Heike Müns (Hg.): Musik und Migration in Ostmitteleuropa (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 23), München: Oldenbourg 2005, 420 S., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-57640-5, EUR 39,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Reiche Materialien hat Heike Müns über musikkulturelle Verflechtungen in Ostmitteleuropa durch Migration und - in einer zweiten Abteilung - über neue Funde aus Archiven Ostmitteleuropas, über Sammlungen und Sammler gemeinsam mit 19 anderen Autoren zusammengetragen und unter vielfältigen Aspekten bearbeitet. Der musikalisch-volkskundliche Aspekt steht im Vordergrund, dies ist ein Desiderat der Forschung, denn die ältere Musikwissenschaft hat sich vorzugsweise mit so genannter hoher Kunst beschäftigt und die Breite des Musiklebens eher vernachlässigt - sehr zu Unrecht, wie der vorliegende Band eindrucksvoll belegt.
Die Vielfalt der Themen ist so groß, dass eine sinnvolle Gruppierung schwierig ist. Speziell den Migrationsbewegungen im Ostseeraum sind Beiträge von Klaus-Peter Koch und Alexander Schwab gewidmet, Wandermusikanten sächsischer und böhmischer bzw. jüdischer und christlicher Provenienz die Beiträge von Elvira Werner bzw. Heike Müns. Kulturelle Wechselbeziehungen betrachtet am Beispiel der Person von Hans Schmidt in Riga Jānis Torgāns, städtisches Musikleben untersuchen Vita Lindenberg für Riga, Ingo Hoddick für Memel, Jerzy M. Michalak für Danzig. Lied- und Choralgesang ist breiterer Raum gewidmet, von Ephraim Orloffs "Polnischer Liedgeschichte" (Danzig 1744), die Ryszard Wieczorek behandelt, über Choralsammlungen baltischer (Toomas Siitan) und schlesischer Herkunft (Anna Więclewska-Bach) sowie eine südostlettische Tradition des Choralsgesangs (Martin Boiko) bis zum Repertoire deutscher Jugendbünde (Wilhelm Schepping) und volkstümlicher Musik moderner Prägung aus Slowenien (Alenka Barber-Kersovan) reicht der Bogen.
Die zweite Abteilung des Bandes enthält Beiträge über Sammlungen jiddischer Musikfolklore von Moishe Beregovski in Kiew und Sankt Petersburg (Aaron Eckstaedt) sowie des Altoberkantors Abraham Adler aus Saraseo/Siebenbürgen (Helga Thiel), Sammlungen von ungarndeutschen Tänzen in Leipzig (Volker Klotzsche) und von Liedern Russlanddeutscher, die der russische Germanist Viktor Schirmunski in Leningrad zusammengetragen hat (Eckhard John), Sammlungen deutscher Volkslieder aus der Kaschubei (Barbara Book) und engagierter Lieder aus der DDR (Lutz Kirchenwitz). Den Abschluss bilden zwei Verzeichnisse deutscher Musiker in Sankt Petersburg und Moskau von Klaus-Peter Koch.
Insbesondere der letzte Beitrag demonstriert geradezu paradigmatisch Verdienst und Reichweite der vorliegenden Sammlung. Aus etwa 50 Quellenwerken, darunter die groß dimensionierten lexikalisch-enzyklopädischen Grundlagenwerke der Musikwissenschaft, hat der Autor die für Fragen der Migration wichtigsten biografischen Daten von über 1000 Musikern zusammengetragen und systematisch aufgelistet. Er versteht seine Arbeit "als Basis für weitere Forschungen". Wichtige Basisinformationen stecken auch in den übrigen Beiträgen, sehr viel Neues, aber auch einiges Bekanntes. Hierin zeigt sich ein Kernproblem. Die wachsende Fülle historischen Wissens sprengt langsam aber sicher die überkommene Form der gedruckten Tagungsberichte. Weder können Autoren alle thematisch relevanten Vorarbeiten jüngeren Datums in der Menge publizierter Literatur finden - selbst die besten bibliografischen Hilfsmittel versagen zunehmend -, noch lassen sich die vielen kleinen Beiträge problemlos in einen größeren Zusammenhang einordnen, der auch eine angemessene Gewichtung der Ergebnisse erlaubt. Aufschlussreich sind die stadtgeschichtlichen Beiträge: Wenn Ingo Hoddick Memel als Musikstadt beschreibt, so erschließt er eine ganze musikalische Stadtgeschichte neu. Wenn Jerzy M. Michalak die bislang verbreiteten Informationen über italienische Operngesellschaften in Danzig im 18. Jh. wesentlich korrigiert, so liefert er damit einen verdienstvollen Beitrag zu einer Musik- und Theatergeschichte der Stadt. Wenn Vita Lindenberg die frühe Haydn-Rezeption in Riga untersucht, so beleuchtet sie einen wichtigen Ausschnitt des dortigen Konzertlebens. Die vielen Aussagen und Fakten würden an Aussagekraft stark gewinnen, wenn sie quantitativ und qualitativ in einen größeren Zusammenhang eingefügt und mit anderen Städten verglichen werden könnten. Dazu bedürfte es einer stärkeren Systematik, wie sie sich ansatzweise in den hymnologischen Beiträgen findet. Hier ist ein gewisses Grundmuster vorgegeben, die Quellen zu kategorisieren und inhaltlich aufzulisten, die in diesem umgrenzten Gebiet einen Vergleich des Gesangsrepertoires erleichtert. Die Migrationsforschung ließe sich auf der Grundlage systematisierter biografischer Daten vielleicht am einfachsten organisieren, wenn der Ansatz von Klaus Peter Koch hin zu einer elektronischen Datensammlung weiterverfolgt würde. Überlegungen dazu sind nicht neu, mit der zentralen Erfassung ganzer Musiksammlungen im Projekt RISM existiert seit langem ein vorbildliches Projekt, das von der Wissenschaft manchmal vielleicht unterschätzt wird.
Die Komplexität der Thematik, die von den so heterogenen Beiträgen beispielhaft gespiegelt wird, findet in den Beiträgen zur jüdischen Musikkultur einen besonders verdienstvollen Schwerpunkt. Gleichzeitig wird deutlich, wie groß die Lücken im Wissen über dieses Thema sind und wie einseitig wissenschaftliche Aufgaben bislang zumeist gestellt und bearbeitet wurden. Der vollständige Paradigmenwechsel weg von der nationalen Musikgeschichtsschreibung, wie er in dem vorliegenden Band schon vollzogen ist, erweist sich vor dem Hintergrund der immer wieder festgestellten Phänomene der Überlagerung, Vermischung, Akkulturation und Assimilierung, aber auch der Konfrontation und Dissoziation als unumgängliche Notwendigkeit. Zusammengenommen unterstreichen die deutlichen Lücken in der Quellenaufarbeitung und der notwendige Paradigmenwechsel in der Darstellung die gleich zu Beginn des Bandes in der Einführung herausgestellte Feststellung, dass die Musikgeschichte Ostmitteleuropas neu geschrieben werden müsse. Das ist nicht übertrieben, sondern benennt eine langfristig anzugehende Herausforderung, zu der der vorliegende Band und einige andere vom BKM geförderte Projekte und Publikationen gute Anknüpfungspunkte bieten.
Helmut Loos