aspekt erweitert zu haben. Durch die Verwendung der Weimarer Homosexuellen-Zeitschriften ist zudem ein Quellenkorpus erschlossen worden, an das in Zukunft noch weitere interessante Fragen zu stellen sein werden. Eine davon könnte sein, inwieweit diese Zeitschriften mehr waren als selbstlose Mittler zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen und inwieweit besonders die kommerziellen Interessen der Herausgeber bei der Konstruktion von Gruppenidentitäten eine Rolle spielten. Wurden hier sehr marktgängige Konzepte gleichgeschlechtlichen Begehrens entworfen? Hatten auf diesem neuen Markt der Weimarer Homosexuellen-Zeitschriften die Anbieter oder die Nachfrager die Definitionsmacht?


Anmerkungen:

[1] Siehe zum Beispiel: Claudia Bruns / Tilmann Walter (Hg.): Von Lust und Schmerz. Eine Historische Anthropologie der Sexualität, Köln 2004.

[2] Christoph Schlatter: "Merkwürdigerweise bekam ich Neigung zu Burschen". Selbstbilder und Fremdbilder homosexueller Männer in Schaffhausen 1867 bis 1970, Zürich 2002.

[3] Solche Identitäten wurden in erster Linie textuell entworfen, denn aus Kostengründen enthielten die Journale nur selten Bilder oder Fotografien. Da sie heute nur noch auf qualitativ schlechten Mikrofilmen zugänglich sind, können die wenigen Fotos - so Micheler - ohnehin nicht zu einer fundierten Analyse herangezogen werden.

[4] Zu Partnerschaftsmodellen von homosexuellen Frauen: Heike Schader: Virile, Vamps und wilde Veilchen. Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre, Königstein / Taunus 2004.

Martin Lücke