Simone Michel: Die Magischen Gemmen. Zu Bildern und Zauberformeln auf geschnittenen Steinen der Antike und Neuzeit (= Studien aus dem Warburg-Haus; Bd. 7), Berlin: Akademie Verlag 2004, 582 S., 8 Farb-, 384 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-003849-0, EUR 128,00
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Das vorliegende, umfangreiche Werk stellt die Habilitationsschrift der Verfasserin dar, die nur "geringfügig überarbeitet" wurde. Es handelt sich damit um ein Buch mit wissenschaftlichem Anspruch. Magie und Zauberformeln im Titel bedeuten keineswegs, dass hier etwa ein populäres esoterisches Büchlein vorliegt.
In der Tat darf man sagen, dem hohen wissenschaftlichen Anspruch genügt die Autorin absolut. Sie hat sich einer Quellen- und Fundgattung angenommen, deren Gesamtbeurteilung bisher in dieser systematischen Form noch ausstand. Die Rede ist hier von den magischen Gemmen aus verschiedenen Steinmaterialien, die - unexakter Weise - bisweilen auch als "gnostisch" bezeichnet wurden. Diese Stücke datieren in die Spätantike, es gibt aber auch neuzeitliche Nachschnitte, wie schon der Titel des Buchs andeutet.
Magie versucht, durch die Mittel der Beschwörung, die Kombination bestimmter Materialien, Zeichen und Figuren "überirdische" Wirkungen zu erzielen. Sie kombiniert zum Erreichen dieses Anliegens allerlei oftmals möglichst exotische und geheimnisvolle Mittel. Die Ziele sind dabei sehr verschiedenartig. Sie entsprechen den Gefühlen, Daseinsängsten, aber auch Aggressionen der Menschen. So hat die Autorin auch das Material im Kapitel "Wirkungsbereiche und Inhalte" (36-220) gegliedert in die Abschnitte I. Regeneration und göttlicher Schutz, II. Heilmittel und Prophylaxe und III. In Stein gebannte Gefühle.
Je fremdartiger und exotischer, je mehr beladen mit Götter- und Dämonensymbolik und Zauberformeln, desto mehr Wirkung konnte man natürlich erwarten. Im Eingangskapitel "Ursprung, Wesen und Verwendung" (1-15) erfährt man daher von der Verwendung ägyptischer Zauberpapyri als Vorlagen für Herstellung und Gestaltung solcher Amulette, vom Herbeiziehen griechisch-römischer Gottheiten, wie auch ägyptischer und jüdisch-christlicher Symbolik, ferner von den Eigenschaften und Kräften der einzelnen Steine, der Lithomantie.
Es versteht sich, dass zu allen diesen Vorstellungen und auch zu den Amuletten schon reiche Literatur vorliegt, sorgfältig gewertet und gesichtet von der Autorin. Außer Bestandskatalogen einzelner Museen gibt es etliche gute Studien, etwa anhand der Bestände der Bibliothèque Nationale in Paris und des British Museum zu London. In ihrem Kapitel zur Forschungs- und Kulturgeschichte (16-34) gibt die Verfasserin einen Überblick über sowohl die antike Literatur, als auch über die Sekundärliteratur einschließlich der Geschichte des Sammelns und der Einschätzung dieser Objekte über die Zeiten.
Der Gemmensammler Goethe, der klassischen Kunst zugetan, hat selbst einen dieser Steine skizziert und in zweien seiner Gedichte des West-östlichen Divan mit einer gewissen Abscheu geschildert, ein Zitat, das Michel - ausnahmsweise - nicht gekannt hat. Nachzulesen ist dies bei Gerhard Femmel / Gerald Heres, Die Gemmen aus Goethes Sammlung, Leipzig 1977, 50-51 und 241: Segenspfänder, Talisman in Carneol, Gläub'gen bringt er Glück und Wohl; Steht er gar auf Onyx Grunde, Küß ihn mit geweihtem Munde! Alles Übel treibt er fort, Schützet dich und schützt den Ort: Wenn das eingegrabne Wort, Allahs Namen rein verkündet, Dich zu Lieb' und That entzündet. Und besonders werden Frauen, Sich am Talisman erbauen. [...] / Doch Abraxas bring' ich selten! Hier soll meist das Fratzenhafte, Das ein düstrer Wahnsinn schaffte, Für das Allerhöchste gelten. Sag' ich euch absurde Dinge, Denkt, daß ich Abraxas bringe. [...] / Und ferner: Süßes Kind, die Perlenreihen, Wie ich irgend nur vermochte, Wollte traulich dir verleihen, Als der Liebe Lampendochte. / Und nun kommst du, hast ein Zeichen, Dran gehängt, das, unter allen, Den Abraxas seinesgleichen, Mir am schlecht'sten will gefallen. [...]
Dem Uneingeweihten ist natürlich Abraxas ohnehin ein Unbekannter. Aufklärung findet man in diesem Buch, wo auch das hahnenköpfige und schlangenfüßige dämonische Mischwesen in allen seinen Varietäten erfasst ist. Der Hauptteil der "Materialliste nach Motivgruppen" (235-346) bietet zusammen mit dem Verzeichnis der Inschriften (481-530) für den Leser ungemein viel an Information über dieses mannigfaltige Gebiet, das von Zitaten und Figuren des Alten Testaments über den hahnenköpfigen Abraxas, den löwenköpfigen Pantheos zu Osiris, Harpokrates, dann den Sonnengott bis hin zu den Erzengeln und Christus so ziemlich das gesamte vorstellbare Pantheon versammelt. Hinzu kommen Körperteile, etwa Uterus und Phallus, Pflanzen und Tiere.
Das mit ausgezeichneten Tafeln kombinierte Kapitel gibt uns einen Überblick über alle diese Amulette, wie wir ihn in der vorliegenden Systematik und Vollständigkeit bisher noch nicht gehabt haben. Er bietet die Grundlage zu den Auswertungen im einleitenden Kapitel, in der die Vielfalt der Anwendungen von der guten - weißen - bis zur schwarzen Magie beschrieben ist. Erwähnt seinen hier nur Themen wie Erlösung und Jenseits, Erkenntnis und Mysterium, Schutz vor Tod und Krankheit, Fruchtbarkeitszauber und schließlich Begierde, Verfluchung und Todesmagie.
All dies sind sehr oft auch den heutigen Menschen ansprechende Regungen und so wird uns hier der antike Mensch unmittelbar lebendig. Dazu kommt der mit diesen Steinen immer verflochtene Gedanke, dass jeder Stein lebt, bestimme Kräfte hat und Wirkungen erzielt. Das wirkt bis in den heutigen Aberglauben moderner Menschen mit hinein!
Das Werk von Simone Michel ist also durchaus aktuell. Ganz zweifellos bietet es das vielfältige Material der magischen Gemmen nunmehr in einer sauber gegliederten Materialsammlung mit sorgfältiger, die vielfältigen Aspekte von Religion und Aberglauben berücksichtigenden Interpretation dar. Zusammen mit der Erschließung durch Konkordanzen und Register kann man dieser umfassenden Studie Handbuchcharakter zuerkennen.
Bernhard Overbeck