Rezension über:

Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896-1914, Frauenfeld: Huber 2005, 2 Bde., 1060 S., ISBN 978-3-7193-1385-2, EUR 167,00
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Rezension von:
Stefanie Lieb
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Lieb: Rezension von: Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896-1914, Frauenfeld: Huber 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/01/8296.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil

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Mit dem Begriff "Heimatstil" als Kennzeichnung für einen architektonischen Kontext wird Unterschiedliches assoziiert: von mittelalterlichen Bauernhäusern über Jugendherbergen der 1930er-Jahre bis hin zu rustikalen Fertigbauten unserer Tage. Lässt man den, zumindest in Deutschland, damit gekoppelten nationaltümelnden Beigeschmack einmal weg, so findet sich trotz der formalen und qualitativen Uneinheitlichkeiten immerhin die Konstante des Regionalismus. Heimatstil-Bauten sind also Architektur, mit der bewusst ein Ort- und Landschaftsbezug geschaffen bzw. konnotiert wird. Elisabeth Crettaz-Stürzel versucht nun, in ihrer umfangreichen Studie zur Schweizer Architektur zwischen 1896 und 1914 diesen schwierigen Terminus des "Heimatstils" in Verbindung mit der Idee der kulturellen Reformbewegung der Zeit neu und möglichst fruchtbar zu konfigurieren. Um es vorab zu sagen, die Stilbestimmung im engeren Sinne gelingt nicht, kann nicht gelingen im Wirrwarr der Bauformen zwischen Historismus, Jugendstil und früher Moderne um 1900, zwischen regionalem Heimatschutz und internationaler Mode. Dennoch aber legt die Autorin durch ihren kulturhistorischen Ansatz etwas offen, dass zuvor in der fachlichen Auseinandersetzung noch nicht dezidiert genug herausgestellt worden ist: die europäische Architekturbühne um 1900 war relativ intensiv durch lebensreformerische Ansätze geprägt, die die ästhetische sowie funktionale Konzeption bestimmt haben. Und hier war besonders die Schweiz als Alpenidyll für Freigeister und frühes Tourismusziel für Frischluftfanatiker sowie Lungenkranke sehr empfänglich.

Die zwei sehr ansprechend gestalteten Bände sind thematisch aufgeteilt in einen einführenden Überblick zu den Fragenstellungen "Reformbewegung", "Heimatschutz" und "Heimatstil" der Schweiz im ersten Band, den Elisabeth Crettaz-Stürzel verfasst hat, und in dem zweiten, als Denkmälerinventar angelegten Band, in dem Denkmalpfleger verschiedene Bauten des "Heimatstils" aus den 26 Schweizer Kantonen vorstellen. Versehen mit einer grossen Anzahl aussagekräftiger Abbildungen ist hier tatsächlich erstmalig im deutschsprachigen Raum ein Projekt dieser Art und für diesen architekturhistorischen Kontext zum Abschluss gekommen. Als vorangegangene Arbeiten zum Thema Reform- und Heimatschutzarchitektur allgemein sei auf Nils Aschenbeck, Sigrid Hofer, Marco Kieser, Edeltraud Klueting und speziell der Schweiz auf André Meyer verwiesen. [1]

Während der zweite Band wohl vorrangig als hilfreiches Nachschlagewerk dienen wird, angereichert durch Kommentare zu "Spezialfällen" wie Rudolf Steiners anthroposophischen Bauten in Dornach und Arlesheim (2, 68-75), den Glarner Fertighäusern aus Eternit im Heimatstil (2, 131) oder der Luzerner Jugendstilvilla "Heimeli" (2, 162), bietet der erste Band grundlegende Ansätze zu einer Analyse und Einordnung der Schweizer Reformarchitektur um 1900. Die Ausgangsthese der Autorin ist ein "neues Verständnis von Heimatstil als Ausdruck der frühen Moderne" (1, 14), wobei sie mit "Moderne" hier wohl eher auf die neuen lebensreformischen und heimatschützenden Ambitionen der Zeit, als die Bauformen selbst anspielt. Denn die dargestellten Bautypen, Raumdispositionen und Einzelformen lassen sich durchaus in die Schemata der Neostile des Historismus und der kunstgewerblichen Raumbilder des Jugendstils eingliedern. Darüber hinaus sind besonders auch im Architekturhistorismus des 19. Jahrhunderts regionale Bezüge und nationale Symbole durch den Einsatz traditioneller Bauformen nachweisbar - ein Verfahren, das Crettaz-Stürzel als spezifisch für den "Heimatstil" herausstellen möchte (1, 34). So ist, wenn man von einer reinen Analyse der Bauformen ausgeht, auch die Behauptung nicht nachzuvollziehen, dass der Heimatstil um 1900 eine Historismus und Jugendstil "überwindende Reformarchitektur auf dem Weg zur Moderne" sei (1, 35). Schon eher leuchtet die Konzentration des Heimatstils auf bestimmte Baugattungen wie vor allem den ländlichen Wohnhausbau ein; hier ergeben sich dann vielfältige Bezüge zum englischen Landhausstil und den Schriften von Herrmann Muthesius, Paul Schultze-Naumburg und Paul Mebes (1, 41). Neben diese bekannten Vertreter eines Regionalismus um 1900 stellt die Autorin nun das Grundlagenwerk zum Schweizer "Heimatstil" von Henry Baudin über "Villen und Landhäuser in der Schweiz" von 1909 (1, 41).

Einen weitaus ergebnisreicheren Ansatz als die Stilanalyse zeigt Elisabeth Crettaz-Stürzel in der Zusammenschau kulturhistorischer Phänomene in der Schweiz um 1900. Hier setzt mit der beginnenden Industrialisierung eine kulturelle Identitätskrise ein, die man mit der Rückbesinnung auf Alttraditionelles, "Heimatliches", zu bewältigen sucht (51). Im Fall der Schweiz kommt aber interessanterweise ein weiterer spezieller Aspekt hinzu, der durch die moderne Entwicklung des Tourismus forciert wird: Besonders vom Ausland her wurde die Schweiz als Ur-Modell für idyllische Heimat propagiert (1, 51). So wurde z. B. 1905 im schweizerischen Sitten die erste Auslandsektion des Schweizer Heimatschutzes als "The English Branch of The League for the Preservation of Swiss Scenery" mit Sitz in London gegründet (1, 118). Ein Ziel war z. B. der Schutz der Schweizer Berge vor einem zu starken Verkehrsausbau, umso das "pittoreske" Bild der Schweizer Alpenlandschaft für die englischen Touristen zu erhalten. Auch die europaweit um 1900 verbreitete Lebensreformbewegung, beeinflusst von Nietzsches neuem Menschenbild und einer Licht-Luft-Freiheit-Metaphorik, wie sie der Maler Fidus in seinen Arbeiten darstellte, hatte eines ihrer Zentren in der Schweiz. Als bis heute sehr bekanntes Beispiel einer Lebensreform- und Künstlergemeinschaft ist der Monte Verità bei Ascona zu nennen, wo Künstler wie Hermann Hesse und die Ausdruckstänzerin Mary Wigman ein neues naturnahes Körper- und Lebensgefühl propagierten. Die dazu gehörige "Licht-Luft"-Architektur bestand aus einfachen Holzhütten, deren Formgebung sich an den traditionellen Tessiner Chalets orientierte (1, 89). Und natürlich darf in diesem Kontext auch nicht die Schweizer Heil- und Gesundheitskultur dieser Zeit unerwähnt bleiben, die mit dem Bircher Müsli und der damit verbundenen Zürcher Klinik des Arztes Bircher-Benner sowie den Bergluft-Sanatorien à la Thomas Manns "Zauberberg" nicht nur die Kulturszene der Schweiz, sondern ganz Europas geprägt hat (1, 81-83). Die Architektur der Sanatorien ist jedoch formal nicht eindeutig als reformistisch bzw. regionalistisch festzulegen: hier pendeln die Formensprachen zwischen Neubarock, Jugendstil und dem Schweizer "Chalet-Stil".

Auch muss darauf hingewiesen werden, dass der so genannte "Heimatstil" in zeitgenössischen Architektenkreisen auf Kritik gestoßen ist und sich den Vorwurf des Konservatismus gefallen lassen musste. Bereits 1914 charakterisierte Adolf Loos diese Richtung als "Naivtuerei" und "rustikales Gejodel" (1, 128). Auffällig ist jedoch, dass die Heimatschutzbewegung, deren Ziele in den 1930er und 40er-Jahren in Deutschland und Österreich "einseitig völkisch verengt" wurden, in der Schweiz bis heute wesentlich positiver besetzt ist und durchaus mit modernen Architekturprojekten assoziiert wird (1, 128). Dennoch sah die moderne Architektur der 1920er-Jahre auch in der Schweiz anders aus: Ihr großer Protagonist Le Corbusier, der in seinen Anfängen noch "heimatbezogen" entwarf (1, 156), kehrte danach jedem Regionalismus den Rücken zu und baute international funktionalistisch.

Elisabeth Crettaz-Stürzels Studie über den Schweizer Heimatstil 1896-1914 ist trotz der erwähnten Schwierigkeiten einer differenzierten Stilbestimmung der Bauformen ein bis jetzt einmaliges und sehr ergebnisreiches Projekt zu dieser kulturhistorisch spannenden Zeitphase der Schweizer Architektur, die Kunsthistoriker sowie Denkmalpfleger gleichermaßen begeistern und inspirieren wird. Ein vergleichbares Projekt über die deutsche Reform- und Heimatarchitektur in dieser Zeit wäre wünschenswert!


Anmerkung:

[1] Nils Aschenbeck: Die Moderne, die aus den Sanatorien kam. Reformarchitektur und Reformkultur um 1900. Delmenhorst 1997; Sigrid Hofer: Tradition-Reform-Innovation. Deutsche Architekten auf der Suche nach dem nationalen Stil 1900-18. Manuskript Frankfurt 1998; Marco Kieser: Heimatschutzarchitektur im Wiederaufbau des Rheinlandes, Köln 1998; Edeltraud Klueting (Hrsg.): Antimodernismus und Reform. Beiträge zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991; Edeltraud Klueting (Hrsg): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal 1998; André Meyer: Architektur zwischen Tradition und Innovation. Die Zentralschweiz auf dem Weg in die Moderne. Luzern 2003.

Stefanie Lieb